Mit diesem Artikel beginnt eine Serie, in der Gedanken zu Bibelversen aufgegriffen werden, die man immer wieder hört, die aber unpräzise und unschlüssig erscheinen, wenn man näher hinsieht. Es geht nicht um die Widerlegung kräftiger Irrtümer (Petrus als Fels der Kirche etc.), sondern mehr um Feinheiten. Bestimmt lohnt es sich, auch darüber nachzudenken! Heute geht es um die Frage, ob die Cherubim Engel sind, wie man häufig sagt und singt.

Um es vorwegzunehmen: Mit Cherubim scheint in der Schrift nicht eine besondere Klasse von Engeln gemeint zu sein. Cherubim zeigen, nach welchen Prinzipien Gott die Erde richtet und welche Werkzeuge Er dazu benutzt. Zu diesen Werkzeugen gehören auch Engel! Insofern können Cherubim auch auf Engel hinweisen; aber der Begriff wird nicht gebraucht, um eine bestimmte Klasse von Engeln zu beschreiben.

Um das noch etwas zu erläutern, wollen wir einen kurzen Blick auf einige Stellen werfen, in denen Cherubim erwähnt werden.

In 1. Mose 3,24 finden wir Cherubim zum ersten Mal. Gott benutzte sie, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen. Sie standen bereit, den in Sünde gefallenen Menschen zu richten, wenn er zu diesem Baum hätte vordringen wollen. In diesem Fall liegt es nahe, an Engel zu denken, die hier Cherubim genannt werden, weil sie eine richterliche Funktion ausübten.

Cherubim sind häufig in Darstellungen bei der Stiftshütte und dem Tempel zu finden. Hier an eine bestimmte Kategorie von Engeln zu denken, ergibt keinen guten Sinn. Die Cherubim verkörpern vielmehr die richterliche Autorität Gottes, die Seinen Wohnort gekennzeichnet hat.

Ich möchte in diesem Zusammenhang nur die zwei Cherubim erwähnen, die zum Deckel der Bundeslade gehörten und darauf blickten (2. Mo 25,18 ff.). Waren das Abbilder von Engeln? Blickten sie auf das Blut, das einmal im Jahr auf den Deckel gesprengt wurde? Wohl kaum. Die Cherubim machten deutlich, dass Gott, „der zwischen den Cherubim thront“ (1. Sam 4,4), das schuldige Volk nicht richten muss, weil ein unschuldiges Opfer gerichtet wurde. Gerechtigkeit und Gericht sind die Grundfeste des Thrones Gottes (vgl. Ps 89,15) – und Sein Gericht kann nur durch den Tod eines Opfers abgewendet werden.

In Hesekiel 1 und 10 finden wir Cherubim in Visionen. In Hesekiel 1 wird der Begriff selbst zwar nicht verwendet, aber Hesekiel 10,20 macht klar, dass die in Kapitel 1 erwähnten lebendigen Wesen Cherubim waren. In den beiden Kapiteln geht es um das Gericht, das Gott über Juda und Jerusalem brachte. Er benutzte dazu die Babylonier, die aus dem Norden kamen (vgl. Hes 1,4). Das Gericht bestand zudem darin, dass sich die Herrlichkeit Gottes aus dem Tempel in Jerusalem zurückziehen musste (Hes 10,18 ff.). Gott handelte in seiner richterlichen Regierung: Deshalb ist hier von Cherubim bzw. lebendigen Wesen die Rede.

Von dem, was über die lebendigen Wesen gesagt wird, möchte ich lediglich die vier Gesichter in Hesekiel 1,10 nennen: Das Angesicht eines Menschen, eines Löwen, eines Stieres und eines Adlers. Das spricht von Intelligenz, Kraft, Beharrlichkeit und Zielsicherheit. So führt Gott Seine Gerichte auf der Erde aus! Wir sehen daran, dass hier nicht (besondere) Engel beschrieben, sondern Merkmale des Gerichtes Gottes vorgestellt werden.

In Hesekiel 28,14 wird der König von Tyrus ein „schirmender, gesalbter Cherub“ genannt. Sicher ist der König ein Bild Satans (der über dem Fürsten steht, Hes 28,1) – aber wie könnte der Begriff Cherub für einen Menschen verwendet werden, wenn damit eine bestimmte Klasse von Engeln beschrieben werden soll?

In Offenbarung 4–6 finden wir wieder „lebendige Wesen“. Es gibt Übereinstimmungen zu den Cherubim oder lebendigen Wesen in Hesekiel 1 und 10, aber auch Unterschiede. Wir lesen einerseits erneut von vier verschiedenen Gesichtern (Off 4,7), andererseits aber auch von sechs statt vier Flügeln (Off 4,8). Die sechs Flügel weisen auf die Seraphim hin, die ebenfalls sechs Flügel hatten (siehe Jes 6,2).

Eine Detailangabe über die lebendigen Wesen möchte ich noch herausgreifen: Sie sind ringsum und innen voller Augen (Off 4,8). Das spricht davon, dass in der richterlichen Regierung Gottes nichts dem Zufall überlassen ist, sondern alles entsprechend der vollkommenen Kenntnis Gottes gesteuert wird (vgl. mit 2. Chr 16,9). Engeln wird in der Schrift eine derartige Einsicht nicht zugeschrieben.

Zusammenfassend und ergänzend ist zu sagen, dass Cherubim, Seraphim und „lebendige Wesen“ einerseits (mit unterschiedlichen Nuancen) abstrakt die Eigenschaften Gottes im Gericht umschreiben – das, was seinen Thron charaktersiert; andererseits stehen sie aber auch für die Instrumente, die er zu seiner Regierung und zu seinem Gericht benutzt. Nur so ist es erklärlich, dass die Seraphim in Jesaja 6 als handelnde und sprechende „Wesen“ gesehen werden. Das gilt auch für die „lebendigen Wesen“ in Offenbarung 4 und 5. Man denke auch an 1. Mose 3 und Hesekiel 28.

Es ist also nicht so, dass wir es bei den genannten Begriffen nur mit „toten Symbolen“ zu tun hätten. Ein Beispiel mag diesen Punkt erhellen:  Nehmen wir an, jemand sagt, dass sein Haus durch sieben Wächter bewacht würde. Was kann man unter den Wächtern verstehen? Es könnten Schäferhunde sein, Männer mit Pistolen, Doggen usw.  Nehmen wir an, jemand hört das und denkt: „Wächter, was sind Wächter? Es sind keine geschaffenen Wesen, also muss es etwas Nebulöses sein.“ Er steigt daraufhin über den Zaun und muss die Feststellung machen, dass er etwas sehr KONKRETEM begegnet.

Cherubim zeigen (nach meinem Verständnis), auf welche Weise Gott regiert und richtet und auch was für Werkzeuge Er dazu benutzt. Was den letzten Punkt betrifft, könnte man also vereinfacht sagen: Cherubim = Gerichtswerkzeuge. Dass diese Gerichtswerkzeuge sehr konkret sind, ist klar. Aber Cherubim sind eben „keine Gattung bestimmter Geschöpfe Gottes oder Himmelswesen“, wie sich ein bekannter Ausleger ausdrückte.