Es ist bemerkenswert, dass Jakob „ein sanfter Mann“, oder, wie andere Übersetzungen sagen, „ein vollkommener Mann“ genannt wird (1. Mo 25,27). Grund hierfür ist, wie wir glauben, die tiefe Grundströmung des Lebensinhalts, der ihn prägte. An der Oberfläche war sein Leben von unzähligen Strudeln und Gegenströmungen gekennzeichnet. Kein anderer Patriarch hatte eine solch wechselhafte Karriere wie er. Und doch gab es in seinem Leben diesen guten Grundzug, dass er von Jugend an nach dem Segen Gottes trachtete, der mit dem Erstgeburtsrecht verbunden war, und der Mittelpunkt dieses Segens – wenn er es auch allenfalls ansatzweise verstand – war der Christus, der kommen würde. Deshalb behielt er den Fremdlingscharakter bei und wohnte weiter in Zelten, während Esau die Linie fortsetzte, die schon Nimrod bevorzugt hatte, und ein „jagdkundiger Mann“ wurde.

Wir können Jakob hierbei mit David vergleichen, wenn es auch gleichzeitig Gegensätze gibt. Der Vergleich ist berechtigt, weil auch David, wie Psalm 132 zeigt, von Jugend an ein tief zugrunde liegendes Lebensziel hatte. Er bekam dieses Ziel in jungen Jahren in Ephrata und konnte durch keine seiner vielen Bedrängnisse davon abgebracht werden. Sein großes Ziel war, „eine Stätte für den Herrn“ zu finden. Das war zweifellos ein wichtiger Grund, vielleicht der wichtigste Grund, warum er der „Mann nach dem Herzen Gottes“ genannt wurde. Der Gegensatz besteht darin, dass David eine Stätte für den Herrn suchte, während Jakob nach Segen für sich selbst trachtete. Und doch war der Segen, den Jakob begehrte, Gottes Segen, und damit zumindest ein Teil des göttlichen Ziels, und daher war Jakob in diesem Sinn ein vollkommener Mann.

Vor allen Patriarchen, ja sogar vor allen Charakteren, die uns in der Schrift vorgestellt werden, zeichnet sich Jakob als der Diplomat aus. In seinem Fall war sein Wirkungsfeld nicht der Staat oder andere Völker, sondern der viel kleinere Bereich seines eigenen Lebens und Hauses. Doch die Vorgehensweise ist dieselbe. Das Wort „Diplomatie“ kommt, wie ein Herkunftswörterbuch klarmacht, von einem griechischen Wort, das eigentlich „ein doppelt gefaltetes Papier“ bedeutet. So beinhaltet es bis heute die Andeutung auf ein raffiniertes Handeln oder listiges Einfädeln, und darauf, dass man den eigenen Vorteil sucht, indem man ein Papier doppelt faltet, sodass der Gegner nicht alles sehen kann, was darauf geschrieben wurde. Das schließt notwendigerweise ein, dass sich Selbstsucht wie ein roter Faden durch alle Handlungen zieht.

Das war bei Jakob sehr auffällig. Er war bis fast an sein Lebensende ein eingefleischter Diplomat, der immer intrigierte, immer seine eigenen Ziele auf clevere Art und Weise verfolgte. Gleichzeitig sehen wir Gottes erzieherisches Handeln mit ihm, der seiner Schläue ein Ende setzte, ihn in den ersehnten Hafen brachte und damit an das Ziel, das Gott selbst für ihn im Sinn hatte, und das weit über alles hinausging, was Jakob sich ausmalte.

Ein kurzer Überblick über die Diplomatie Jakobs ist lehrreich, da wir alle seine Natur besitzen, die es liebt, für die eigenen Ziele zu intrigieren, wenn wir auch nicht alle seine Geschicklichkeit haben.

In 1. Mose 25 finden wir das Geschäft mit Esau um ein Gericht Linsen. Das Erstgeburtsrecht wurde zum Gegenstand eines Handelsgeschäfts. Esau offenbarte sich als ein „Ungöttlicher“ (Heb 12,16), indem er sagte: „Wozu mir … das Erstgeburtsrecht?“ Jakob offenbarte sich als einer, der zwar das Erstgeburtsrecht schätzte, der es aber als Gegenstand eines Tausches ansah und als etwas, was so billig wie möglich gekauft werden musste. Esau verschmähte das Erstgeburtsrecht und verlor es. Andererseits ist es nicht erwiesen, dass Jakob es als Folge seiner gerissenen Vorgehensweise erhielt. Er erhielt es vielmehr trotz dieser Vorgehensweise.

In 1. Mose 27 finden wir, wie raffiniert Jakob, von seiner Mutter angestiftet, seinen blinden Vater betrog und Esau um den Segen brachte. Er log sowohl durch Worte als auch in seinem Verhalten. Diese Episode wurde von Gott übergangen, um Esau die Dummheit seiner Ungöttlichkeit und ihre unwiderruflichen Folgen klarzumachen. Jakob bekam so freilich den väterlichen Segen, der nach Hebräer 11,20 durch Glauben ausgeteilt wurde und Gottes Absicht entsprach. Doch den göttlichen Segen erlangte er nicht durch solch unrühmliche Diplomatie. Stattdessen bekam er eine unliebsame Kette von Folgen, die ihn sein Leben lang in Schwierigkeiten verwickelten. Er kam eindeutig unter die Zucht Gottes.

Die erste Wirkung dieser Zucht war, dass er aus der Heimat als Flüchtling nach Haran geschickt wurde. Obwohl das zunächst Leiden bedeutete, machte Gott ihm im Traum Zusagen, wie 1. Mose 28 berichtet, und Jakob machte Gott Versprechungen. Gottes Zusagen an ihn waren reine Gnade und offenbarten ihm, was Gott für ihn sein wollte. Jakobs Versprechungen an Gott lagen immer noch auf der Linie selbstsüchtiger Diplomatie. Wenn Gott mit Ihm wäre und ihm die guten Dinge dieses Lebens geben würde, dann wollte er Gott dienen. Bis jetzt war Gott für ihn nur die Quelle der Versorgung mit Nahrung und Bekleidung und Schutz und Fürsorge, die er benötigte! Steht es uns zu, deswegen Steine auf Jakob zu werfen? Gibt es nicht auch heute Tausende, deren Christentum sich darauf beschränkt, dass Gott gut zu ihnen ist, und dass sie in Jesus Trost inmitten von Erprobungen und Nöten und Ratlosigkeiten des Lebens finden, und dass sie hoffen, in den Himmel zu kommen, wenn sie sterben?

In 1. Mose 29,30 und 31 finden wir den Bericht über die Jahre des Aufenthalts Jakobs in Haran, die sich zu einem Duell der Diplomatie zwischen Jakob und Laban, seinem Onkel, entwickelten. Gott hatte es in seiner Regierung so vorgesehen, dass Jakob in die Hände eines Mannes geriet, der von noch größerer Selbstsucht geprägt war, als er selbst. Gott ergriff bei seiner Hochzeit eine außerordentlich gut geeignete Erziehungsmaßnahme. Er wurde im Blick auf die zwei Töchter Labans genau so betrogen, wie Isaac durch seine zwei Söhne, nur dass Isaak durch sein Alter geblendet war und Jakob durch die besonderen Hochzeitsbräuche des Ostens.

Laban änderte seinen Lohn zehnmal, wie Jakob sich später beschwerte. Jakob holte sich das Seine durch listige Tricks in Verbindung mit der Aufzucht der Herden Labans wieder und nahm so „alles, was unserem Vater gehörte“, wie sich die Söhne Labans später beschwerten. So wurde der Krieg weiter geführt bis Gott erneut im Traum eingriff und Jakob klarmachte, dass Er es gewesen war, und nicht Jakob in seiner List, der bewirkt hatte, dass Labans Vieh ihm zugekommen war. Gott rief ihn so aus der unangenehmen Beschäftigung heraus, um ihn zurück nach Kanaan zu bringen.

Dies brachte Jakob sofort wieder in die ursprüngliche Schwierigkeit: den Zorn und Groll Esaus. 1. Mose 32 und 33 berichten von seiner geschickten Diplomatie im Hinblick auf seine Not. Sie zeigen auch, wie unnötig alles war, denn der Gott, der Laban, den Syrer, gewarnt hatte, Jakob nicht anzutasten, war ihm erneut zuvorgekommen und hatte das Herz Esaus weich gemacht. In Verbindung mit dieser Erfahrung erreichte das Handeln Gottes mit ihm einen Höhepunkt. Der Engel des Herrn rang in menschlicher Gestalt mit ihm bis zum Tagesanbruch. Jakob widerstand bis er gelähmt wurde. Als er in seiner eigener Kraft und Umklammerung geschwächt war, statt zu ringen, „segnete er ihn daselbst.“ Das war symbolisch die große Lektion die vermittelt werden sollte, und Jakob dämmerte etwas von der Tatsache, dass kein Ringen, weder diplomatisches noch körperliches, die Ergebnisse erzielen kann, die aus der Abhängigkeit von Gott und Seiner Macht hervor fließen.

Dass Jakob begann, dieses zu lernen, wird aus dem Ende von 1. Mose 33 klar, wo wir finden, dass er einen Altar baute und ihn „Gott, der Gott Israels“ nannte. Seine Gedanken hatten immer noch einen egoistischen Zug. Es ging immer noch darum, was Gott für ihn war. Doch es war Gott für ihn als Fürst Gottes, der durch Schwachheit und Abhängigkeit überwand. Er nannte den Altar nicht „El-elohe-Jakob“, sondern „El-elohe-Israel“.

Wenn wir auf diese diplomatischen Winkelzüge Jakobs zurückblicken, die wir nur flüchtig skizziert haben, erkennen wir ein Merkmal, das ihnen allen gemeinsam war. Jeder Winkelzug war ein Fehler. Selbst wenn das Ziel, das er damit verfolgte, an sich nicht schlecht war, und die angewandten Methoden nicht falsch waren, erwiesen sich doch alle seine Intrigen als völlig unnötige Mühe, da Gott vor ihm hergegangen war und für sich selbst gehandelt hatte.

Von da an nimmt seine Diplomatie ab, seine Schwierigkeiten jedoch nicht. In den Regierungswegen Gottes musste er bis zu seiner letzten Stunde das ernten, was er gesät hatte. Doch er begegnet diesen erzieherischen Ereignissen in einem anderen Geist, und als er später (1. Mose 35) von Gott gerufen wird, nach Bethel zu gehen, zeigt er, dass er jetzt ein gewisses Bewusstsein von der Heiligkeit hat, die dem Haus Gottes geziemt, und er nennt den Altar, den er dort baut „El-beth-el“, oder „Der Gott von Bethel“, d.h. „Der Gott des Hauses Gottes“. Jetzt geht es nicht mehr um Gott in Verbindung mit ihm selbst, sondern um Gott in Verbindung mit Seinem eigenen Haus.

Jakobs gebrochener Geist wurde deutlich sichtbar, als er die Ernte des Betrugs einfahren musste, die er in Bezug auf seinen Vater Isaak gesät hatte, indem er selbst von seinen eigenen Söhnen bitter betrogen wurde in Bezug auf Joseph. Jahre später, als ihn die gute Nachricht über seinen geliebten Sohn, zusammen mit der Bitte Josephs, nach Ägypten zu kommen, erreichte, und diese Bitte durch ein Wort Gottes bestätigt worden war, machte er sich in einfältigem Glauben an das Wort, das ihn erreicht hatte, und ohne den geringsten Versuch, seine Sicherheit und sein Gedeihen durch eigene Anstrengungen zu gewährleisten, auf den Weg. Und im Bewusstsein des Segens Gottes ist er daher auch in der Lage, vor dem Pharao zu stehen und ihn zu segnen, statt einen Segen von ihm zu erflehen.

Zuletzt kommen wir in 1. Mose 48 zu der bemerkenswerten Szene, auf die sich Hebräer 11,21 bezieht, wo wir lesen: „Durch Glauben segnete Jakob sterbend einen jeden der Söhne Josephs und betete an über der Spitze seines Stabes.“ Seine Augen verschlossen sich der Welt, die der Schauplatz seiner vielen Winkelzüge und Gottes vieler Züchtigungen gewesen war, denn er war ein Sterbender. Seine Augen des Glaubens hatten jedoch nie einen so scharfen Blick gehabt wie jetzt. Er sah die wahre Stellung in Bezug auf Ephraim und Manasse, und er segnete sie, indem er seine Rechte auf den legte, dessen Name „Fruchtbar“ bedeutete, und seine Linke auf den, dessen Name „Vergessen“ bedeutet.

Im Licht dessen, was seitdem offenbart ist, dürfen wir in dieser Handlung des sterbenden Patriarchen etwas sehen, wovon er noch keine Ahnung haben konnte. Im Bild wurde das Erste weggenommen, damit das Zweite – der Fruchtbare, ein Bild von Christus – aufgerichtet würde.

Aber warum wird berichtet, dass Jakob sich auf die Spitze seines Stabes lehnte? Ist es nicht, um uns zu zeigen, dass seine körperliche Schwachheit und damit verbundene Abhängigkeit von äußerer Hilfe ein Bild davon sind, was ihn geistlich kennzeichnete? Im Bewusstsein seiner Schwachheit hat er am Ende seine Diplomatie gegen Abhängigkeit eingetauscht, und als Folge dieses glücklichen Tauschs glühte seine Sonne nach einem stürmischen Tag als ein Abendrot der Herrlichkeit auf!

Sterbend und abhängig und sein Blickfeld von dem „fruchtbaren” Mann eingenommen, wurde er zum Anbeter. Er erhob sich am Ende als Frucht der Erziehung Gottes zu dem, was schon immer Gottes Vorsatz für ihn gewesen war. Es ist bemerkenswert, dass er in ganz 1. Mose 48 immer „Israel“ genannt wird, weil er am Ende die Eigenschaften eines „Fürst Gottes“ zeigte.

In 1. Mose 49 wird der Anbeter Israel zum Propheten Gottes und spricht in seinem Segen für seine Söhne von Dingen, die mit Christus zu tun haben, sowohl in Seinen Leiden, als auch in Seiner Herrlichkeit.

Der große Wert der Geschichte Jakobs liegt darin, dass er die menschliche Natur, wie sie in einem Gläubigen besteht, so wahrheitsgetreu darstellt. Seine Dummheit ist die unsere. Seine unverbesserliche Neigung, mit diplomatischer Schläue Ränke zu schmieden, um die eigenen Ziele zu erreichen, und sogar Ziele zu erreichen, die richtig waren und den Absichten Gottes mit ihm entsprachen, ist genau auch unsere Neigung. Deshalb ist auch das erzieherische Handeln Gottes mit ihm beispielhaft für Sein Handeln mit uns.

Glückselig sind wir, wenn wir auch das Ziel erreichen, das er als Sterbender erreichte. Und dreimal glückselig sind wir, wenn wir dieses Ziel in der Mitte unseres Lebens erreichen und bevor es ans Sterben geht.