Die geöffneten Himmel: Hesekiel 1,1–3

Das Bibelbuch, das wir zusammen studieren möchten, beginnt mit der Darstellung einer eher entmutigenden Situation: Das Volk Gottes ist zum Teil ins Land seiner Feinde weggeführt worden und seine alten Hoffnungen sind am Boden zerstört. Auch Hesekiel befindet sich im Exil in Babylonien, doch öffnen sich in diesem Moment völliger Enttäuschung die Himmel, um ihn zu ermutigen und ihm die göttliche Sicht der Dinge zu zeigen [Fußnote 1]: Obwohl das Volk Gottes unterdrückt wird, ist Gott dabei, sein Werk fortzuführen. Ein trauriger Zustand darf weder zu einer übermäßigen Mutlosigkeit noch zur Passivität führen.

Der Aufruf an Hesekiel fällt, wie bereits bei anderen Männern Gottes vor ihm (Mose, Jesaja) mit einer Begegnung Gottes zusammen. Der Prophet ist zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre alt [Fußnote 2], dem Alter, in welchem er seinen Dienst als Opfernder im Tempel beginnen sollte (4. Mo 4,3). Weit entfernt von diesem heiligen Ort muss er sich recht unbrauchbar vorgekommen sein, doch steht er im Begriff, mit einem Auftrag ungeahnter Tragweite betraut zu werden.

Bei einer Offenbarung des Allmächtigen öffnen sich die Himmel und Hesekiel wird dahin geführt, sich über die momentanen Umstände zu erheben, um die göttliche Sicht der Dinge zu erhalten. Welch ein Gegensatz tut sich hier gegenüber der eingeschränkten Sicht des Predigers auf, der alle Dinge „unter der Sonne“ bzw. „unter dem Himmel“ wahrnimmt! [Fußnote 3] Eine derartige Sicht kann leicht zu großer Niedergeschlagenheit führen. Ermuntern wir uns deshalb, die Wirklichkeit im Licht geöffneter Himmel sowie der Ewigkeit zu sehen (2. Kor 4,17.18).

Vor dem Kreuz öffneten sich die Himmel nur bei bestimmten Anlässen, wie wir das hier bei Hesekiel (Hes 1,1) erkennen können oder bei unserem Herrn anlässlich seines Zeugnisses vor der Menge in Matthäus 3,16, Markus 1,11 bzw. Lukas 3,21. Nachdem das Werk durch Jesus auf Golgatha allerdings vollbracht worden ist und die Auferstehung und Himmelfahrt zur Rechten Gottes stattgefunden hat, stehen die Himmel für uns fortwährend offen (Heb 10,19–21; Apg 7,56; 10,11). Welch ein Vorrecht besitzen wir doch und welch eine Ermunterung ist es für uns, hinzuzutreten! (Heb 4,16; 10,22).

Die Erscheinung der Herrlichkeit Gottes

Die Erscheinung der Herrlichkeit Gottes, mit welcher unser Bibelbuch beginnt, ist so wunderbar, dass sie jede fassliche oder selbst gedankliche Vorstellung weit übersteigt. Wie könnte es auch anders sein, stellt sie uns doch die Größe Gottes vor Augen, die über all unsere Gedanken unendlich weit hinausgeht?

Die Erscheinung selbst schreitet schrittweise fort: Durch den Sturm von Vers 4 hindurch erscheint der Wagen des Thrones Gottes, dessen Beschreibung im weiteren Verlauf immer präziser wird. Zuerst erkennt der Prophet verschiedene „Wesen“ (V. 5–14), dann Räder, welche die Wesen begleiten (V. 15–21). Anschließend erklingt die Stimme des HERRN immer dann, wenn sich der Wagen in Bewegung setzt (V. 22–25). Am Ende sieht der Prophet schließlich über dem Wagen Gott selbst, der sich auf dem Thron seiner Herrlichkeit befindet (V. 26–28).

Sowohl für Hesekiel als auch für uns ist diese Erscheinung schwierig zu verstehen. Die menschliche Sprache ist offensichtlich Beschränkungen unterworfen, die es erschwert, göttliche Wirklichkeiten zu beschreiben, und wir müssen uns damit zufriedengeben, wenn diese mit greifbaren Dingen veranschaulicht werden. Das ist vielleicht der Grund dafür, dass der Prophet fortwährend Ausdrücke wie „wie die Gestalt eines“, „wie das Aussehen von“ oder „wie der Anblick eines“ benutzt. Diese Begriffe bewahren uns übrigens vor jeder Art von Anthropometrie [Fußnote 4]. Gott ist unendlich in seinem ewigen und unzugänglichen Licht (1. Tim 6,16).

Wenn das Buch mit dieser Erscheinung Gottes auf seinem Thron der Herrlichkeit beginnt, ist es deshalb, weil Hesekiel durch das Anschauen dieser Herrlichkeit wichtige Lektionen lernen soll: Wenn sich das Volk Gottes auch in einer Krise oder im völligen Chaos befinden mag, steht Gott stets über den Umständen, da er niemals die Kontrolle über die Ereignisse verliert. Alle Dinge befinden sich ständig in seinen Händen, selbst wenn sich unsere Sichtweise auf das beschränkt, was sich „unter der Sonne“ abspielt und Zweifel in unseren Herzen aufkommen lassen möchte. Diese Sicherheit darf jeden Gläubigen neu ermuntern, wenn er durch schwierige Situationen gehen muss.

Der Sturm aus dem Norden: V. 4

Die Erscheinung beginnt mit einem verheerenden Sturm aus dem Norden. Diese Richtung symbolisiert die Invasion des Hoheitsgebietes Israels [Fußnote 5] und die Katastrophen, welche darauf folgen werden (Krieg, Ruin, Zerstörung). Der Thron Gottes erscheint in diesem Sturm: Es ist Gott, der den Ursprung dieses Gerichts über das jüdische Volk bildet (Amos 3,6b; 1. Kön 12,24). Der Feind allein könnte niemals selbstständig agieren, sondern ist bloß ein Instrument in der Hand des Allmächtigen, um höhere Ratschlüsse zu erfüllen.

Doch Gott wägt die Prüfung sehr genau ab, die er über sein Volk kommen lässt: Der Glanz ist „rings um“ die Wolke her. Wir dürfen wissen, dass Gott uns nicht über Vermögen versuchen wird (1. Kor 10,13).

Die vier lebendigen Wesen: V. 5–14

Aus der Mitte des Sturmwinds treten Wesen heraus, die das Aussehen von „vier lebendigen Wesen“ haben (V. 5). Der hebräische Ausdruck, der hier mit „lebendige Wesen“ wiedergegeben wird, wird manchmal auch mit „Tiere“ übersetzt. Er bezieht sich auf alle möglichen Arten von Lebewesen, mit Ausnahme des Menschen. Hier wird damit eine besondere Klasse von Engeln angezeigt: die Cherubim (10,20) [Fußnote 6]. Diese machtvollen Geschöpfe verfügen über eine besondere Aufgabe, die in Verbindung mit der Heiligkeit, Majestät und Regierung Gottes steht (1. Mo 3,24; Ps 99,1; Heb 9,5). In der Vision Hesekiels stellen die vier Cherubim in gewisser Weise lebendige Träger des Thrones Gottes dar (V. 26; Ps 18,10).

 Wenn die Cherubim auch tatsächlich Lebewesen sind, sprechen die Einzelheiten ihrer Erscheinung symbolisch von der Herrlichkeit, Souveränität und Majestät Gottes in Bezug auf sein Wesen und seine Handlungen:

  • Ihre allgemeine Erscheinungsform gleicht der eines Menschen (V. 5): Es ist ein tröstender Gedanke, zu wissen, dass Gott seinen Geschöpfen gegenüber im vollen Bewusstsein ihres menschlichen Zustands redet.
  • Ihre Füße (V. 7) zeigen uns, dass Gott sein Gericht in gerechter Weise (Kupfer) ausübt, wobei seine Langmut vor dessen energischer Ausführung durch die Erwähnung des Kalbes bildlich ausgedrückt wird (vgl. auch Ps 29,6).
  • Ihre Bewegungen sind sowohl unveränderlich (V. 9.12) als auch schnell (V. 14): Die Prinzipien, welche Gottes Handeln bestimmen, sind unveränderlich, und er tut das, was er sich vorgenommen hat. Darüber hinaus ist sein Gericht ebenso unwiderruflich wie plötzlich.
  • Ihre vier Flügel stellen sinnbildlich sowohl Anbetung als auch Dienst dar (V. 24), welche die Geschöpfe (hier die Cherubim) Gott schulden.Schließlich sprechen ihre vier Gesichter von dem Verständnis, das von Gott kommt („das Angesicht eines Menschen“), seiner Majestät („das Angesicht eines Löwen“), seiner Langmut („das Angesicht eines Stieres“) und der Schnelligkeit, mit welcher die göttlichen Gerichtshandlungen durchgeführt werden („das Angesicht eines Adlers“). Aber in denselben Zügen können wir auch Herrlichkeiten unseres Herrn erkennen. Jesus Christus ist in Gnade gekommen, um Gott viel besser als in einer Vision zu offenbaren, so wunderbar diese auch sein mag. In den vier Evangelien leuchten uns so verschiedene Kennzeichen seiner Person entgegen:
  • Der Löwe spricht von dem König Israels, der uns im Matthäusevangelium vorgestellt wird.
  • Der Stier lässt uns über den unermüdlichen Diener des Markusevangeliums nachdenken.
  • Das menschliche Angesicht entspricht dem vollkommenen Menschen, der im Lukasevangelium beschrieben wird.
  • Der Adler symbolisiert schließlich den aus dem Himmel gekommenen Sohn Gottes, was uns im Johannesevangelium näher erklärt wird.

1.)  Zur Erinnerung: Der Name „Hesekiel“ (Hes 1,3; 24,24) bedeutet: „Der HERR vergilt reichlich.“

2.) Vergleiche Fußnote D in der Einleitung.

3.) Beide Ausdrücke kommen 29- bzw. 3-mal im Buch des Predigers vor.

4.) Anthropometrie: die Tendenz, sich die Göttlichkeit im Menschen vorzustellen, was ein ernster lehrmäßiger Irrtum ist.

5.) Etwas Ähnliches haben wir bei Babylonien, das östlich von Israel liegt und seine Angriffe von Norden her durchführte, weil die chaldäischen Streitkräfte gezwungen waren, die große Wüste Syriens zu umgehen, um das Land Israel zu erreichen.

6.) Die „lebendigen Wesen“ finden sich an vielen Stellen in der Offenbarung wieder: Off 4,8.9; 5,6.8.11; 6,1.6.7; 7,11; 14,3; 15,7; 19,4.

[Übersetzt aus „Sondez les Écritures“ von Stephan Keune]