Dieses Kapitel bildet das Bindeglied des vorangehenden Kapitels, in dem die kollektive Verantwortung behandelt wird und dem nachfolgenden, das uns die Verantwortlichkeit des Einzelnen vorstellt. Wir finden hier Anspielungen auf Zedekia, den König Judas, dessen Verantwortung höher war, insoweit er als Repräsentant des Volkes handelte. Dieses Gleichnis wird hier ein „Rätsel“ genannt (V. 2), dessen Bedeutung durch Gott selbst mitgeteilt wird (V. 11–21).

Der große Adler, der uns hier in all seiner Schönheit beschrieben wird, symbolisiert Nebukadnezar, den ruhmreichen König der Weltmacht Babylon (V. 3.12). Die hohe Zeder steht für die königliche Familie Davids [Fußnote 1]. Nebukadnezar nimmt Jojakin, den letzten König aus der königlichen Linie („den obersten ihrer Schösslinge“, „den Wipfel einer Zeder“, V. 3, 2. Kön 24,10–16) und führt ihn ins Exil nach Babylon („eine Stadt von Kaufleuten“, V. 4), ins Land der Chaldäer („ein Händlerland“, V. 4). Anschließend setzt der babylonische Monarch den Onkel Jojakins, Zedekia, als Vasallen des Königs (2. Kön 24,17), obwohl er der königlichen Linie nicht direkt entstammte (er nimmt vom „Samen des Landes“ und nicht von der „Zeder“, V. 5). Durch die Gutmütigkeit Nebukadnezars kommt es in den Folgejahren zu einem beachtlichen Wachstum von Zedekia und seinem Königreich (V. 5.6). Dabei müssen wir uns daran erinnern, dass die Elite des Volkes bereits weggeführt worden ist (V. 12) und das Königreich Zedekias einen untergeordneten Platz einnimmt, es ist „von niedrigem Wuchs“ (V. 6.13.14).

Doch anstatt die Oberhoheit Babylons anzuerkennen, versucht Zedekia sein Joch abzuschütteln, indem er sich mit dem Pharao Ägyptens verbündet, der uns im Bild des „anderen großen Adlers“ gezeigt wird (V. 7.15; 2. Kön 24,20b). Infolgedessen bricht er den Bund mit Nebukadnezar, den er im Namen des HERRN abgeschlossen hatte (V. 13.15.16.18.19; 2. Chr 36,13; Jer 34,18). Beachten wir, dass Gott diesen Bund als seinen eigenen betrachtet (V. 19) und dass er dessen Bruch als Untreue gegen ihn selbst ansieht (V. 20b). Dieses Vergehen wiegt umso schwerer, als es den Namen des HERRN vor den übrigen Nationen verunehrt.

Die Konsequenz dieser Untreue ist die Gefangenschaft Zedekias (V. 16.20; 12,13) und das endgültige Gericht des Königreichs durch die Babylonier, die an dieser Stelle durch den Ostwind symbolisiert werden (V. 10.21; 2. Kön 25; 2. Chr 36,17–21). Der Pharao ist dabei zu keinem Zeitpunkt eine Hilfe für Zedekia und sein Volk (Jer 37, 5–10).

Wie das Volk Gottes damals sind wir in unserer Zeit vor der Welt verantwortlich, den „guten Namen, der über uns angerufen worden ist“ nicht zu verlästern (Jak 2,7). Wenn wir ihn verunehren, werden die uns umgebenden Menschen dahin geführt, unsere Inkonsequenz zu verachten und unser Zeugnis ist ruiniert!

Aber das Gleichnis hört an dieser Stelle nicht auf und wir finden am Ende dieses Kapitels Schönheiten, die wir nur bestaunen können, weil wir in ihnen den Messias erkennen dürfen. Gott wird einmal „einen Schössling“ (vgl. Jes 11,1; 53,2) „vom Wipfel der hohen Zeder“ nehmen (V. 22), was uns den Messias vorstellt, der in dieser „herrlichen Zeder“ (V. 23) einmal auf dem Berg Zion erscheinen wird, um dort in aller Machtfülle über die ganze Welt zu regieren (Jes 2,2–4). Alle Menschen werden dann ihre Nahrung und Sicherheit von dem erhalten, der auf dieser Erde den letzten Platz einnahm, bald jedoch die höchste Stellung bekleiden wird (vgl. Spr 15,33).

Es ist schön zu sehen, dass der Prophet, obwohl er das Gericht über sein Volk verkünden muss, auch eine Botschaft der Hoffnung ausrufen kann. Gott offenbart sich in diesem Kapitel als „der Gott der Hoffnung“ (Röm 15,13) und alle Hoffnungen Israels sowie der Versammlung basieren auf dem Messias, unserem Herrn Jesus Christus.

[Übersetzt aus „Sondez les Écritures“ von Stephan Keune]


Fußnote 1: Um die Symbolik zu verstehen müssen wir uns daran erinnern, dass der königliche Palast in Jerusalem größtenteils aus Zedernholz errichtet worden war, das aus dem Libanon stammte (2. Sam 5,11; 7,2; 1. Kön 7,1–8).