Das ist ein sehr wichtiges Wort zur Beurteilung unserer Liebe – Liebe zu allen Heiligen. Wir sind alle geneigt, einen Kreis selbst unter den Heiligen Gottes zu ziehen, solche zu haben, die wir bevorzugen, deren Gedanken, Gefühle und Gewohnheiten mehr oder weniger die unseren sind oder die uns wenigstens nicht groß üben. Aber das ist nicht die Liebe zu allen Heiligen. Das ist weit eher Liebe zu uns als Liebe zu ihnen.

Das Fleisch liebt das, was ihm gefällt, was ihm keine Pein verursacht, was vielleicht eine Befriedigung der Liebenswürdigkeiten der Natur ist. Aber bei alledem ist nicht wirklich die neue Natur in Tätigkeit, fehlt die mächtige Kraft des Geistes Gottes, der in unseren Herzen wirkt. So müssen wir ständig unsere Seelen prüfen und uns fragen, wie wir in dieser Sache stehen. Ist der Beweggrund und Gegenstand unserer Herzen der Herr Jesus? Denken und fühlen wir gegenüber allen Heiligen mit Ihm und für Ihn?

Ich gebe völlig zu, dass Liebe zu den Heiligen nicht immer dieselbe Form haben kann und darf. Sie muss in der Kraft und Einsicht des Geistes ausgeübt werden. Während man zum Beispiel selbst eine unter Zucht gestellte Person lieben sollte, wäre es doch ein sehr großer Fehler, anzunehmen, dass deine Liebe sich in derselben Weise zeigen kann, wie wenn sie nicht unter Zucht stünde. Du hörst nicht auf, den Bruder zu lieben; in der Tat bist du nicht in einer Stellung oder Verfassung, um in Übereinstimmung mit dem Herrn Zucht ausüben zu können, wenn nicht Liebe vorhanden ist – gerechter Abscheu gegenüber dem Bösen, vielleicht sogar Empörung darüber, doch wirkliche Liebe gegenüber der Person.

„Liebe zu allen Heiligen“ wird auferlegt, einfach weil sie Heilige sind. Sie zu lieben, weil Gott sie abgesondert und in eine ewige Beziehung zu sich selbst gebracht hat, ist die einzig wahre und christliche Liebe zu solchen. Unsere große Schwierigkeit ist stets, dass sich unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen nicht wirklich nur von diesem Boden her ergeben. Man missverstehe mich nicht: Ich meine nicht, dass es falsch ist, Freunde zu haben. Unser Herr hatte solche. Er liebte Johannes, wie Er die übrigen nicht liebte, obwohl Er sie in einem gewissen Sinn alle gleich liebte: Als Seine Heiligen waren sie Ihm über jeden Vergleich hinaus wertvoll. Er mag die Treue einiger Seiner Knechte hoch schätzen. Er mag andere zu ermutigen, zu tadeln, zu korrigieren haben – und wir müssen für all das Raum lassen. Dennoch bleibt die große Grundlage: die Liebe zu allen Heiligen.

Aber es ist klar, dass wir nicht gehalten sind, persönliche Angelegenheiten jedem kundzugeben, nur weil er ein Heiliger ist. Denn nicht immer sind die Gläubigen die Weisesten der Menschen. Während wir ihnen ihre Stellung als Heilige nicht absprechen dürfen, sind wir doch nicht verpflichtet, ihnen unsere Schwierigkeiten offenzulegen oder in einer Sache ihren Rat zu suchen, die ein reiferes geistliches Urteil als das ihre erfordert und in der sie keine Hilfe gewähren können.

Liebe aber muss stets da sein. Das unterstreicht den Wert des göttlichen Grundsatzes von Philipper 2,3: „In der Demut einer den anderen höher achtend als sich selbst“ – ein Grundsatz, der sich, wie ich denke, auf alle Heiligen erstreckt … Ich bin nicht gehalten, jemand wegen einer Eigenschaft zu achten, die er gar nicht besitzen mag. Solch ein Trugbild stellt uns Gott nicht vor, kann Er gar nicht vor uns stellen. Aber auf der anderen Seite ist es gut, sich daran zu erinnern, dass jeder Gläubige als solcher wertvoll ist.

Zeige mir aus ihnen den schwächsten, der uns am meisten Probleme bereiten mag – für ihn als Kind Gottes können, ja sollten wir eine wirkliche, echte Wertschätzung empfinden. Nicht nur ist Gott für sie, sondern es ist etwas von Christus in ihnen, und das empfiehlt sie über alle anderen Erwägungen hinaus denen, die die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn wertschätzen … Hätten wir nicht ihre Fehler, sondern die Liebe Christi zu ihnen und das Leben Christi in ihnen vor Augen und die Herrlichkeit, zu der sie gehören – was würde das Ergebnis sein? „Liebe zu allen Heiligen!“

[Das ist eine Übersetzung aus der  sehr empfehlenswerten Auslegung „Lectures on the Epistle to the Ephesians“ (von William Kelly). Die Auslegungen von W. Kelly über das  Neue Testament sind sehr hilfreich und aufgrund ihrer klaren Struktur auch zum Nachschlagen bestens geeignet. Erhältlich bei: www.csv-verlag.de].