Bei den sogenannten messianischen Psalmen stoßen wir auf Aussagen, die sich nur schwer auf Christus beziehen lassen. Das führt rasch zu hermeneutischen Winkelzügen. Ein beispiel dafür ist Psalm 69,6. Dort heißt es: “Du, o Gott, weißt um meine Torheit, und meine Vergehungen sind dir nicht verborgen.“ Eine ähnliche Stelle ist Psalm 40,12.

Wie kann man das auf Christus beziehen? Jedem Christen dürfte ja klar sein, dass Christus ohne Torheit und ohne Vergehungen war. Und so sagt man dann: „Christus hat unsere Sünden zu seinen eigenen gemacht.“

Aber gibt es dafür in der Schrift einen Anhaltspunkt, so zu sprechen? Gibt es irgendwo den Gedanken, dass man Sünden anderer zu eigenen machen kann? Christus hat unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen. Das sagt die Schrift (1. Pet 2,24). Christus hatte niemals (auf irgendeine Art und Weise) eigene Sünden! Der Herr Jesus hatte keine eigenen Sünden zu bekennen. Das ist nicht die Sprache Christi. Es ist aber die Sprache des Geistes Christi in den Gläubigen (des jüdischen Überrestes).

Psalm 69 beschreibt die Erfahrungen Davids und die Erfahrungen des jüdischen Überrestes künftiger Tage. Dieser „Überrest-Aspekt“ wird oft übersehen – und doch ist er vorhanden. Christus nun hat in seinem Leben das erlebt, was die treuen Juden in der Zukunft erleben werden. „In all ihrer Bedrängnis war er bedrängt“, sagt Jesaja 63,9. Deshalb ist seine Geschichte mit der ihren verwoben. Und so finden wir einige Verse, die wir persönlich auf Christus beziehen können, einige aber auch nicht (der Geist Christi spricht aber überall). So hat Christus auch nie persönlich um Rache gebeten, was wir ja oft in den Psalmen finden. Genauso wenig hat er das zum Ausdruck gebracht, was in Psalm 69,6 steht. Christus hat kein Sündenbekenntnis für eigene Schuld abgelegt und keine Torheit bekannt.

J.N. Darby hat das in der „Synopsis“ schon vor langer Zeit schön erklärt:

Der Inhalt des Psalmes bezieht sich auf Sein Leben; dennoch geht die Beschreibung der Leiden Christi bis zu Seinen Leiden auf dem Kreuz, aber ohne dass eine Spur von Gnade und Güte aus denselben hervorginge. Es ist der Anteil, den der Mensch an diesen Leiden hat, nicht das Verlassensein von Gott; und darum wird um Gericht über den Menschen gebeten, nicht aber eine Gnade angekündigt, die durch Gerechtigkeit herrscht. Zugleich werden aber auch Übertretungen vor Gott bekannt, und der die Verfolgungen erduldet, ist Einer, den Gott geschlagen hat. Daher kann ich nicht anders, als in diesem Psalm Christus sehen, wie Er nach Seinem gerechten Leben (zufolge dessen Er die Schmach erlitt, und das Er, soweit es sich um die dasselbe leitenden Grundsätze handelt, wiederholt darstellt) mit Herz und Sinn in die Leiden und Drangsale Israels eintritt, in die sie sich im Blick auf die Regierung Gottes selbst gebracht hatten. Es handelt sich hier aber keineswegs um ein Verlassen- oder Verworfensein; das war das Teil Christi allein, als Er die Sünde trug und deren Sühnung vollbrachte. Doch Israel ist von Gott geschlagen und verwundet, und daran konnte Christus Anteil nehmen, weil Er im höchsten und vollständigsten Sinne (obwohl das nicht im Allgemeinen der Gegenstand dieses Psalmes ist) von Gott geschlagen war. Es handelt sich hier um die Verfolgung von Seiten der Juden; aber der Verfolgte war von Gott geschlagen, und Er fühlte, wie schrecklich die Gottlosigkeit war, die Ihn höhnte und schmähte, Ihn, der jenen bitteren Kelch nahm, den wiederum unsere Sünden gefüllt hatten. Christus wurde auf dem Kreuze von Gott geschlagen, und Er fühlte den Hohn und die Schmach, mit denen man Ihn überhäufte.

Was die Vergehungen betrifft, die in Vers 5 (oder Vers 6) ins Gedächtnis gerufen werden, so denke ich, dass sie mit der Regierung Gottes bezüglich Israels in Verbindung stehen, und dass, obwohl die Tatsache des Geschlagenseins erwähnt wird, doch keineswegs dessen sühnende Kraft hier behandelt wird. Nur Gericht wird hier erbeten, und das ist nicht die Frucht der Versöhnung (vgl. Ps 22). Aber gerade aus diesem Grunde gibt uns unser Psalm ein völligeres Verständnis über all die persönlichen Leiden Christi zu jener Zeit, wogegen er das Leiden, in dem Christus völlig und gänzlich allein stand, Sein Sühnungswerk, unerwähnt lässt. Dieses Leiden ist so unermesslich groß, dass es, wenn es uns allein offenbart worden wäre, alle anderen Leiden, die Er als Mensch zu jener Zeit zu erdulden hatte, in den Schatten gestellt haben würde. Diese letzteren Leiden finden wir – Gott sei dafür gepriesen – in diesem Psalm; die Leiden, die jenen gewaltigen Akt, das Geschlagenwerden Christi von Seiten Gottes, begleiteten.