Nichts ist so schwierig, wie einen Menschen von sich selbst frei zu machen. Es ist unmöglich, außer wenn man ihm eine neue Natur gibt. Der Mensch rühmt sich alles dessen, was ihm Ehre bringt, alles dessen, was ihn vor seinem Nächsten auszeichnet. Es spielt keine Rolle, was es ist – vielleicht ist er der am höchsten Aufgeschossene –, er rühmt sich alles dessen, was seinem Stolz Auftrieb gibt und ihn überlegen macht. Einige mögen sich ihrer Talente rühmen. Es gibt Unterschiede in der Intelligenz. Bei einigen Menschen zeigt sich mehr Eitelkeit (sie möchten bei anderen wohlangesehen sein), bei anderen zeigt sich mehr Stolz (sie haben eine gute Meinung von sich selbst). Reichtum, Wissen, alles, was einen Menschen auszeichnet: Dieser Dinge wird er sich rühmen und damit eine kleine Welt um sich her aufbauen.

Es gibt noch etwas anderes, dessen Menschen sich rühmen neben Talent, Geburt, Reichtum usw., nämlich ihrer Religion. Nimm einen Juden, und du wirst finden, dass er sich rühmt, kein Moslem zu sein. Der sogenannte Christ rühmt sich, dass er kein Heide und Zöllner ist. Der Mensch wird sich also gerade das als Verdienst anrechnen, was Gott ihm gegeben hat, um ihn von sich selbst zu lösen. Wer so verblendet ist, dass er sich vor einem Götzen niederwirft, mag weniger zu rühmen haben oder sich weniger einbilden, etwas zu rühmen zu haben, aber das Maß an Wahrheit, das mit der Religion verbunden ist, an die Menschen sich halten, gerade das nehmen sie zur Veranlassung, sich zu rühmen. So rühmt sich der Moslem, der Gott anerkennt, seiner Religion, im Gegensatz zu denen, die das nicht tun. Der Jude rühmt sich seiner Religion – er besitzt die Wahrheit, und „das Heil ist aus den Juden“. Der Christ aus den Nationen besitzt ebenfalls Wahrheit, aber dann brüstet er sich damit, und schon ist das Unheil da. Die List des Feindes zeigt sich entsprechend dem Maße, wie es sich um Wahrheit handelt, deren sich jemand rühmt; und diese List ist nicht so schwer zu entdecken, denn wenn du stolz darauf bist, ein Christ zu sein, ist sofort alles klar.

Natürlich ist es etwas ganz anderes, wenn das wahre, echte Kind Gottes, das in der Kraft des Kreuzes wandelt, sich dessen rühmt, dass es Gott kennt. Bei Jona war jener religiöse Stolz am Werk. Er war stolz, ein Jude zu sein, und wollte nicht nach Ninive gehen, wie Gott es ihm gesagt hatte, weil er fürchtete, seinen Ruf einzubüßen. Er hätte es lieber gesehen, dass ganz Ninive zerstört würde, als dass sein eigenes Ansehen als Prophet verloren ging. Jona war ein wahrer Prophet, aber in seinem Stolz nahm er seine Religion zum Anlass der Selbstverherrlichung. Ganz gleich, womit man sich schmückt, es mag sogar mit Schriftkenntnis sein, es ist ein Rühmen im Fleische. Eine Kleinigkeit genügt, uns zur Selbstgefälligkeit zu veranlassen. Was wir bei einem anderen gar nicht wahrnehmen würden, reicht schon aus, dass wir in unseren Augen an Bedeutung gewinnen.

Es geht tiefer, wenn man sich einer Religion rühmt. Alles, was vom Menschen kommt, ist wertlos. Ein Mensch kann sich nicht rühmen, ein Sünder zu sein. Das Gewissen kann sich nie rühmen, und es gibt keine wahre Religion ohne das Gewissen – wobei ich jetzt nicht von der Gerechtigkeit in Christus spreche. Was ist es denn bei der Religion, dessen ein Mensch sich rühmen könnte? Es muss immer gesetzlichen Charakter haben, weil es etwas für ihn zu tun geben muss – harte Buße oder irgendetwas, ganz gleich, was es kostet –, wenn es nur das eigene Ich verherrlicht. „So viele im Fleische wohl angesehen sein wollen, die nötigen euch, beschnitten zu werden“ (Gal 6,12). „Sie wollen, dass ihr beschnitten werdet, auf dass sie sich eures Fleisches rühmen“ (Gal 6,13). Der Mensch könnte sich schwere Lasten aufbürden; warum? Weil das eigene Ich etwas zu tun haben möchte. Wenn der Mensch sich des eigenen Ichs rühmt, mag die Wahrheit in gewissem Maß vorhanden sein, aber sie ist immer von gesetzlichem Charakter, weil es da etwas geben muss, was der Mensch für Gott tun kann. Rühmen im Fleische heißt nicht, sich der Sünde rühmen, sondern es ist, wie in Philipper 3, ein religiöses Rühmen, ein Rühmen in etwas außer in Christus.

Aber beim Kreuz hat der Mensch nichts zu sagen. Es ist nicht mein Kreuz, sondern das „Kreuz unseres Herrn Jesus Christus“; und Sünde war das Einzige, womit ich an Christi Kreuz beteiligt war. Meine Sünde hatte mit Seinem Kreuz zu tun, denn sie brachte Ihn dorthin. Das setzt den Menschen völlig beiseite. Um das zustandezubringen, was den Menschen errettet und woran Gott Wohlgefallen findet, dafür konnte der Mensch keinen Finger rühren.

„Das Törichte Gottes ist weiser als die Menschen“ (1. Kor 1,25). Meine Sünde war der einzige Anteil, den ich am Kreuz hatte. Und dann der weitere Gedanke: Ohne das Kreuz sind wir rettungslos verloren. Göttliche Liebe behandelt mich als einen absolut verlorenen Sünder; und je mehr ich diese vollkommene göttliche Liebe erkenne, um so mehr erkenne ich, wie schlecht ich bin: völlig verabscheuenswert, beschmutzt und verloren. Es hat mir gefallen, mich zu beflecken; ich bin ein elender Sklave, der sich immer wieder herabziehen ließ und sich beschmutzte.

Wenn ich erkenne, was das Kreuz ist, vernichtet es mein Eigenlob und bringt auch Wahrheit ins Innere, denn es zeigt mir nicht nur, wie schlecht ich bin, sondern es lässt mich gern meine Sünde bekennen, statt sie zu entschuldigen. Ich bin erweckt worden zu sagen: „Ich bin schuldig, das alles geliebt zu haben.“ Die Liebe öffnet das Herz und macht mich fähig, zu kommen und Ihm zu sagen, wie schlecht ich bin. So habe ich Wohlgefallen daran, alles aufzuzählen, was Er getan hat, und alles, was ich Ihm schulde, und das ist Dankbarkeit. Mein Herz schüttet seine Schlechtigkeit aus: Da ist kein Falsch, kein Wohlgefallen an der Sünde, natürlich nicht, sondern Freude über das Heilmittel.