Ein aufmerksamer Vergleich der Briefe an die Römer und die Epheser kann uns neues Licht geben, damit wir als Gläubige unsere Stellung in Christus besser kennen lernen. Denn unsere Stellung in Christus wird in den beiden Briefen unter ganz verschiedenen Aspekten gesehen. Das möchte ich gerne kurz erläutern.

Die Lehre von der erlösenden Gnade kann auf zweierlei Weise betrachtet werden: Auf der einen Seite werden Gottes eigene Ratschlüsse bezüglich Seiner Kinder in Herrlichkeit entwickelt. Andererseits wird der Zustand des Menschen geschildert, in welchem die Barmherzigkeit ihm begegnete, um ihn durch Gnade zu befreien. Der Brief an die Epheser folgt der ersten Betrachtungsweise, der Brief an die Römer der zweiten.

Im Epheserbrief werden uns unmittelbar die Heiligen vorgestellt, in Christus mit allen geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern gesegnet, versetzt in die wunderbare Wesensart Gottes vor Ihm (heilig und tadellos vor Ihm in Liebe, Eph 1, 4) und als Seine Kinder angenommen (Eph 1, 3–6). Die Erlösung selbst als das Mittel dazu finden wir erst an zweiter Stelle (Kap. 1, 7–8). Die Kenntnis des Geheimnisses Seines Willens, dass Er nämlich alle Dinge unter Christus als Haupt zusammenfassen wird, und unsere Versiegelung als Erben zur Erlösung des erworbenen Besitzes folgen (Kap. 1, 9–14).

Der Römerbrief beginnt nach einigen einleitenden Versen mit der Beschreibung des schrecklichen Zustandes, in dem sich der gefallene Mensch befindet. Er entfaltet die Verderbtheit der Nationen und offenbart die Heuchelei derer, die vorgaben, moralisch höher zu stehen, und doch persönlich nicht besser waren (Röm 1,18 – 2,16). Schließlich wird die traurige Stellung der Juden gezeigt: Sie waren zwar im Besitz des Gesetzes, doch sie brachen es (Kap. 2, 17–29). Im letzten Teil des dritten Kapitels finden wir dann, wie die Gnade diesem Zustand begegnet. Dies führt zu einer Betrachtung des Werkes der Gnade, in jedem der beiden Briefe jedoch auf verschiedene Weise.

Zunächst zum Epheserbrief: Der Sünder wird gesehen als tot in Vergehungen und Sünden (Eph 2, 1). Obwohl er zweifellos in ihnen lebt bzw. wandelt, ist er vor Gott doch völlig tot. Aber das ist im Epheserbrief nicht der erste Gegenstand, der uns vorgestellt wird. Wie Kapitel 1 die Stellung zeigt, in die der Heilige versetzt ist, so Kapitel 2 das Werk, das ihn in diese Stellung bringt.

Im Hinblick darauf wird zuerst Gottes Kraft uns gegenüber vorgestellt, geoffenbart in dem, was in Christus gewirkt wurde: Gott hat Ihn aus den Toten auferweckt und Ihn zu Seiner Rechten gesetzt über jedes Fürstentum und jede Gewalt, über und außerhalb jeder erschaffenen Herrlichkeit, nicht allein in diesem Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen (Eph 1, 19–21). Dann werden alle Hierarchien in ihrer wahren Herrlichkeit und unverhüllten Erhabenheit erscheinen, Er jedoch über ihnen und außerhalb von ihnen allen. Die Kraft Gottes in ihrer alles übersteigenden Größe hat Ihn aus dem Tode heraus dorthin versetzt. Ebenso wie der Ursprung unseres Lebens vor der Erschaffung der Welten datiert (Joh 1, 1–4; 1. Joh 1), so ist unsere Stellung vor Gott außerhalb und über allen Welten und über allen erschaffenen Mächten. Christus Selbst wird hier als schon gestorben betrachtet. Das ganze Werk geht also von Gott aus. Denn da Christus gestorben ist, wird Er natürlich als Mensch betrachtet, und die wunderbare Kraft Gottes wird wirksam, so dass Er jetzt als Mensch zur Rechten Gottes ist (Kap. 1, 11.9.15–20). Dann werden uns die Heiligen vorgestellt, Nationen oder Juden, beide von Natur Kinder des Zorns, einst völlig tot in Vergehungen und Sünden, jetzt aber mit Christus lebendig gemacht, mitauferweckt und mitsitzend in den himmlischen Örtern in Christus Jesus. Das Ganze ist völlig das Werk Gottes. Wir sind von neuem geschaffen. Es sind hier nicht lebende Menschen, mit denen Gott handeln muss, Menschen ohne Gesetz oder unter Gesetz, die mit Christus sterben müssen und durch Tod befreit werden (vgl. den Römerbrief). Hier werden sie als tot in Sünden gesehen, und wir sehen die vollen Segnungen des Erlösungswerkes, weil alles Gottes Werk ist. Menschliches Wirken hat keinen Anteil an diesem Werk, denn was hat der Mensch mit Schöpfung zu tun? Er ist erschaffen worden, und alles, was der Glaubende ist, ist Gottes Werk (Kap. 2, 10). Daher haben wir es im Epheserbrief mit Frieden, Nahewerden (Kap. 2, 13–16), Versöhnung und Erhöhung zum Mitsitzen in den himmlischen Örtern in Christo zu tun (Kap. 2, 6), nicht jedoch mit Rechtfertigung; denn nur ein lebender, verantwortlicher Mensch muss vor Gott gerechtfertigt werden. Aber Christus ist erhöht, und wir sind in Ihm ebenso erhöht. Es handelt sich um Gottes Werk in Christus und in uns, nicht um unser Gerechtfertigtwerden vor Gott.

Im Römerbrief wird uns die Wahrheit auf eine andere Weise gezeigt. Wir sehen den auf der Erde lebenden Christus, dem Fleische nach aus dem Samen Davids gekommen und als Sohn Gottes in Kraft erwiesen durch Toten-Auferstehung (Röm 1, 3–4). Doch das Fleisch kann nicht für Gott leben, noch können die, welche im Fleische sind, Ihm wohlgefallen. Daher finden wir hier, dass Christus für solche in Gnade gekommen ist, nicht als gestorben, sondern um für sie zu sterben und dann für Gott zu leben (Röm 6, 10). Wir sehen den Zustand und die Eigenschaften des Menschen, nicht einfach das Werk Gottes an einem Toten. Ebenso, was uns Menschen betrifft, sehen wir das Mittel, das unsere Stellung in Gerechtigkeit vor Gott möglich macht, nicht ein absolutes Werk. Aber das ist nicht alles. Im Römerbrief wird weder die Erhöhung Christi zur Rechten Gottes noch die Vereinigung der Kirche mit Ihm gesehen. Daher wird auch von uns nicht gesagt, dass wir mit Christus lebendig gemacht wurden oder in Ihm in die himmlischen Örter versetzt sind. Seine Verherrlichung wird nur in Kapitel 8, 34 erwähnt im Zusammenhang damit, dass Er sich für uns bei Gott verwendet. Dieser Gedanke bedeutet natürlich nicht Einheit mit Christus. Kapitel 12 spricht von den praktischen Ergebnissen der Einheit untereinander (Röm 12, 4–5). Aber im allgemeinen bilden diese Themen keinen Teil der lehrmäßigen Unterweisungen dieses Briefes. Die Menschen werden gesehen als lebende, schuldige Geschöpfe, ja, die ganze Welt ist vor Gott schuldig, und nun sollen Menschen lernen, dass bei dem unheilbaren Zustand ihrer Natur der Tod das einzige Heilmittel ist. In sich selbst ist der Tod ohne Zweifel verhängnisvoll, aber wenn wir in Christus sind, bedeutet er eine vollkommene Errettung. Christi Tod ist die Sühnung für alle Sünden und die Befreiung aus einer Stellung, in der wir uns befanden, denn der Tod ist offenkundig das Ende unseres alten Lebens. Wir haben jetzt ein völlig neues Leben, Christus ist aus den Toten auferstanden, und wir sind berufen, durch Ihn für Gott zu leben (Röm 6, 9–11). Durch Sein Blut sind wir gerechtfertigt, und das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu hat uns freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.

Der Römerbrief behandelt die Lehre von der Rechtfertigung eines Menschen und betrachtet ihn daher zuerst als einen Sünder, der gerechtfertigt werden muss. Deshalb rollt er die ganze Frage des Gesetzes auf. Zuerst finden wir die Erfahrungen eines Menschen, der zwar von seinen Sünden überführt, aber noch nicht gerechtfertigt ist (Kap. 3, 21 – 4, 12). Danach die Erfahrung der Rechtfertigung von Sünden und Sünde; lebendig gemacht in seinem Gewissen, muss der Mensch durch die Konfrontation mit dem Gesetz (Röm 7) dann die Erfahrung des Todes machen (Röm 7, 9–11. 24). Nachdem er unter dem Gesetz durch den Tod gegangen ist, lernt der Mensch die Befreiung kennen: Er wird gleichsam in Christus wieder lebendig gemacht, wo es keine Verdammnis mehr gibt, vgl. Kap. 8, 1–4. Die Erfahrungen eines Menschen in seiner geistlichen Entwicklung werden also der Reihe nach behandelt mit dem Ergebnis, dass der Mensch zu dem Punkt geführt wird, bei dem der Epheserbrief mit ihm beginnt. Er entdeckt, dass es nur durch den Tod ein Entrinnen gibt aus einem Zustand, in dem er sich als Kind Adams oder als Jude befindet. Wäre es sein eigener Tod, bedeutete er für ihn natürlich Gericht, nicht Rechtfertigung, denn alle Schuld liegt offen zutage. Aber Christus ist gestorben, und Er ist durch den Glauben an Sein Blut als Sühnmittel (Gnadenstuhl) gegeben, so dass Gott gerecht ist und ein Rechtfertiger dessen, der an Jesus glaubt. Das betrifft die Seite der Schuld, aber dadurch kommt noch kein Leben hervor. Denn so wäre Christus nur gestorben, und wir wären in Ihm in den Tod gebracht. Das konnte keineswegs Gottes Ziel sein. Dann gäbe es nicht nur kein Leben, es würde sogar beweisen, dass es kein Heilmittel gäbe, wie der Apostel in 1. Korinther 15, 17–19 zeigt. Unser Glaube wäre vergeblich, wir wären noch in unseren Sünden. Aber wir glauben, dass Gott unseren Herrn Jesus Christus aus den Toten auferweckt hat, welcher unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist.

Die Konsequenz dieser anderen Darstellungsweise zeigt sich in den praktischen Ergebnissen, die durch den Geist Gottes im Menschen gewirkt werden.

Im Römerbrief finden wir die Erfahrungen, die aus dem Konflikt zwischen dem Fleisch und dem neu eingeführten Prinzip des Lebens entspringen, und ebenso die Wirkung der Befreiung hieraus durch die Kenntnis der Kraft der Befreiung in Christus. Dieser Konflikt der neuen Natur mit den Lüsten und dem Willen, die dem alten Menschen unter Gesetz angehören, wird in Kapitel 7 geschildert. In Kapitel 8 werden uns die geistlichen Segnungen einer Seele vor Augen geführt, die durch das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu von dem Gesetz der Sünde und des Todes befreit ist. Die Art der Schilderung weckt tiefstes Interesse in einer Seele, die im Begriff steht, diese Segnungen in Besitz zu nehmen.

Der Mensch, wie er uns im Epheserbrief vorgestellt wird, ist tot in Sünden und wird dann durch das Wirken Gottes in die himmlischen Örter versetzt; in Christus ist er neu geschaffen worden zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, auf dass wir in ihnen wandeln sollen (Eph 2, 10). Die Werke gehören zu der neuen Stellung und dem neuen Zustand, in dem wir im Epheserbrief allein gesehen werden. Für seine neu Geschaffenen hat Gott Werke zuvor bereitet. Deshalb finden wir auch nicht die Erfahrungen des inneren Kampfes mit der darauffolgenden Befreiung und ihren Ergebnissen, sondern wir werden aufgefordert, würdig der Berufung zu wandeln, mit welcher wir berufen worden sind (Eph 4, 1). Der Apostel wünscht, dass die Heiligen – gewurzelt und gegründet in Liebe – durch das Wohnen Christi in ihren Herzen durch Glauben das volle Ergebnis erfassen möchten, dass sie erfüllt seien zu der ganzen Fülle Gottes, und dass sie die Größe der unendlichen Herrlichkeit erkennen möchten, zu der sie gebracht wurden, und die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus (Eph 3, 16–19).

Zusammenfassung: Der grundsätzliche Unterschied zwischen beiden Briefen ist folgender:

Im Römerbrief wird der Mensch in Sünde lebend gefunden, wird von ihr überführt und muss in der Erkenntnis der hoffnungslosen Verdorbenheit seiner Natur zum Tode gebracht werden, da Christus für ihn gestorben ist, um diese Natur hinwegzutun. Dann muss der Mensch wieder auferweckt – lebendig gemacht durch Jesus Christus – und auf diese Weise vor Gott und durch Gott gerechtfertigt werden. Er wird so zu einem neuen Leben erweckt; dann kann ihn nichts mehr von der Liebe Christi scheiden.

Im Epheserbrief dagegen wird der Mensch als tot in Sünden betrachtet, aber dann auferweckt, in Christus in die himmlischen Örter versetzt durch die gleiche Kraft, in der Christus, nachdem Er gestorben war, von Gott auferweckt, in die himmlischen Örter versetzt und über jedes Fürstentum und jede Gewalt und jeden Namen, der genannt wird, erhöht wurde. Auch wurden wir als eine neue Schöpfung, als Kinder und Erben in die unmittelbare Nähe Gottes gebracht. Eine weitere Wahrheit wird vorgestellt: Als Glieder Seines Leibes und als Seine himmlische Braut sind wir mit Christus in dieser Seiner Stellung vereinigt.

Die Zeit erlaubt mir nicht, im Augenblick mehr zu tun, als die großen, allgemeinen Grundsätze der verschiedenen Seiten der Wahrheit aufzuzeigen, wie sie in den beiden Briefen vorgestellt wird. Jeder, der als aufrichtig Lernender nach der Wahrheit Gottes forscht, wird nach meiner Überzeugung (in dem, was ich hier nur kurz aus diesen Briefen anführte) Grundtatsachen von tiefer und nutzbringender Unterweisung finden. Durch ein Erkennen unseres geistlichen Zustandes anhand der Belehrungen des Wortes können wir für das Wachstum unserer Seele und für unsere persönliche Beziehung zu Gott Segen empfangen. Vielleicht vermag jemand zu seiner eigenen und zu unserer Auferbauung uns mit weiteren Ergebnissen zu dienen, die aus der Beschäftigung mit diesem Thema hervorgehen.

[Aus dem Englischen übersetzt; Collected Writings, Bd. 27, S. 103–106]