Sollen Christen das „Vaterunser“ beten?

Dass das sogenannte Gebet des Herrn (das „Vaterunser“) vollkommen ist, steht außer Frage, denn der Herr Selbst hat es gegeben. Aber da, wo der Geist ist, ist Freiheit, und ich finde nicht den geringsten Hinweis auf dieses Gebet in all den übrigen Teilen des Neuen Testaments, obgleich man darin manchem Gebet begegnet oder doch Stellen, welche Gegenstände des Gebets behandeln. Es wäre auch wohl unmöglich, dass ein Mensch, der durch den Heiligen Geist in die Erkenntnis seiner Bedürfnisse und der Liebe Gottes eingeführt ist, sich an eine vorgeschriebene Form des Gebets binden würde. Doch wenn man sich dieses Gebets bedient, indem man gleichzeitig andere hinzufügt, so sagt man damit, dass jenes unvollkommen ist oder doch den Bedürfnissen der Seele nicht entspricht.

Tatsache ist, dass das Erteilen von Anweisungen zum Gebet an Menschen, welche noch nicht den Heiligen Geist empfangen haben – so vollkommen die Anweisungen auch sein mögen ,- und die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in einem Menschen, in welchem Er Wohnung gemacht hat, zwei sehr verschiedene Dinge sind. Wer das nicht versteht, weiß nicht, was der Einfluss des Heiligen Geistes ist. Der Geist Gottes handelt notwendigerweise in der Seele in der Ihm eigentümlichen Weise, und, indem Er die Herrlichkeit des Herrn offenbart, bringt Er die Seele in eine ganz neue Verbindung mit dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der auf Erden lebende Herr konnte die Seele nicht in diese Verbindung bringen, deren inniger Ausdruck das Gebet ist, und diese neue Verbindung verleiht dem Gebet einen ganz neuen Charakter.

Daher jene „unaussprechlichen Seufzer“, wobei der, welcher die Herzen erforscht, keinen angelernten und dem Gedächtnis eingeprägten Formen begegnet, selbst wenn diese Formen von dem Herrn Selbst gegeben wären. Nein, Er begegnet den Gedanken des Geistes, der sich Gott gemäß für uns verwendet. Will man das Gebet des Herrn als eine Ergänzung der Unvollkommenheit unserer eigenen Seufzer anwenden (ich gebe zu, dass das in gutem Glauben geschehen kann), so würde damit doch wohl ein schlechter Gebrauch von dieser kostbaren Belehrung des Herrn gemacht. Es wäre nichts anderes als Seine Worte hassen, ohne mit dem Herzen dabei zu sein, nur um die Lücken auszufüllen, die sich in unseren Herzen finden. Zugleich würden die Seufzer des Heiligen Geistes missachtet.

Aber die Schwierigkeit liegt darin, dass wir es meist mit Seelen zu tun haben, welche die Befreiung durch den Heiligen Geist noch nicht besitzen und deshalb die Gedanken des Herrn Jesu nicht verstehen noch die Tatsache, dass Er in Seiner zärtlichen Liebe Vorsorge für Seine Jünger treffen konnte, die damals den Heiligen Geist noch nicht empfangen hatten. Diese Vorsorge war nicht mehr in derselben Weise auf sie anwendbar, als der Heilige Geist herniedergekommen war. Hier liegt der Kernpunkt der Schwierigkeit. Wenn es sich um Weltmenschen handelt, so kann man ihnen sehr leicht klarmachen, dass sie sich des Gebets des Herrn nicht bedienen können; denn wie können sie sich erkühnen zu sagen, dass sie Kinder Gottes seien, oder wünschen, dass das Reich des Herrn Jesu herbeikomme, da sie ja nicht wissen, ob das nicht ihr ewiges Verderben sein würde?

Handelt es sich um Kinder Gottes, so ist es notwendig, in Vorsicht zu verfahren. Vielleicht ist eine aufrichtige Ehrfurcht vor den Worten des Herrn vorhanden, obgleich nicht selten mit Aberglauben vermischt. Man muss sie aufzuklären suchen über die Befreiung durch den Heiligen Geist und über Seine Gegenwart in denen, die sich dem Herrn Jesu übergeben haben. Alle ihre Schwierigkeiten fallen von selbst dahin, sobald sie befreit werden. Man wird gut tun, von dem „Überrest“ mit ihnen zu reden, vorausgesetzt dass sie wissen, was das ist. Jedenfalls aber werden sie verstehen, dass das Gebet die Gedanken des Herrn Jesus, Seine zarte Fürsorge für Seine Jünger zum Ausdruck bringt, die noch fleischlich waren und nötig hatten, wie Kinder geleitet zu werden, indem Jesus Selbst auf der Erde war, um hier ihr Führer zu sein. Sie werden den Unterschied verstehen zwischen diesem Zustand und der Gegenwart des Heiligen Geistes, durch den wir wissen, dass wir in Christus sind und Er in uns. Als einer, der auf der Erde ist, der hienieden seinen Platz hat, sage ich: „der du bist in den Himmeln“. Jetzt aber nahe ich entweder dem Kreuze als Sünder oder ich bete Gott an als einer, der sich in Seiner Nähe befindet. Ferner lautet mein Ruf viel eher „Komm, Herr Jesus!“ als „Dein Reich komme!“, obgleich beides wahr ist. – „Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf der Erde“, ist gewiss auch unser Wunsch; aber doch drücken diese Worte nicht die Bedürfnisse einer Seele aus, welche kämpft „wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern“ und welche auf der Erde wandelt zu einer Zeit, da diese von Gott entfremdet ist. Eine solche Seele nimmt ihren Platz ein als Fremdling in dieser Welt, die den Herrn verworfen hat; sie findet ihre Ruhe in den himmlischen Dingen und Segnungen, und ihre Freude ist, dem erhöhten Herrn gleichgestaltet zu werden. Der Heilige Geist entwickelt auch häufig die Wünsche und Gelübde des Gebets des Herrn in einer Menge von Dingen, von denen Er uns Kenntnis gibt und die über jenes Gebet hinausgehen. Wenn dies Letztere aber unser Gebet ist, so dürfen wir auch nur dieses anwenden; es ist vollkommen und daher unser ganzes und unser einziges Gebet ...

Übrigens ist es sehr kostbar, den Inhalt des Gebets des Herrn zu betrachten und den darin enthaltenen Gedanken Jesu nachzuforschen.