Gesicht Obadjas

In der Prophezeiung Obadjas wird zwar gesagt, dass das Wort des Herrn zu ihm kam (V. 4.8), dennoch lauten die Anfangsworte: „Gesicht Obadjas“. Das ist merkwürdig. Wir hätten erwartet, dass der Eröffnungsvers lauten würde: „Das Wort des Herrn kam zu Obadja ...“, weil der Prohet uns keine Beschreibung bestimmter Visionen liefert. So einen Ausdruck finden wir nämlich bei Hosea, Joel und anderen Propheten, die auch keine Visionen beschreiben. Stärker noch: Sacharja, der eine ganze Reihe von Visionen beschreibt, beginnt seine Prophezeiung auch mit der Mitteilung, dass das Wort des Herrn zu ihm kam.

Dieser Ausdruck „Gesicht“, den wir auch bei Jesaja wiederfinden, kann auf eine allgemeine Offenbarung hinweisen, hat aber doch etwas Besonderes zu sagen. Durch diesen Eröffnungssatz wird die Wichtigkeit der Botschaft Obadjas sehr stark betont. Er hat nicht nur eine Botschaft von Gott bekommen, sondern der Inhalt dieser Botschaft wurde ihm als eine Vision vorgestellt. Er sieht das geschehen, was Gott vorhergesagt hat.

So spricht der Herr, HERR

Die Botschaft selbst erhält übrigens auch eine starke Betonung. Das klingt feierlich: „So spricht der Herr, HERR“. Viele Propheten haben sich in ähnlicher Weise mit einem „So spricht der Herr“ an das Volk gewandt. Sie sagten damit aus, dass sie nicht selbst ersonnene Worte redeten, sondern in Gänze das Sprachrohr Gottes waren. Obadja betont seine Botschaft zusätzlich, indem er das „Herr, HERR“ doppelt gebraucht.

Ein Bote unter den Nationen

Die Botschaft selbst beginnt mit diesen Worten: „Eine Kunde haben wir von dem HERRN gehört.“ Die Frage ist nun, wer mit „wir“ gemeint ist. Es könnte sein, dass der Prophet sich damit selber meint, eventuell gemeinsam mit anderen gläubigen Israeliten oder mit anderen Propheten (vgl. Jes 53,1). Es kann auch sein, dass Menschen gemeint sind, die unter den Nationen die Botschaft Gottes vernommen haben.

Folglich wird dann vorgestellt, dass ein Bote unter den Nationen mit dieser Botschaft ausgesandt wurde (vgl Jer 49,14): „Macht euch auf und lasst uns gegen es aufstehen zum Kampf!“ Das stellt uns erneut vor die Frage: Wer ist dieser Bote? Geht es um einen Boten des Herrn, den Er zu den Nationen gesandt hat? Doch worauf bezieht sich dann das „uns“ von „lasst uns gegen es aufstehen“? Der Herr zieht doch nicht gemeinsam mit den Nationen los? Ich denke, dass wir diesen Vers so auffassen müssen: Unter den Nationen hat die Überlegung stattgefunden, (gegen Edom) aufzustehen. Diese Botschaft wurde durch einen Boten oder durch eine Gesandtschaft unter den Völkern verbreitet. Gott lässt nun durch den Propheten ausrichten, dass Er von alledem in Kenntnis ist, mehr noch: dass Er das in der Hand hat (vgl. Joel 4,9).

Es ist wie mit Assur, das gegen Juda aufzieht, um Beute zu machen. Gott nennt das Volk „die Rute seines Zorn“. Der Herr lässt Assur gegen Juda aufziehen. Die Assyrer sind sich dessen nicht bewusst. Sie meinen ihren eigenen Weg zu gehen, tun damit aber genau das, was Gott will (vgl. Jes 10,5–11).

Wir finden das auch ganz stark in dem Gleichnis wieder, in dem der König eine Hochzeit für seinen Sohn ausrichtet. Der König ist ein Bild von Gott, der Sohn ein Bild von Jesus Christus und die Eingeladenen sind die Israeliten. Die Eingeladenen wollen nicht kommen und ermorden die Gesandten des Fürsten. Dieser wird zornig, und wir lesen dann: „Er sandte seine Heere aus, brachte jene Mörder um und setzte ihre Stadt in Brand.“ Das deutet unverkennbar auf die Verwüstung Jerusalems durch die Römer hin. Beachte nun, dass die römischen Heere in dem Gleichnis seine Heere genannt werden (s. Mt 22,1–14). Die Römer übten, ohne dass sie sich dessen bewusst waren, einen Dienst als Heer Gottes aus.

Dieser Grundsatz ist auch heute noch in Kraft. Gott regiert und hält alles in seiner Hand. Wenn die Völker Europas nach Einheit streben, erfüllen sie Gottes Plan in Bezug auf den Traum über das Standbild, den Nebukadnezar sah (Dan 2) und der Vision von dem vierten Tier, die Daniel schaute (Dan 7). Genauso vollzieht sich im Mittleren Osten alles gemäß Gottes Willen, und die „Bühne“ wird dekoriert, um die Prophezeiungen über die umliegenden Völker Israels in Erfüllung gehen zu lassen.

Für genau diesen Gott, der das ganze Weltgeschehen in Händen hat, ist unser Leben nicht zu gering. Wir dürfen wissen, dass Er alles, was uns geschieht, zum Guten führt (Röm 8,28).

[Übersetzt aus „Bode des Heils“, Jahrgang 137]