Kapitel 1 war eine Art Einleitung zu diesem Buch, der eigentliche Beginn der prophetischen Botschaft ist Kapitel 2. Kapitel 1 war sozusagen die Vorbereitung für die Schau, die jetzt folgt. Es zeigte uns den Schauplatz der Ereignisse, die handelnden Akteure, und das Ergebnis Gottes. Ein junger Mann und seine drei Freunde ehrten Gott durch Treue und Vertrauen in der Gefangenschaft in einer fremden und gottlosen Umgebung. Sie möchten sich nicht verunreinigen, und Gott gibt darauf Antwort, indem Er ihnen zum Lohn mehr Weisheit als allen anderen schenkt. Kapitel 3 zeigt dann, dass ein treuer Überrest – zu welcher Zeit auch immer – durch Verfolgungen zu gehen haben wird. Also zeigt uns

  • Kapitel 1 die Treue des gläubigen Überrestes,

  • Kapitel 2 die Weisheit und das Verständnis des gläubigen Überrestes, und

  • Kapitel 3 die Verfolgungen des gläubigen Überrestes wegen ihrer Treue.

Dieses lange Kapitel 2 nun könnte in etwa in folgende Abschnitte eingeteilt werden:

  • Verse 1–11: die Unzulänglichkeit der menschlichen Weisheit, um die Gedanken Gottes erkennen zu kön nen; die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott (1. Kor 3,19)

  • Verse 12–30: die edle Gesinnung Daniels, die sich in einerseits in Demut und Bescheidenheit, und anderer seits in Kühnheit des Glaubens äußert

  • Verse 31–36: die Schilderung des Traumes, den Nebukadnezar hatte

  • Verse 37–45: die Deutung des Traumes

  • Verse 46–49: die Reaktion Nebukadnezars auf den Traum und seine Deutung

Und im zweiten Jahr der Regierung Nebukadnezars hatte Nebukadnezar Träume, und sein Geist wurde beunruhigt, und sein Schlaf war für ihn dahin. Und der König befahl, dass man die Wahrsagepriester und die Sterndeuter und die Magier und die Chaldäer rufen sollte, um dem König seine Träume kundzutun; und sie kamen und traten vor den König“ (Vers 1+2)

„Der vergessene Traum“ könnte die zutreffende Überschrift über dieses Kapitel sein. Nebukadnezar hatte einen Traum, den er danach wieder vergaß. Wir lernen daraus schon eine erste wichtige Lektion: Gott hat die Zügel vollkommen in Seiner Hand! Er regiert hier ja nicht mehr direkt, aber Er hat die Zügel in der Hand. Ob es sich um große Entwicklungen oder um kleine unscheinbare Dinge handelt – Gott hat die Zügel zu jeder Zeit in Seiner Hand, auch heute! Gott war es, der den Traum gegeben hatte, und Gott war es, der dafür sorgte, dass Nebukadnezar den Traum vergaß. Beides miteinander führt dazu, dass nach Seinem Rat dieser gottesfürchtige junge Mann vor den größten König der Erde, den es je gab, gebracht wird. Gott ist im Regiment, auch heute noch!

Es mag eine gewisse Schwierigkeit darstellen, dass Daniel und seine Genossen drei Jahre lang umerzogen werden sollten (Dan 1,5), und er hier schon im zweiten Jahr der Regierung Nebukadnezars diesen Traum deuten sollte. Der Grund wird in den verschiedenen Zählweisen über die Regierungsjahre der Könige liegen. Hier ist alles babylonisch, auch die Zählweise der Regierungsjahre. Wenn in Dan 1,1 vom dritten Jahr Jojakims die Rede ist, dann war es tatsächlich nach Jer 25,1 schon sein viertes Regierungsjahr. Bei der babylonischen Zählung wurde das erste Regierungsjahr als das Jahr der Thronbesteigung nicht mitgerechnet. Deshalb wurde das dann folgende zweite Jahr als das erste Regierungsjahr gezählt, und damit ist das hier erwähnte zweite Regierungsjahr Nebukadnezars eigentlich schon sein drittes Jahr.

Träume stehen hier in der Mehrzahl; Nebukadnezar hätte vielleicht bei nur einem einzelnen Traum gesagt, dass dieser durch seine viele Geschäftigkeit verursacht worden sei (Pred 5,2). Offensichtlich hatte Gott mehrfach durch Träume zu ihm gesprochen, sodass ihm bewusst wurde, dass da mehr dahinter stecken musste als einfach nur ein Traum. Aus Vers 29 sehen wir, dass Nebukadnezar sich selbst Gedanken über die Zukunft seines Reiches gemacht hatte. Er war ein hochintelligenter Mann, der nicht gedankenlos in den Tag hinein lebte. Und dann kamen diese Träume, die einander ergänzten und durch Gott von Daniel in diesem einheitlichen Bild gedeutet wurden. Nebukadnezar sollte lernen, dass Gott selbst etwas mit ihm tun und dass Er durch Nebukadnezar etwas bewirken wollte. Er sollte lernen, dass Gott ihm diese Macht verliehen hatte, und dass er für das Verständnis dieser Dinge andere brauchte. Gott hatte zwar den Nationen die Macht gegeben, aber die Einsicht darüber war nur bei den treuen Gläubigen aus dem Überrest Seines Volkes.

Im Alten Testament offenbarte sich Gott auch durch Träume. Heute ist das nicht mehr die Regel, in uns wohnt der Heilige Geist, und wir haben das vollendete Wort Gottes in Händen, und darin lernen wir heute die Gedanken Gottes kennen. Wir sollten deshalb Träumen nicht ein Gewicht beimessen, das sie heute nicht mehr haben.

Der König rief auf diese Träume hin seine gesamte wissenschaftliche und religiöse Elite zusammen. Sie übten Dinge aus, die Gott Seinem Volk ausdrücklich verboten hatte, die aber am Ende ihrer irdischen Geschichte unter Manasse praktiziert wurden (5. Mo 18,9–12; 2. Chr 33,5+6). Deshalb musste Gott das angekündigte Gericht über Sein Volk bringen.

Nebukadnezar hatte aus seiner Sicht alles Nötige getan, um an seinem Hof Weisheit zu haben, aber als diese Weisheit aufs Äußerste erprobt wurde, dachte er nicht an Daniel. Eigenartig, denn er selbst hatte sie doch zehnmal überlegen gefunden all seinen Leuten gegenüber (Dan 1,20). Er muss ihn entweder vergessen oder sogar verachtet haben. Diese Berater hatten gewissen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte und Entscheidungen des Königs (Jes 47,12+13). Wenn sie nun den Befehl erhielten, dem Nebukadnezar seine Träume kundzutun, so umfasste das sowohl erst einmal das Nennen der Träume, als dann auch das Angeben der Bedeutung dieser Träume.

Und der König sprach zu ihnen: Ich habe einen Traum gehabt, und mein Geist ist beunruhigt, diesen Traum zu verstehen. Und die Chaldäer sprachen zum König auf Aramäisch: O König, lebe ewig! Sage deinen Knechten den Traum, so wollen wir die Deutung anzeigen. Der König antwortete und sprach zu den Chaldäern: Die Sache ist von mir fest beschlossen: Wenn ihr mir den Traum und seine Deutung nicht kundtut, so sollt ihr in Stücke zerhauen werden, und eure Häuser sollen zu Kotstätten gemacht werden; wenn ihr aber den Traum und seine Deutung anzeigt, so sollt ihr Geschenke und Gaben und große Ehre von mir empfangen. Darum zeigt mir den Traum und seine Deutung an“ (Vers 3–6)

In den ersten Versen dieses Kapitels machen verschiedene Umstände absolut deutlich, dass hier die Zeiten der Nationen angebrochen sind:

  • zunächst ist zu beachten, dass der heidnische König diese Träume von Gott bekommen hatte, nicht der Prophet aus Israel. Erst in Kapitel 7 ist es Daniel, der in einem Traum das zweite Gesicht über diese Zeit der Nationen erhält, aber zuerst ist es hier in Kapitel 2 der König Nebukadnezar, der weltliche Herrscher. Gott macht auch durch diesen Umstand deutlich, dass Israel steht nicht mehr an der ersten Stelle steht,

  • auch werden die Zeiten ab Kapitel 2 nicht mehr nach den Jahren der Könige Israels gezählt, sondern nach der Regierungszeit der weltlichen Herrscher (siehe Vers 1),

  • ab Vers 4, der Antwort der Chaldäer an den König, verfasst Gott Sein Wort bis zum Ende von Kapitel 7 nicht mehr auf Hebräisch, sondern in der Sprache des Volkes, das jetzt die Herrschaft besaß. Der Teil, der besonders Babylonien und Medo-Persien angeht, wurde auf Aramäisch geschrieben. Wenn es ab Kapitel 8 dann wieder mehr um das jüdische Volk geht, lässt Gott wieder in hebräischer Sprache schreiben.

Dass der König seinen eigenen Traum nicht mehr wusste und jetzt nicht nur die Deutung des Traumes von seinen Weisen verlangte, sondern auch den ganzen Traum an sich, wird aus der englischen Übersetzung von JND deutlicher. Was hier übersetzt ist mit „die Sache ist von mir fest beschlossen“, übersetzt Darby mit „the command [word, matter, thing] is gone forth from me“, was so viel bedeutet wie „die Sache ist mir entschwunden oder entflohen“. Das Hebräische ist so knapp in seinem Wortbestand, es hat viel weniger Formen als im Deutschen, dass es in manchen Fällen nicht einfach ist, den Sinn eindeutig zu verstehen. Aber es scheint doch hier der Gedanke zu sein, dass Nebukadnezar nur noch einen Eindruck von diesem gewaltigen Traum hatte, er aber die Offenbarung Gottes tatsächlich nicht mehr präsent hatte und sie nicht mehr in Worte kleiden konnte.

Nebukadnezar hatte seine Macht von Gott empfangen, aber das bedeutete überhaupt nicht, dass er in Übereinstimmung mit Gott lebte und nach Gott fragte. In Kapitel 3 werden uns die moralischen Merkmale seines Reiches vorgestellt, aber auch hier schon finden wir zwei Charakterzüge in seiner Machtausübung: er war ein gottloser Mann, und er war ein grausamer und gewalttätiger Mann, so beschreibt ihn auch der Prophet Habakuk (Hab 1,5–13). Es war nicht nur ein Test für die Chaldäer, in dem Nebukadnezar sie auf diese Probe stellen wollte, sondern es ging um Leben und Tod für sie. Es gab für sie nur eine grausame und furchtbare Perspektive: entweder sie halfen dem König und deuteten ihm seinen Traum, oder sie würden auf grausamste Weise ihr Leben verlieren. Nebukadnezar war beunruhigt worden durch seine Träume und wollte unbedingt Klarheit darüber bekommen. Er zeigt einerseits seine alles überragende Machtfülle, aber andererseits auch seine totale Unwissenheit über Gott. Das ist übrigens das Bild der Welt bis heute; und auch alle Wissenschaft der Welt kann daran nichts ändern – ohne Gott und ohne Hoffnung (Eph 2,12).

Sie antworteten zum zweiten Mal und sprachen: Der König sage seinen Knechten den Traum, so wollen wir die Deutung anzeigen. Der König antwortete und sprach: Ich weiß zuverlässig, dass ihr Zeit gewinnen wollt, weil ihr seht, dass die Sache festbeschlossen ist, dass, wenn ihr mir den Traum nicht kundtut, es bei eurem Urteil bleibt; denn ihr habt euch verabredet, Lug und Trug vor mir zu reden, bis die Zeit sich ändert. Darum sagt mir den Traum, und ich werde wissen, dass ihr mir seine Deutung anzeigen könnt. Die Chaldäer antworteten vor dem König und sprachen: Kein Mensch ist auf dem Erdboden, der die Sache des Königs anzeigen könnte, weil kein großer und mächtiger König jemals eine Sache wie diese von irgendeinem Wahrsagepriester oder Sterndeuter oder Chaldäer verlangt hat. Denn die Sache, die der König verlangt, ist schwer; und es gibt keinen anderen, der sie vor dem König anzeigen könnte, als nur die Götter, deren Wohnung nicht bei dem Fleisch ist“ (Vers 7–11)

Die Weisen Babels konnten den Traum Nebukadnezars weder ansagen noch deuten, obwohl sie den Anspruch hatten, in geheime göttliche Dinge vordringen zu können. Es ging also um zwei verschiedene Forderungen des Königs. Deshalb erzählt Daniel später auch zuerst den Traum selbst, bevor er die Deutung angibt.

Wo jetzt die Weisen Babels auf die Probe gestellt werden, müssen sie ihre totale Unfähigkeit bekennen. Es ist der völlige Zusammenbruch aller weltlichen Weisheit. Aber die Verlegenheiten der Menschen sind Gottes Gelegenheiten. Gott ließ es soweit kommen, dass sie nicht mehr ein noch aus wussten. Seine Hand führte es so, dass Sein treuer Zeuge vor die höchste Autorität gebracht wurde.

Daniel wusste wie einst Joseph, dass die Deutungen der Träume Gottes sind (1. Mo 40,8). Wenn Gott durch Träume redet, dann lässt Er sich die Deutung nicht aus der Hand nehmen. Die Chaldäer besaßen ein sehr hohes Maß an Sicherheit, den Traum deuten zu können, wenn sie ihn denn kennen würden (Vers 4). Doch diese Selbstsicherheit wurde gespeist aus okkultem Vertrauen, und sie erwies sich als Illusion. Diese Chaldäer bringen noch zwei Dinge zum Ausdruck, von denen das eine wahr und das andere nicht wahr ist. Wahr ist, dass tatsächlich kein Mensch auf dem Erdboden aus sich selbst dem König diesen Traum anzeigen konnte; und falsch ist, dass sie dann wieder zu ihren Göttern ihre Zuflucht nahmen. Beides wird offenbar gemacht durch das Handeln Gottes. Allerdings war es dann dem Daniel durch Offenbarung von Gott doch möglich (Ps 25,14).

Darüber wurde der König zornig und ergrimmte sehr, und er befahl, alle Weisen von Babel umzubringen. Und der Befehl ging aus, und die Weisen wurden getötet; und man suchte Daniel und seine Genossen, um sie zu töten“ (Vers 12–13)

Nebukadnezar war ungerecht und brutal in seinem Vorgehen, und auch Daniel und seine Freunde sollten dem Tod überliefert werden. Es ist nicht ganz klar, wie weit dieser Befehl schon umgesetzt worden war, als Daniel und seine Genossen hinzugebracht wurden. Aber hier wird auch ein prophetisches Bild deutlich. Der gläubige Überrest wird aus vor diesem Tod bewahrt, Daniel und seine Freunde werden verschont. Ein Hinweis auf kommende Tage, wo Gott den gläubigen Überrest Israels Schutz gewährt und ihn hineinbringt in die Segnungen des Reiches.

Daniel und seine Freunde mussten wohl deshalb gesucht werden, da ihre dreijährige Ausbildungszeit bereits beendet war und sie sich nicht mehr am Hof des Königs befanden (vgl. mit Vers 1).