Viel Entmutigung und Schwachheit unter Christen entsteht durch unterschiedliche Ansichten, wie bestimmte Dinge zu beurteilen sind. Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, die verderblichen Auswirkungen davon heute zu bemerken. In den Briefen des Neuen Testaments finden wir etliche Anspielungen darauf, dass es solche Probleme bereits in der frühen Versammlung gab. Diese Anspielungen sind verbunden mit inspirierten Belehrungen, die – wenn sie praktiziert werden – diesen Schwierigkeiten erfolgreich entgegenwirken.

Diese Belehrungen sind in jeder Hinsicht dringend notwendig. Das Thema mag, oberflächlich betrachtet, unbedeutend sein, aber wie leicht leidet jemand „an der Gnade Gottes Mangel“, und infolgedessen entspringt einer kleinen Meinungsverschiedenheit eine „Wurzel der Bitterkeit“, die uns alle beunruhigt und durch die „viele verunreinigt werden“ (Heb 12,15). Ein großer Wald kann durch ein kleines Feuer angezündet werden, wie uns Jakobus erinnert (Jak 3,5).

In Römer 14 stellt der Apostel Paulus drei sehr klare Grundsätze auf, die einen direkten Bezug zu solchen Themen haben. Und jedem dieser Grundsätze folgt eine Ermahnung, dass wir uns so verhalten sollten, wie es diesem Grundsatz unmittelbar entspricht.

Das Kapitel zeigt uns, wie wichtig es ist, einen „Schwachen im Glauben“ aufzunehmen (V. 1). „Schwache im Glauben“ haben falsche Gedanken über viele Dinge, und wir sollten sie nicht aufnehmen, um mit ihnen etwa Diskussionen über strittige Punkte zu beginnen. Eine solche Diskussion wäre in der Tat eine „Entscheidung strittiger Überlegungen“. Diejenigen, die stark sind, sollten nicht vergessen, dass der „schwache“ Bruder nicht schwach ist in seiner Argumentationsfähigkeit, sondern in seinem Verständnis. Was er daher braucht, ist ein besseres Verständnis der ganzen Wahrheit Gottes. Wenn er darin geduldig unterwiesen wird, werden sich viele dieser strittigen Fragen von selbst klären.

Das Kapitel gibt uns einige Hinweise auf das Wesen solcher Fragen, die die frühe Versammlung bewegten. Es gab erstens die Frage, ob man Fleisch essen dürfe (V. 2): Der eine war sich sicher, alles essen zu dürfen; andere hatten Bedenken; manche gingen sogar so weit, dass sie nur Gemüse essen wollten. Zweitens war die Frage aufgekommen, ob man bestimmte Tage halten solle (V. 5): Der eine hielt bestimmte Tage besonders, der andere achtete jeden Tag gleich. Diese zwei Streitfragen waren vornehmlich in Versammlungen akut, die aus Juden und Heiden bestanden. Außerdem gab es drittens Fragen zu Dingen, die den Götzen geopfert wurden, denn wir glauben, dass das mit dem Wort „unrein“ in Vers 14 angedeutet werden soll. Das Gleiche finden wir in 1. Korinther 8 und 1. Korinther 10,19–33, denn das war eine Frage, die ständig aufkommen konnte. Jemand mit Erkenntnis mochte sogar so weit gehen, in einem Götzentempel zu Tisch zu liegen (1. Kor 8,10). Andere, die von einem Ungläubigen zu einer Feier eingeladen werden, mochten geneigt sein, zu gehen (1. Kor 10,27); selbst bei Fleisch, das auf dem Markt gekauft wurde (1. Kor 10,25), konnte diese Frage aufkommen, denn vieles von dem angebotenen Fleisch war von Tieren, die in Verbindung mit heidnischen Opferhandlungen getötet wurden.

In keinem dieser Fälle gibt der Herr bestimmte und präzise Anweisungen. Offensichtlich beabsichtigt Er, dass jeder Jünger gemäß seinem eigenen Glauben handeln soll, um so von der persönlichen Erfahrung zu profitieren, die er dadurch gewinnen würde.

Zuallererst zeigt Römer 14 also den großen Grundsatz der

Freiheit.

Dieser Grundsatz ist in den Versen 3 und 4 zu finden in Verbindung mit der Frage, ob man Fleisch essen dürfe. Wenn Meinungsverschiedenheiten aufkommen, neigen wir dazu, dass wir aufeinander einwirken wollen. Der, der isst, wird den verachten, der nicht isst, weil ihm dessen Bedenken im höchsten Maß engstirnig vorkommen. Der, der nicht isst, wird den richten und verurteilen, der isst, weil er unfähig ist, in der Freiheit des anderen etwas anderes zu sehen als unverantwortliche Zügellosigkeit.

„Wer bist du, der du den Hausknecht eines anderen richtest?“, fragt der Apostel (V. 4). Eine berechtigte Frage! Wirklich unverantwortlich ist weder die scheinbare Engstirnigkeit des einen noch die scheinbare Freizügigkeit des anderen, sondern die Anmaßung richterlicher Aufgaben, die allein dem großen Herrn von uns allen zustehen. Diesem Herrn stehen oder fallen wir, und mit Seiner Unterstützung können wir wirklich rechnen, wie der letzte Versteil ermutigend zum Ausdruck bringt: „Er [der Herr] vermag ihn aufrecht zu halten.“

Haben wir das alle begriffen? Auch wenn wir noch so sicher sind, die Gedanken des Herrn in einem bestimmten Punkt zu kennen – es steht uns nicht zu, für andere zu urteilen. Der Herr behält sich das Recht vor, selbst mit Seinen Knechten zu handeln, und wir sollen die Finger von ihnen lassen. Unsere Sache ist es, unserem eigenen Herrn zu dienen und Sein Wort zu befragen, um so in unseren Herzen die Sicherheit zu erlangen, was Sein Wille für unseren Weg ist.

Das Prinzip der christlichen Freiheit wird mit den Worten zusammengefasst: „Er steht oder fällt seinem eigenen Herrn“ (V. 4). Die Ermahnung, die sich darauf gründet, lautet: „Ein jeder aber sei in seinem eigenen Sinn völlig überzeugt“ (V. 5). Um zu einer derartigen Überzeugung zu gelangen, muss jeder ernste und aufrichtige Christ die Schriften unter Gebet studieren.

Das führt uns zum zweiten Grundsatz, dem der

Verantwortlichkeit.

Und zwar sind wir direkt und ausschließlich dem Herrn selbst gegenüber verantwortlich. Offensichtlich ist es wichtiger, dass ein Gläubiger in Übereinstimmung mit dem Willen des Herrn handelt, so wie er Seinen Willen verstanden hat – selbst wenn sein Verständnis mangelhaft ist –, als dass er ein vollkommeneres Verständnis dieses Willens hat. Ich sage das im Hinblick auf die Verse 6 und 14.

Vers 6 zeigt, dass derjenige, der den Tag achtet oder isst, dies dem Herrn tut; und derjenige, der den Tag nicht achtet oder nicht isst, tut dies ebenso dem Herrn. Die Gedanken des Herrn sind eindeutig und können daher nicht in zwei gegensätzliche Richtungen weisen. Aber sowohl das Tun als auch das Lassen ist gleichermaßen von der Treue zum Herrn beherrscht; der Gläubige handelt entsprechend seiner Erkenntnis, das heißt so, wie er Seine Gedanken versteht. Und dies gefällt Ihm und bedeutet Ihm mehr, als wenn der Gläubige Seine Gedanken ganz genau und exakt versteht.

Vers 14 zeigt, wie wichtig es ist, dass mein Handeln mit dem Licht übereinstimmt, das ich habe, aber nicht wie in Vers 6 im Hinblick auf den objektiven Willen des Herrn, sondern im Hinblick auf die subjektive Auswirkung meines Handelns auf mein eigenes Gewissen. Wenn ich mir eine bestimmte Sache „gönne“, obwohl ich glaube, dass sie unrein oder falsch ist, wird mein Gewissen beschmutzt. Sie ist unrein für mich, unabhängig davon, wie der Herr es einschätzt.

Damit soll weder der Unwissenheit das Wort geredet werden noch sollen wir entmutigt werden, weiter eifrig den Willen des Herrn in diesen Fragen zu erforschen. Im Gegenteil! Wir sollen prüfen und völlig überzeugt sein von dem, was der Herr möchte, dass wir es tun sollen; wir sollen in Übereinstimmung mit Ihm handeln. Ein solches Tun lobt und ehrt Ihn, ob wir nun essen oder den Tag achten oder ob wir es nicht tun. Wir sind des Herrn und leben Ihm. Er hat durch Tod und Auferstehung Seine Herrschaft über Tote und Lebendige begründet. Vor Seinem Richterstuhl werden wir alle stehen. Diese Dinge finden wir in den Versen 8–10.

In jenem feierlichen Augenblick „wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben“ (V. 12). In diesen Worten finden wir die Lehraussage unseres zweiten Grundsatzes: Jeder wird für sich selbst Rechenschaft geben, nicht für einen anderen. Unsere Verantwortlichkeit ist direkt und persönlich und sonst nichts. Darauf gründet sich die Ermahnung: „Lasst uns nun nicht mehr einander richten, sondern richtet vielmehr dieses: dem Bruder nicht einen Anstoß oder ein Ärgernis zu geben“ (V. 13).

Die Freiheit, die wir in Christus besitzen, muss also in Verbindung gesehen werden mit der Verantwortlichkeit, die wir gegenüber Christus haben. Jeder Gläubige ist dem Herrn so unmittelbar verantwortlich, dass er weder beeinflusst werden soll durch andere Gläubige noch selbst andere beeinflussen soll.

Soll dann also die Einstellung eines jeden Gläubigen und Knechtes Christi gegenüber seinen Mitgeschwistern und Mitknechten stolze Distanziertheit oder Überlegenheit sein? Auf keinen Fall. Der Apostel führt jetzt einen dritten Grundsatz ein, um die Ausgewogenheit der Wahrheit zu vervollständigen: den Grundsatz der

Brüderlichkeit.

Das Kapitel 14 beginnt mit dem „Schwachen im Glauben“. Wenig später erfahren wir, dass er der „Hausknecht eines anderen“, dass er „des Herrn“ ist (V. 4). In Vers 10 entdecken wir, dass er unser „Bruder“ ist, und Vers 13 nimmt darauf noch einmal Bezug. In Vers 15 finden wir diese Tatsache noch detaillierter. Dort wird von ihm gesagt: Er ist „dein Bruder …, für den Christus gestorben ist“. Das ist eine sehr deutliche Lehraussage des dritten Grundsatzes.

Hier sehen wir nicht nur die Tatsache, dass es diese Brüderschaft gibt, sondern dass sie auf der Grundlage des Todes Christi basiert. Wenn wir unseren Bruder in diesem Licht sehen, kann uns sein Wohlergehen nicht gleichgültig sein. Er ist ein Gegenstand der Liebe Christi, die Ihn sogar in den Tod trieb. Wenn Christus ihn so geliebt hat, welche Gesinnung sollten wir dann ihm gegenüber haben? Sollen wir ihn betrüben oder ihn zu Fall bringen? Sollen wir unsere Freiheit – jene Freiheit, die unser unbestrittenes Recht ist, wie es die ersten Verse des Kapitels zeigen – so offen zeigen, dass sein gutes Gewissen zerstört wird? Niemals! Wir sollen ihm gegenüber barmherzig oder „nach der Liebe wandeln“.

Darüber hinaus sollen wir erkennen, dass diese Fragen des Essens, des Beachtens von Tagen, des Götzenfleisches und dergleichen von untergeordneter Bedeutung sind. Das Reich Gottes besteht nicht aus diesen Dingen, sondern ist „Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist“ (V. 17). Diese Dinge sind vorrangig wichtig und wir sollen ihnen fleißig nachstreben. Aus der Sicht Gottes ist es daher gut, in Bezug auf die unwichtigeren Dinge einen Geist der Nachgiebigkeit zu bewahren, statt die Gerechtigkeit oder den Frieden oder die geistliche Freude der Gläubigen durch das Bestehen auf unseren Rechten zu gefährden. Ich mag Freiheit haben, aber es ist gut, um der Brüderlichkeit willen auf diese Freiheit zu verzichten, sofern die Verantwortlichkeit gegenüber dem Herrn dadurch nicht beeinträchtigt wird. Das wird nicht nur in Vers 21 betont, sondern auch in 1. Korinther 8,9–13 und 1. Korinther 10,23–31.

Im ersten Korintherbrief fasst der Apostel diesen Gedanken folgendermaßen zusammen: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist nützlich“ (1. Kor 10,23). Im Licht dieses Verses müssen wir uns selbst nicht nur fragen: „Habe ich die Freiheit, diese Sache zu tun?“, sondern auch: „Ist es nützlich, dass ich in diesem Fall meine Freiheit geltend mache und gebrauche?“

Verbunden mit diesem dritten Grundsatz finden wir daher die Ermahnung: „Lasst uns nun dem nachstreben, was zum Frieden und was zur gegenseitigen Erbauung dient“ (V. 19). Unsere Gesinnung sollte deshalb nicht nur diese negative Ausrichtung haben, Reibereien, Uneinigkeit und die Zerstörung schwächerer Brüder zu vermeiden, indem wir zu bestimmten Gelegenheiten auf unsere Freiheit verzichten, sondern auch die positive Ausrichtung, allem nachzustreben, was dem Frieden und der Erbauung dient. Um auf diese Weise handeln zu können, bedarf es natürlich einer gewissen Portion Selbstverleugnung; und besonders für den „starken“ Gläubigen wird es Zeiten geben, in denen er seinen Glauben für sich selbst vor Gott haben muss und die Offenbarung seines Glaubens in Taten vor den Menschen im Zaum halten muss, wie Vers 22 folgert.

Wenn wir diesen Vers sorgfältig beachten, besonders den letzten Teil, dann werden wir sehen, dass dieser Zaum für den starken Gläubigen selbst eine heilsame Sache ist, denn im Überschwang seines Glaubens kann er leicht über das Ziel hinausschießen, wenn er seine Freiheiten ergreift. Wenn jemand von uns das schon einmal erlebt hat, wird er wahrscheinlich zustimmen, dass wir später in einer ruhigen Minute über Dinge, die wir uns erlaubt hatten, unruhig und vielleicht in unseren Gewissen verurteilt waren.

Römer 14 ist vielleicht ein Kapitel, das viele von uns geneigt sind in der Bibellese zu überblättern. Der Schreiber muss bekennen, dass er sich in der langen Zeit seines christlichen Lebens nicht erinnern kann, jemals einen Vortrag darüber gehört zu haben. Und doch ist es voll höchst wichtiger Belehrung, die, wenn sie aufgenommen und ausgelebt würde, großen Segen für die Versammlung bringen und so manche spaltenden Kräfte im Keim ersticken würde.