Der Baum, den du gesehen hast, der groß und stark wurde und dessen Höhe an den Himmel reichte und der über die ganze Erde hin gesehen wurde, und dessen Laub schön und dessen Nahrung war für alle, unter dem die Tiere des Feldes wohnten und in dessen Zweigen die Vögel des Himmels sich aufhielten: Das bist du, o König, der du groß und stark geworden bist; und deine Größe wuchs und reichte bis an den Himmel und deine Herrschaft bis ans Ende der Erde“ (Vers 17–19)

Ein Baum wächst auf der Erde und ein Baum ist groß, und bildlich steht ein Baum für Größe und Macht und Stärke auf der Erde, nicht vom Himmel sondern in der Schöpfung. Ein Baum bezieht seine Kraft auch nicht vom Himmel her, sondern aus der Erde. Hier in der Deutung wird der Baum direkt auf Nebukadnezar persönlich bezogen, nicht auf Menschenmengen und Völker, und anders auch als in dem Traum Nebukadnezars in Daniel 2, wo die Größe und Herrlichkeit des Bildes auf sein Reich bezogen wird. Und so trifft das Gericht hier auch den König persönlich und sein Reich bleibt weiter bestehen. In Hes 31,10+18 wird ein ähnliches Bild von einem Baum und seiner Größe auf den Pharao von Ägypten bezogen. Und was diesen beiden Bildern gleich ist, ist die Erhebung des Herzens des Menschen. In Mt 13,32 wird auch das Bild eines großen Baumes gebraucht, um damit dieses böse System anzudeuten, zu dem die bekennende Christenheit innerhalb des Reiches der Himmel geworden ist. Das System religiöser Christenheit ist zu einem System äußerer Größe – getrennt von Gott – geworden.

Der Baum ist in der Heiligen Schrift ein Symbol für ein großes beherrschendes Regierungssystem auf der Erde. Wenn also hier Nebukadnezar mit einem Baum verglichen wird, dann ist das ganz legitim, denn Gott hatte ihn zu einer beherrschenden Macht auf der Erde gemacht. Schon in Dan 2,38 hatte Gott die Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels in die Hand Nebukadnezars gegeben, sodass hier bei den Vögeln des Himmels in den Zweigen des Baumes nicht unbedingt an Unreinheit zu denken ist, wie sonst oft bei den Bäumen. Nebukadnezar hatte nicht nur die Macht über alle Geschöpfe unter seiner Hand, selbst die Tiere fanden Schutz in diesem System, Nahrung und Bleibe. Es ist also ganz schlicht eine Beschreibung von der Größe und Erhabenheit dieses Königs, wo selbst alle Tiere unter seinem Schutz Gedeihen haben und alle Annehmlichkeiten des Lebens finden. Aber wenn es heißt, dass der Baum bis an den Himmel wuchs, dann ist darin wohl schon die Selbstüberhebung Nebukadnezars angedeutet.

Wenn Nebukadnezar dann zum Tier wird, werden alle Tiere aufgefordert, diesen Baum zu verlassen (Vers 11). Es ist tief bewegend, dass diese Erniedrigung Nebukadnezars auch in gewissem Sinn sich auf die Schöpfung ausgedehnt hat.

Ein Unterschied zu der alles umfassenden Machtfülle des Herrn Jesus, der Er als Sohn des Menschen auf dieser Erde ausüben wird, bleibt allerdings bestehen: Nebukadnezar ist niemals mit der Macht über die Fische des Meeres ausgerüstet worden; von dem Herrn Jesus heißt es, dass die Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres unter Seine Füße gestellt sind (Ps 8,7–9). Diese Herrlichkeit hat der Herr Jesus als der Erbe aller Dinge ganz allein.

Und dass der König einen Wächter und Heiligen vom Himmel herabsteigen sah, der sprach: „Haut den Baum um und verderbt ihn! Doch seinen Wurzelstock lasst in der Erde, und zwar in Fesseln aus Eisen und Kupfer, im Gras des Feldes; und vom Tau des Himmels werde er benetzt, und er habe sein Teil mit den Tieren des Feldes, bis sieben Zeiten über ihm vergehen“ – dies ist die Deutung, o König, und dies der Beschluss des Höchsten, der über meinen Herrn, den König, kommen wird: Man wird dich von den Menschen ausstoßen, und bei den Tieren des Feldes wird deine Wohnung sein; und man wird dir Kraut zu essen geben wie den Rindern und dich vom Tau des Himmels benetzt werden lassen; und es werden sieben Zeiten über dir vergehen, bis du erkennst, dass der Höchste über das Königtum der Menschen herrscht und es verleiht, wem er will. Und dass man gesagt hat, den Wurzelstock des Baumes zu lassen: Dein Königtum wird dir wieder zuteil werden, sobald du erkannt haben wirst, dass die Himmel herrschen“ (Vers 20–23)

In der Beschreibung des Wächters sehen wir, dass Gott auch in der Zeit der Nationen darüber wacht, wie die Herrscher ihre verliehene Macht ausüben und wie Er zu Seiner Zeit eingreift. Und die Beschreibung des Heiligen erinnert uns daran, dass Er Seinen Maßstab der Heiligkeit anlegt an diese Menschen. Gott hatte gewacht und stieg selbst vom Himmel herab. Diese Selbst-Überhebung Nebukadnezars ist in den Augen Gottes etwas ungemein Böses, und als der Wächter Seiner eigenen Heiligkeit und Ehre musste Er darauf in Gericht antworten. Es ist ein doppeltes Gericht, das Daniel aus dem Traum heraus ankündigt:

  • „Haut den Baum um“: einerseits würde ihm seine Herrschaft für eine Zeit weggenommen werden

  • „und verderbt ihn“: andererseits würde er durch Gott in den Zustand eines Tieres degradiert werden

Aber es ist doch erstaunlich, dass es ein zeitliches Gericht bleibt, denn der Wurzelstock sollte in der Erde bleiben. Wenn der Wurzelstock eines Baumes in der Erde bleibt, so gibt es Hoffnung (Hiob 14,7–9). So groß ist die Gnade Gottes, dass selbst in diesem Gericht noch Hoffnung angedeutet bleibt. Eisen und Kupfer dieser Fesseln des Wurzelstocks sprechen von der Festigkeit (Eisen) und der göttlichen Gerechtigkeit (Kupfer) des Gerichts. Es sind Mittel in der Hand Gottes, einmal das Königtum zu bewahren, damit es Nebukadnezar wieder gegeben werden könnte; es sind aber auch Mittel Gottes, Nebukadnezar selbst zu erhalten in diesen sieben Jahren.

Nebukadnezar wurde erniedrigt, er wurde wie ein Tier. Es ist typisch für ein Tier, dass es nach unten guckt. Nur der Mensch ist in der Lage, nach oben zu schauen ohne sich anzustrengen. Eine Beschreibung dessen, was Tier bedeutet, finden wir in Ps 49,21: keine Einsicht haben, das traf auf Nebukadnezar zu! Und das ist also typisch für die Zeit der Nationen, sie sind wie Tiere, sie haben keine Einsicht in die Dinge Gottes (vgl. auch Ps 73,21+22). Ihre einzige Blickrichtung geht zur Erde, und sie verstehen gar nichts von Gott. Sie gleichen einem Tier, das keine Intelligenz hat. Ein erschütterndes Bild der Zeiten der Nationen von Anfang bis zu Ende. Und wenn wir als Gläubige uns abwenden von dem Verständnis der Gedanken Gottes, dann stellen wir uns auf die Stufe eines Tieres.

Gott hatte vor, diesen Baum wieder sprossen zu lassen. Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit göttlichen Handelns, und hier hat Gott eine vollkommene Zeit der Zucht, ein zeitlich befristetes Gericht über Nebukadnezar ausgeübt, die dazu führte, dass er zu einer gewissen Erkenntnis Gottes kam. Sieben Zeiten stehen für sieben Jahre, aber sie haben absolut nichts mit den sieben Jahren der Drangsalszeit zu tun. Sie reden von der Fülle der Zeiten der Nationen; diese Zeit wird gekennzeichnet sein durch das, was wir hier haben: Hochmut, man vergisst, dass Gott die Macht gibt, dass man einfach Gott ausschaltet und sich noch höher macht, als man schon hoch zu sein meint. Diese sieben Zeiten sind also eine Beschreibung der Fülle der Zeiten der Nationen, wie sie sich von Anfang bis Ende darstellen werden.

Darum, o König, lass dir meinen Rat gefallen und brich mit deinen Sünden durch Gerechtigkeit und mit deinen Ungerechtigkeiten durch Barmherzigkeit gegen Elende, wenn dein Friede Dauer haben soll“ (Vers 24)

In diesem Vers haben wir die letzte Erwähnung Daniels in diesem Kapitel. Er hatte die Deutung des Traumes angezeigt, und jetzt kommt mit dieser Mahnung sein letztes Wort an den König. Er tut darin in aller Bescheidenheit einen evangelistischen Dienst, sicherlich mit innerlichem Zittern, aber er spricht dennoch Klartext. Hätten wir auch den Mut, mal in unserer nächsten Umgebung eine klare Botschaft zu verkündigen? Es ist eine zeitlos gültige Botschaft, die Daniel bringt: wenn wir je Gelingen haben wollen, dann müssen wir brechen mit unseren Sünden. Die Sünden, von denen Nebukadnezar lassen sollte, waren nicht nur allgemein sein Hochmut, sondern auch seine übergroße Grausamkeit und die Einbildung auf seine eigene Kraft, die in Hab 1,6–11 beschrieben wird. Gott beurteilt und misst die Regenten in der Ausübung ihrer Macht, die Er ihnen anvertraut hat, anhand ihrer Gerechtigkeit und ihrer Barmherzigkeit gegen Elende.

Wer seine Übertretungen bekennt und lässt, wird Barmherzigkeit erlangen (Spr 28,13). Wieviel Langmut hat Gott mit Seinem irdischen Volk gehabt, wieviel Propheten hatte Er gesandt (Jer 7,25). Und wenn wir an die Geschichte der Kirche Gottes auf der Erde denken, wie sie in den Sendschreiben vorgestellt wird, dann haben wir nur zwei Sendschreiben, wo Gott nichts zu tadeln hatte. In allen anderen Sendschreiben ruft Er zur Buße auf (z.B. Off 2,21). Wir wollen auch daraus für uns lernen, langmütig zu sein und abwarten zu können, ob nicht das Vorstellen der Wahrheit und der Aufruf zur Buße Früchte trägt; dass wir nicht zu schnell handeln, sondern abwarten, ob Gott nicht ein Werk zur Umkehr und zur Buße wirken kann. Hier hat Gott das ein Jahr lang getan, aber es hatte keine Frucht bei Nebukadnezar bewirkt.

Diese ganze Szene erinnert stark an Felix und Paulus in Apg 24,25. Für Felix kam die gelegene Zeit nicht mehr, aber er hatte immerhin eine Reaktion auf das Reden Paulus gezeigt und war von Furcht erfüllt worden. Bei Nebukadnezar hier finden wir das nicht. Er lässt Daniel zwar ausreden, aber eine Reaktion in seiner Seele wird nicht sichtbar.

Frage: Wenn Gott in diesem Traum nun das Urteil über Nebukadnezar schon vorhergesagt hatte, besaß er dann überhaupt noch die Möglichkeit zur Umkehr? Wir müssen bei dieser Frage zwischen den Regierungswegen Gottes und Seinem Ratschluss unterscheiden. Wir können das mit der Botschaft Jonas an Ninive vergleichen. Seine Gerichtsankündigung an diese Stadt war, dass Ninive in 40 Tagen umgekehrt sein würde (Jona 3,4). Auch diese Ankündigung stand nicht unumkehrbar fest; in dem regierenden Handeln Gottes gibt Er immer noch die Möglichkeit der Umkehr. Auch Nebukadnezar hätte die Möglichkeit gehabt, in seinem Herzen umzukehren.