Wie schon zu Beginn dieses Artikels gezeigt wurde, sind die vier Seiten des Kreuzes, dargestellt jeweils in den vier Evangelien, in den verschiedenen Opfern zu sehen, wie sie in den ersten Kapiteln im dritten Buch Mose beschrieben werden. Es gibt dort nur vier blutige Opfer (das Speisopfer, das kein blutiges Opfer ist, lassen wir aus). Zwei davon, das Brand- und das Friedensopfer, sind Opfer „lieblichen Geruchs“. Das Friedensopfer spricht von Frieden und Gemeinschaft mit Gott, das Brandopfer von der Vollkommenheit des Werkes für Gott. Zweifellos zeigen uns Lukas und Johannes in ihren Evangelien jeweils das Friedens- und das Brandopfer.

Doch beim Sünd- und Schuldopfer wird die Seite des Gerichts über die Sünde hervorgehoben. Dieses Gericht ist das notwendige Ergebnis göttlicher Heiligkeit, aber es ist nicht zum lieblichen Geruch für Gott. Im Schuldopfer sehen wir Sünde eher als Schädigung, sei es gegenüber Gott oder gegenüber Menschen; im Sündopfer sehen wir Sünde als Sünde. Das erste muß wiedergutgemacht, das zweite muß gesühnt werden.

Welches Opfer stellt dann Matthäus dar und welches Markus? Gewöhnlich wird Matthäus als das Sünd- und Markus als das Schuldopfer betrachtet. Doch scheint es eher genau umgekehrt zu sein, so daß in Matthäus das Schuldopfer und in Markus das Sündopfer zu sehen ist.

Die Schwierigkeit liegt hauptsächlich darin, daß uns nur im Sündopfer das volle Gericht über die Sünde an einem Ort außerhalb des Lagers gezeigt wird. Dort wurde das ganze Opfertier (außer Blut und Fett; Anm. des Übers.) auf Holzscheiten verbrannt. Aber beide Evangelien zeigen uns unseren gesegneten Herrn an diesem Ort außerhalb des Lagers: Der Schrei des schmerzlichen Verlassenseins wird sowohl im Matthäus- wie im Markus-Evangelium erwähnt. Vielleicht gibt es in der Schrift keine bloße Wiederholung desselben Gedankens. Und obwohl dies auch ein Teil der Vollkommenheit des Wortes Gottes ist, stellt es bei der Auslegung eine Schwierigkeit dar. Letztlich drängte sich mir der Gedanke auf, daß das Schuldopfer eine Frage der göttlichen Regierung ist, das Sündopfer eine Frage der göttlichen Natur. Nun ist es bekanntlich das Matthäus-Evangelium, das von Regierung spricht. Es wird zudem deutlich, weshalb das Schuldopfer den Aspekt des Sündopfers annehmen kann: Der Anspruch der göttlichen Regierung erfordert die Entfaltung der Heiligkeit der göttlichen Natur.

Im Matthäus-Evangelium gibt Gott eine zweifache Antwort auf das Werk Christi. Nachdem der Herr für uns in die äußere Finsternis gegangen ist, wird sie vertrieben: Der Vorhang des Tempels zerreißt in zwei Stücke von oben bis unten, so daß die Herrlichkeit Gottes nach außen strahlen kann und der Weg hinein zu Gott für den Menschen geöffnet ist.

Aber der Herr gibt auch Seinen Geist auf. Das doppelte Teil des Menschen besteht aus Tod und Gericht. Bei unserem Herrn finden wir, wie Er zuerst das Gericht auf sich nimmt und anschließend stirbt. Die Antwort Gottes auf Sein Sterben ist die Auferstehung vieler Entschlafenen, die nach Seiner eigenen Auferstehung in die heilige Stadt gehen und vielen erscheinen. Der Tod ist der Stempel der göttlichen Regierung für das gefallene Geschöpf, so wie der Kelch des Zorns der notwendige Ausdruck Seiner Heiligkeit gegenüber der Sünde ist. Matthäus und Markus erwähnen beide das Zerreißen des Vorhangs, aber nur bei Matthäus finden wir die Auferstehung der Heiligen. Dies verdeutlicht wieder, daß das Matthäus-Evangelium das Kreuz im Hinblick auf die göttliche Regierung zeigt, was eben im Schuldopfer vorgeschattet wird.

Ein weiterer Hinweis liegt in der Tatsache, daß im Markus-Evangelium die Gnade als ein Ergebnis des Kreuzes nicht nur uneingeschränkter ist, sondern es handelt sich um unvermischte Gnade (denn es heißt, daß das Evangelium der ganzen Schöpfung gepredigt werden soll, wobei die Verkündigung von Zeichen und Wundern begleitet wurde; diese zeigen, daß die Werke des Feindes überwunden sind und die Menschen nicht mehr unter den Auswirkungen des Gerichtes von Babel leiden). Auf diese Weise kann Psalm 22 mit Psalm 69 verglichen werden. Daher wird im Markus-Evangelium weder ein prophetischer Blutacker (vgl. Mt 27,8) noch der Ausruf „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ noch das Gericht des Verräters erwähnt. Es hat mit Recht einmal jemand gesagt: „Wer muß dafür gerichtet werden, daß Gott unsere Sünde auf Seinen geliebten Sohn legte?“ In dem Evangelium, das von Regierung spricht, sind diese Dinge notwendig und am richtigen Platz. Würde Matthäus sie nicht erwähnen, fehlte etwas; daß wir sie im Markus-Evangelium nicht finden, zeigt die Vollkommenheit der Schrift.

Sogar das dreifache Zeugnis, das dem Herrn gegeben wird (vgl. Mt 27,4.19.24), scheint eher mit den Aspekten des Schuldopfers als mit denen des Sündopfers übereinzustimmen. Dieses Zeugnis wird durch den Verräter gegeben, der Ihn überlieferte1, vom Himmel durch den Traum der Frau des Pilatus2 und durch den Richter, der Ihn losgab3. Markus erwähnt diese Einzelheiten überhaupt nicht. Durch das, was er wegläßt und durch das, was er erwähnt, lenkt er unsere Aufmerksamkeit im besonderen auf das Verlassensein von Gott, was den wesentliche Charakterzug des Sündopfers ausmacht.

1 „Ich habe gesündigt, indem ich schuldloses Blut überliefert habe.“

2 „Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten.“

3 „Ich bin schuldlos an dem Blut dieses Gerechten, seht ihr zu.“