Die Wahrheiten, von denen wir in den anderen Evangelien nur einen flüchtigen, wenn auch herrlichen Schein wahrnehmen, leuchten durch das ganze Johannes-Evangelium hindurch. So wie wir das Lukas-Evangelium mit Recht als das „Evangelium des Friedens“ bezeichnen können, so dürfen wir das Johannes-Evangelium das „Evangelium der Herrlichkeit“ nennen. Doch gerade deswegen werden die Begebenheiten, bei denen die Herrlichkeit unseres Herrn hervorstrahlt, im Johannes-Evangelium nicht erwähnt. Die Verklärung wird nicht beschrieben, da die Herrlichkeit nicht auf fernen Berggipfeln zu finden ist, sondern unter uns wohnt und wir mit ihr vertraut sind. In Christus ist uns immer das Fleisch gewordene Wort nahe: der Eingeborene in dem Schoß des Vaters; der „Sohn des Menschen, der im Himmel ist“; ja, es geht noch weiter: Wer Ihn gesehen hat, hat den Vater gesehen.

Sogar am Kreuz erstrahlt die göttliche Herrlichkeit – dort, wo wir sie am wenigsten erwartet hätten. Wir lesen nichts von dem Schrecken einer großen Finsternis, die drei Stunden lang über die Erde kam. Der Schrei des Verlassenseins wird ebenso wenig erwähnt wie Sein ringender Kampf in Gehtsemane. Wenn der Herr Jesus spricht: „Mich dürstet“, so sagt Er es, „damit die Schrift erfüllt würde“ (Joh 19,26). Durch Seine vollkommene Übereinstimmung mit dem Wort Gottes handelt Er in allen Umständen gemäß dem Willen des Vaters und ist so der Gegenstand Seines Wohlgefallens. Genauso ist beim Brandopfer alles für das Auge und das Herz Gottes bestimmt und steigt als ein lieblicher Geruch zu Ihm empor. So opfert der Herr Jesus sich hier selbst in dem ruhigen und vollkommenen Bewußtsein, daß Sein Opfer vor Gott angenehm ist: „Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und übergab den Geist.“

In welch lieblicher Weise gibt dieses Geschehen nicht nur von der Kraft unserer Erlösung Zeugnis, sondern auch von der Tatsache, daß wir vollkommen angenehm gemacht worden sind in dem Geliebten (vgl. Eph 1,6). Wie gut paßt es auch zu dem besonderen Aspekt der Wahrheit, den wir hier vor uns haben: die Gemeinschaft mit Gott im Licht in der Kraft eines neuen Lebens, das Er selbst geschenkt hat. Wir stehen vor Gott in Christus, bei welchem das Feuer nur den lieblichen Geruch vollkommener Hingabe hervorbringen konnte. Der Vater fand fortwährend Sein Wohlgefallen an Ihm. Und dieses Wohlgefallen wird auch auf uns übertragen, prägt unsere Gemeinschaft mit Gott und gibt ihr Bestand. Angenehm gemacht in dem Geliebten, weilen wir in der Gegenwart des Vaters, und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und dem Sohn.

Die Vollkommenheit des Werkes wird noch auf andere, überaus kostbare Weise bezeugt. Aus der Seite eines toten Heilands fließt durch den Speerstoß eines Soldaten Blut und Wasser hervor. Gott antwortet mit Liebe auf die sinnlose Feindschaft des Menschen und trifft göttliche Vorsorge für sein Bedürfnis. Dadurch ist bewiesen, daß tatsächlich alles vollbracht ist. Der Geist, das Wasser und das Blut bezeugen dieselbe unaussprechlich glückselige Wahrheit: Gott hat uns ewiges Leben gegeben, und dieses Leben ist in Seinem Sohn (vgl. 1. Joh 5,11).

Wir sollten noch eine weitere Seite des Brandopfers betrachten, die ebenfalls im Johannes-Evangelium zu finden ist. Wir sehen dort überall die vollkommene Freiwilligkeit des Opfers Christi1. Im zehnten Kapitel heißt es: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf daß ich es wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen“ (V. 17).

Auch im Garten Gethsemane gibt Er sich vollkommen freiwillig in die Hände derer, die kurz vorher noch vor Ihm zu Boden gefallen waren. „Der Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?“ ist Seine Antwort auf den Übereifer eines Jüngers.

Viel mehr braucht dem nicht hinzugefügt werden. Wir stellen hier eindeutig Übereinstimmungen voll lieblicher und heiliger Bedeutung fest. Mögen sie unsere Seelen stärken.

Die völlige Offenbarung des Vaters finden wir nur bei Johannes. Dieser Gedanke ist so offensichtlich, daß er kaum der Erwähnung bedarf. In den anderen Evangelien steht der Mensch und seine Erprobung im Vordergrund, aber diese Erprobung hat nun im Johannes-Evangelium endgültig ihr Ende gefunden. Juden und Heiden sind im Licht der Gegenwart Gottes ohne Unterschied, sind beide gleichermaßen tot in Sünden und haben eine Erneuerung nötig. Daher sieht Johannes Judentum und Heidentum als eins. Das Licht kam in die Welt. Die Sabbate der alten Schöpfung, das Gesetz und alle fleischlichen Vorschriften sind mit dem Judentum vergangen. Der Mensch ist von der Bildfläche verschwunden, daher kann Gott die Geheimnisse Seines eigenen Herzens enthüllen.

Danach sehen wir nur „Gnade um Gnade“. In Ihm ist alles zu finden: Leben für die Toten, Licht für die Menschen in der Finsternis, Reinigung von Sünden, so daß wir im Licht mit Gott wandeln können. Wir sind in Seiner Gegenwart, ohne daß uns ein Vorhang2 von Ihm trennt. So empfangen wir vollkommenen Segen.

Auf diese Weise offenbart Gott sich selbst als Der, der uns Seine Liebe anvertraut – denn Gott ist Liebe. Da es der eingeborene Sohn ist, der Ihn kundgemacht hat, werden auch wir in die Stellung von Söhnen gesetzt, damit wir diese Offenbarung verstehen und genießen können.

Das ist der Charakter des Johannes-Evangeliums. Es ist bezeichnend, daß es von dem Jünger geschrieben wurde, den Jesus liebte. Johannes spricht immer so, als läge er an der Brust des Herrn, der selbst wiederum in dem Schoß des Vaters ist. Es sind Worte voller Gnade und Liebe, vor denen wir uns tief beugen, wenn wir sie in uns aufnehmen.

Zum Abschluß dieser kurzen Betrachtung über die Unterschiede der vier Evangelien sei noch ein Gedanke erwähnt. Im Markus- und im Lukas-Evangelium, in denen die Erniedrigung des Herrn besonders betont wird, wird Sein Sterben mit den gleichen Worten beschrieben wie das Sterben irgendeines Menschen: exepneuse – „Er verschied“. Im Matthäus-Evangelium, wo Er der König, der König des Himmels ist, heißt es: apëke to pneuma, „Er aber gab den Geist auf.“ Hier ist Er sogar im Tode Herr Seiner selbst, so daß niemand Sein Leben von Ihm nehmen kann. Im Johannes-Evangelium wird Er als der Sohn in Beziehung zum Vater gesehen, daher paßt hier der Ausdruck paredoke to pneuma – „Er übergab den Geist“, d.h., daß Er Seinen Geist einem Anderen übergab.

Ich kenne keine englische Bibelübersetzung, die diese Unterschiede ganz richtig wiedergibt. Aber sie sind vorhanden und offensichtlich in vollkommener Übereinstimmung mit den verschiedenen Seiten des Herrn, wie sie jeweils in den vier verschiedenen Evangelien gezeigt werden.

Die Vollkommenheit des Heiligen Wortes Gottes geht weit über unser Fassungsvermögen.

1 Der Charakter der Freiwilligkeit des Brandopfers darf nicht aus 3. Mose 1,3 hergeleitet werden. Die Worte sollten dort besser lauten: „Er soll sie darbringen zum Wohlgefallen für ihn vor Jehova.“ (In manchen englischen Übersetzungen steht dort „freiwillig“; Anm. d. Übers.) Tatsächlich haben alle Opfer lieblichen Geruchs diesen Charakter. Es liegt in der Natur der Sache, daß man nicht von einem freiwilligen Opfer sprechen kann, wenn es aufgrund von Sünde erforderlich ist. Ich brauche nicht zu sagen, daß Christus, der sowohl Brandopfer als auch Sündopfer war, willig war, sich hinzugeben. Er hat „durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert“ (Heb 9,14).

2 Im Johannes-Evangelium wird bei der Kreuzigung nicht erwähnt, daß der Vorhang des Tempels zerriß, weil er im gesamten Evanglium als schon zerrissen betrachtet wird.