Die Krankheit selbst

Krankheiten erkennen wir anhand von Symptomen. Schmerz macht den Patienten elend; doch der Arzt richtet seine Aufmerksamkeit auf die Krankheit selbst. Er bekämpft nicht den Schmerz, sondern die Krankheit. Und obwohl nicht jeder Arzt seinem unheilbar kranken Patienten die Wahrheit über seinen Zustand sagt, ist Gott doch Liebe und liebt die Seinen zu sehr, als dass er sie in Unwissenheit über ihren wahren Zustand lassen könnte. Sein Wort sagt die Wahrheit klar genug. Der Schmerz, der das Jammern: „Ich elender Mensch“ hervorruft und die Symptome, die permanent vom Ich schreien – was ich tue, was ich nicht tue, was ich liebe, was ich hasse – kommen alle von dieser unheilbaren, angeborenen Krankheit, dass „in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.“ Der Apostel sagte: „Ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.“ Er hatte es praktisch erfahren. Es wäre unmöglich, diese Tatsache zu wissen und doch zu versuchen, besser zu werden. Genauso unmöglich wäre es, dies zu wissen und immer noch die Kraft in sich selbst zu suchen. Der Apostel spricht von einer Erfahrung. Und niemand spricht von einer Erfahrung, bevor er nicht aus dem beschriebenen Zustand heraus ist. Ein Ertrinkender könnte nicht darüber schreiben, was er empfindet; er würde weiterstrampeln, um gerettet zu werden; doch wenn er gerettet ist, könnte er in Ruhe darüber berichten, wie sich Ertrinken anfühlt. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Klagen von Römer 7 und die Freiheit von Römer 8 zu ein und derselben Zeit die Erfahrung eines Gläubigen sein können. Wer die Freiheit des achten Kapitels kennt, hat garantiert die Knechtschaft des siebten Kapitels hinter sich gelassen. Und genauso sicher wie wir durch seinen triumphierenden Ausruf: „Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn“ wissen, wann er aus der Sklaverei entkommen ist, wissen wir durch seine Klage: „Ich elender Mensch, wer wird mich retten“, wann er noch darin ist.

Die Wurzel der Schmerzen, die der Seele, die Leben in Christus hat, solche quälenden Symptome bereiten, ist die äußerste Hiflosigkeit und Schlechtigkeit des Ich – des unheilbaren Ichs. Doch wer hat noch nicht gekämpft und gerackert, etwas Gutes aus sich selbst hervorzubringen? Wer hat sich nicht schon etwas vorgesetzt und dann über seine gebrochenen Vorsätze resigniert? War hat sich nicht umsonst abgemüht, und sich trotzdem weiter abgemüht? Sei sicher, deine Natur, dein Ich kann nicht in Ordnung gebracht werden.

Der Arzt

Das Kapitel spricht von einem Arzt: „Ich rede zu denen, die Gesetz kennen.“ Das Gesetz ist also der Arzt. Nun gibt es zwei Arten, einen Arzt zu kennen. Wir mögen sein Pferdegespann kennen und uns vor ihm verneigen; dann kennen wir ihn aufgrund dessen, was wir sehen; und so kennen auch viele die Zehn Gebote; sie kennen sie, weil sie in der Kirche angeschlagen sind, oder weil sie sie im Bibelunterricht gelernt haben. Doch wir können den Arzt auch kennen,weil wir bei ihm in Behandlung waren – weil wir seine Medikamente geschmeckt und sein Messer gespürt haben; und das ist Kenntnis aufgrund von Erfahrung. Tausende singen und zitieren die Gebote, sind aber nie „elend“. Doch die Kenntnis aufgrund von Erfahrung bewirkt ein Schreien.

Kennt unser Leser das Gesetz, weil er darunter gewesen ist? Hat er je ernsthaft versucht, das Gesetz zu halten und nicht zu sündigen, das zu tun, was das Gesetz von ihm verlangt? Und hat das Gesetz unseren Leser besser gemacht? Was sagt die Schrift? Einfach dieses: das Gesetz bringt einen Menschen dazu, sich so schlecht wie noch nie zu fühlen. „Die Sünde hätte ich nicht erkannt als nur durch Gesetz“ (Röm 7,7). Es heilt überhaupt nicht das eigene Ich. Und es war nie Gottes Absicht, dass es das tun sollte.

Da könnte die Frage aufkommen: „Wenn das so ist, wenn das die Wirkung des Gesetzes ist, ist dann das Gesetz Sünde“ (V. 7). Das sei ferne. Das Gesetz ist geistlich. Es ist aus Gott und von Gott. Der Punkt ist, dass wir Sünde sind. Das Werkzeug ist gut, aber das Holz ist morsch. Der beste Handwerker kann selbst mit den besten Werkzeugen nicht eine Blume aus einem brüchigen Holzstück aussägen. Die Arznei ist gut, aber in dem Patienten ist keine Kraft, die ihn befähigt davon zu profitieren. Gott hat den Menschen unter Gesetz erprobt, so wie ein Handwerker die Beschaffenheit des Holzes prüft, das er bearbeiten will. Aber seit dem Kreuz Christi hat Gott den Menschen nicht mehr unter Erprobung. Das Gesetz sagte: „Tu dies und du wirst leben.“ Das Evangelium sagt: „Glaube an Christus und du wirst leben.“ Das Gesetz verlangte von dem Menschen Gerechtigkeit, das Evangelium bringt dem Menschen Errettung.

Die moralischen Empfindungen eines Menschen,bevor er die geistliche Natur des Gesetzes kennt

„Ohne Gesetz ist die Sünde tot – ich aber lebte einst ohne Gesetz.“ Doch sobald er das Gesetz auf seinen eigenen Fall anwandte, sozusagen seine Medizin einnahm, wurden ihm die Augen geöffnet und er wurde sensibel für seinen Zustand. „Als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf; ich aber starb.“ Es forderte das Böse in seinem Herzen heraus. Nicht dass es sein Herz schlechter machte, doch es ließ ihn seine Schlechtigkeit fühlen. Das Gesetz sagte: „Du sollst nicht begehren“, du sollst kein Verlangen oder forderndes Wünschen haben. Und sobald das Gebot ausging, eine bestimmte Sache nicht zu begehren, wurde die böse Natur angestachelt, genau nach dem zu verlangen, was verboten war. Wie ein Kind, das, sobald man ihm verbietet in den Korb zu schauen, sofort hineinschauen will, so fühlt die arme, schwach und sündige Natur des Menschen ein Verlangen, wenn das Gesetz Gottes ihr sagt, dass sie nicht begehren soll. Nicht die Gebote machen das Kind ungezogen, sondern die Tatsache des Verbots zeigt, was das Kind ist. Die Regungen der Sündern werden so durch das Gesetz in Tätigkeit gebracht. Die Sünde existiert, die Natur ist da, aber das Begehren der Sünde werden dadurch in Tätigkeit gebracht, dass das Gesetz ihm gebietet still zu sein. Und dieses Bewusstsein, was das eigene Ich, bewirkt in dem zerbrochenen Herzen den Ausruf: „Ich elender Mensch, wer wird mich retten?“