Die Geschichte des jungen Mädchens war an sich nichts Ungewöhnliches. In jenen grausamen Zeiten von Stammeskriegen teilten Tausende ihr Los. Die wilden Feinde ihres Landes entwurzelten das Mädchen gewaltsam aus der Heimat und der Mitte ihrer Lieben und sie kam als erniedrigte Gefangene in das Haus des erobernden Generals.

„Die Syrer waren in Streifscharen ausgezogen und hatten aus dem Land Israel ein junges Mädchen gefangen weggeführt, und sie diente der Frau Naamans“ (2. Kön 5,2). – Das ist in wenigen Worten ihre leidvolle Geschichte aus der Feder des inspirierten Geschichtsschreibers. Ihr Name wird nicht genannt. Wen sollte das auch interessieren? Sie ist nur eine kleine Sklavin in fremdem Land, einsam und allein – eher verwundert es, dass sie in dem Buch der Bücher überhaupt erwähnt wird.

„Und sie sprach zu ihrer Herrin: Ach, wäre doch mein Herr vor dem Propheten, der in Samaria wohnt! Dann würde er ihn von seinem Aussatz heilen. Und Naaman ging und berichtete es seinem Herrn und sprach: So und so hat das Mädchen geredet, das aus dem Land Israel ist“ (2. Kön 5,3).

Die Worte der jungen Frau wurden vom Geist Gottes genau aufgezeichnet. Ihre Bedeutung geht über das hinaus, was auf den ersten Blick sichtbar ist. Das sollte uns nicht überraschen. Haben wir nicht immer wieder in der Schrift gesehen, dass Gott unbedeutende Instrumente gebraucht und große Dinge von solchen tun lässt, von denen man es nicht erwartet hätte? Und nicht nur das. Finden wir nicht oft gerade die seltensten Tugenden und die größte Gnade bei solchen, die die Ärmsten und Niedrigsten und Unscheinbarsten Seines Volkes sind? Das ist ganz sicher so. Der Dichter sagt: So manche Blume wächst und blüht ungesehen und verschwendet ihren süßen Duft an die Wüstenluft.

Wenn wir diese Zeilen vom geistlichen Standpunkt sehen, erkennen wir, dass keine verborgene Pflanze, die Gott in der Wüste dieser Welt umhegt und pflegt, ihren süßen Duft verschwendet. Wenn auch die Menschen ihren Duft nicht schätzen, ist er für das Herz Gottes, unseres Vaters, doch eine Freude. Solch eine Blume war auch das gefangene junge Mädchen. Denke in Ruhe über ihre Geschichte nach und du wirst sehen, dass drei höchst vortreffliche Eigenschaften in ihr zum Vorschein kommen.

1. Sie besaß ein Höchstmaß an Vertrauen in Gott.

Ohne eine Spur von Zweifel kündigt sie etwas an: „Er würde ihn von seinem Aussatz heilen.“ Woher nahm sie diese Überzeugung? Wer hat ihr das erzählt?

Sie konnte sich nicht auf einen Präzedenzfall berufen und sagen, dass es noch einmal so kommen würde, wie sie es bereits erlebt hatte. Es gab keinen solchen Fall. Die Reinigung eines Aussätzigen war im Land Israel in jener Zeit etwas Unbekanntes. Der Herr Jesus selbst ermächtigt uns, das zu sagen. Als Er in der Synagoge in Nazareth predigte, sagte Er: „In Wahrheit aber sage ich euch: … viele Aussätzige waren zur Zeit des Propheten Elisa in Israel, und keiner von ihnen wurde gereinigt als nur Naaman, der Syrer“ (Lk 4,25–27).

Das ist doch eine ganz außerordentliche Sache! Ein junges Mädchen behauptet zuversichtlich, dass ihr heidnischer Herr, der Krieg und Verwüstung über das Volk Gottes gebracht hatte, nur zu dem Propheten des großen HERRN gehen müsste, um auf wundersame Weise von dieser tödlichen Krankheit befreit zu werden, ohne eine konkrete Garantie zu haben, so etwas behaupten zu können – ja sogar ohne auch nur einen Fall nennen zu können, bei dem selbst ein erklärter Nachfolger des HERRN so befreit worden wäre. Was ist das? Bodenlose Dummheit oder erhabener Glaube?

Die gleiche Frage muss auch in den Reihen Israels diskutiert worden sein, als David in das Terebinthental hinabstieg, um Goliath zu begegnen. Der Ausgang des Kampfes beantwortete ihre Frage schnell. Menschen mögen höhnen und spotten, während der Glaube ruhig seinem Ziel entgegengeht. Als der unverhoffte Sieg errungen war, standen alle verwundert da oder spendeten Beifall.

So war es auch bei dem jungen Mädchen. Ihre Worte erwiesen sich am Ende als absolut gerechtfertigt – ihnen Folge zu leisten, war von Erfolg gekrönt. Es war keine Dummheit, es war Glaube. Ihr Vertrauen in Gott war wie ein Diamant feinster Qualität. Ihr Glaube ruhte nicht auf menschlichen Argumenten. Es stützte sich nicht auf Umstände. Es überstieg menschliche Vernunft. Es schwang sich mit Adlerflügeln empor, ergriff gewissermaßen Gott selbst und ruhte dort. Sie glaubte offensichtlich an die Macht und das Mitgefühl Gottes. Darin gründete sich ihre Überzeugung, so dass sie – der Unmöglichkeit der Sache zum Trotz – sagen konnte: „Es wird so geschehen.“

2. Sie zeigte ein Höchstmaß an Mut im Zeugnis.

„So wendet ebendeshalb aber auch allen Fleiß an und reicht in eurem Glauben die Tugend dar“ (2. Pet 1,5). Dieses Wort befolgte das junge Mädchen. Es ist eine Sache, Vertrauen in die Macht und Gnade Gottes zu haben, dass man sich, entgegen aller Erfahrung und allem bisher Dagewesenen, sicher ist, dass Gott einen Feind segnen und erretten wird, wenn er Ihn nur sucht. Es ist jedoch eine ganz andere Sache, dieses innere Vertrauen und diese Überzeugung auch kühn zu vertreten.

Versetze dich einmal in die Lage dieses Mädchens und überlege, ob du an ihrer Stelle nicht gesagt hättest:

  • „Die Leute hier glauben ja nicht an den HERRN. Meine Behauptungen werden unglaubwürdig scheinen. Man wird nur über meine Worte lachen.“
  • „Werden sie meine Worte und meine Motive nicht falsch interpretieren? Werden sie es nicht als geschickten Schachzug verstehen, um Naaman in einem wehrlosen Zustand in das Land Israel zu locken, damit man sich dort an ihm rächen kann?“
  • „Angenommen, dem HERRN gefällt es aus irgendwelchen mir unerklärlichen Gründen, Naaman nicht zu heilen, mit welchem Zorn und Grimm wird er dann zurückkommen! Wie hätte er sich öffentlich lächerlich gemacht! Ein großer Mann wird von einem jungen Mädchen zum Narren gehalten und in die Irre geführt! Dann wird er sich an mir rächen! Mein Leben wird keinen Pfifferling mehr wert sein! Ich glaube zwar, dass Gott ihn durch Seinen Propheten heilen wird – aber nein, es ist besser, wenn ich meinen Mund halte.“

Wir hätten zweifellos viele Gründe finden können, warum wir nicht allen Mut zusammennehmen sollten, um kühn das zu verkünden, was wir von Gott wissen. Das junge Mädchen war gegen solche Überlegungen gefeit.

Was bestärkte sie so in ihrem kühnen Zeugnis? Die Antwort scheint die Schrift selbst zu geben.

3. Sie war von einem Höchstmaß an Mitgefühl für die Verlorenen bewegt.

Die Art und der Klang ihrer Äußerung zeigt es. Da ist Naaman – der Erzfeind ihres Volkes, der indirekte Grund für ihre Gefangenschaft; und eine Nachricht kommt ihr zu Ohren, dass er ein verlorener Mann ist, zu einem schrecklichen Tod verdammt. Ist sie von Schadenfreude erfüllt? Jubelt sie bei dem Gedanken an sein erbärmliches Ende? Überhaupt nicht.

Sieh, wie sie vor ihrer Herrin steht! Ihre Worte entspringen einem mitfühlenden Herzen: „Ach wäre doch mein Herr vor dem Propheten, der zu Samaria wohnt! Dann würde er ihn von seinem Aussatz heilen.“ Keine Spur von Kälte oder Zynismus – nur Wärme und der Klang von Aufrichtigkeit.

Frei von allen engherzigen Rachegefühlen war ihr Mitgefühl nicht weniger erhaben als die Stärke ihres Vertrauens zu Gott und der Mut, mit dem sie für Ihn zeugte. Es war mehr als erhaben – es war göttlich. Wie Davids Güte gegenüber Mephiboseth (2. Sam 9,3) war auch ihre Güte „Güte Gottes“. Ihre Worte und ihr Verhalten offenbarten in bemerkenswerter Weise das gütige und gnädige Wesen des Gottes, dem sie diente.

Gut gemacht, junges Mädchen! In den notvollsten Umständen hast du den höchsten und heiligsten Dienst erwiesen, indem du den dargestellt hast, nach dessen Namen du genannt warst. Selbst die größten Diener Gottes können nicht mehr tun als das. Dein Lohn ist im Himmel. Naaman hat sich vielleicht bei dir bedankt, als er zurückkam, vielleicht auch nicht. Aber selbst wenn dir die Menschen weder ein Wort noch einen Blick der Anerkennung gönnten, hast du doch „deinen süßen Duft nicht an Wüstenluft verschwendet“. Der Wohlgeruch deiner Worte und deiner Gesinnung wurde von Gott völlig geschätzt, und du wirst aus dem Mund eines anderen, der selbst der vollkommene Diener war, an jenem Tag die Worte hören: „Wohl, du gute und treue Dienerin!“

Wir können die Geschichte des jungen Mädchens auf uns anwenden. Das bedarf keines großen Scharfsinns. Jeder sollte diese Anwendung für sich selbst machen.

Die Tage, in denen wir leben, haben ihre eigenen besonderen Prüfungen, und, trotz der Fassade des Christentums, war der lebendige Glaube an Gott nie auf einem niedrigeren Stand. Und doch ist Gott dem Glauben in einer Weise offenbart, wie es in Naamans Tagen nicht der Fall war. Gott in Christus offenbart – das sollte uns mit dem stärksten Vertrauen zu Ihm erfüllen. Wir haben seit Pfingsten die Gabe des Heiligen Geistes – das sollte uns Mut geben, denn „der, der in euch ist, ist größer als der, der in der Welt ist“ (1. Joh 4,4); und außerdem hat Gott gesagt: „Ich will dich nicht versäumen und dich nicht verlassen; so dass wir kühn sagen können: Der Herr ist mein Helfer, und ich will mich nicht fürchten; was wird mir ein Mensch tun?“ (Heb 13,5.6). Und schließlich sind wir auch errettet, um in der Gesinnung mit unserem Erretter eins zu sein und Sein Wesen vor der Welt darzustellen, indem wir „als Auserwählte Gottes, als Heilige und Geliebte: herzliches Erbarmen [o. Mitgefühl], Güte, Demut, Milde, Langmut“ anziehen (Kol 3,12).

Für viele von uns mag der Lebensweg im Schatten und in Abgeschiedenheit verlaufen. Wir wollen uns aber nicht davon entmutigen lassen, dass wir unscheinbar sind. In deiner kleinen Ecke kannst du ein helles Licht für Christus sein.