Und als Daniel erfuhr, dass die Schrift aufgezeichnet war, ging er in sein Haus. Und er hatte in seinem Obergemach offene Fenster nach Jerusalem hin; und dreimal am Tag kniete er auf seine Knie und betete und lobpries vor seinem Gott, wie er vordem getan hatte“ (Daniel 6,11).

Auffallend in diesem Vers sind sowohl der tiefe Frieden bei Daniel als auch seine innerliche Ruhe und sein ungebrochenes Vertrauen trotz der menschlichen Aktivitäten seiner Feinde. Dreimal lesen wir bei diesen Männern, dass sie eilig waren in ihrem Tun (Dan 6,7.12.16; vgl. Röm 3,15). Hinter dieser Eile steckt zielgerichtete bösartige Energie. Aber Daniel ging ohne besondere Eile an den Ort, den er gewohnheitsmäßig dreimal am Tag zum Gebet aufsuchte. Und er brachte jetzt nicht nur Bitten und Flehen wegen dieser aktuellen Not vor seinen Gott, sondern er fand auch Zeit zum Loben und Preisen. Wie leicht beschränken wir uns in Notsituationen auf Beten und Flehen und Seufzen. Natürlich dürfen wir das aktuelle Geschehen in unserem Leben zu einem zusätzlichen Anlass für unsere Gebete machen und in dieser intensiven Form des Flehens vor Gott kommen. Flehen verrät, dass einem die aktuelle Notsituation zutiefst nahegeht; auch der Herr Jesus selbst hatte als Mensch sowohl Bitten als Flehen (Heb 5,7). Aber wir sollten darüber auch das Loben und Danken nicht vergessen.

Daniel nutzt also nicht seine dienstliche Nähe zum Thronsaal, um dieses Problem anzusprechen; er wendet sich an die höchste Stelle. Diese Nähe zu Gott kannte er gewohnheitsmäßig. Er ist hier die personifizierte Erfüllung der Bitte Salomos bei der Einweihung des Tempels in 1. Könige 8,47.48. Seine Füße waren in der Fremde, aber sein Herz an dem Ort, den Gott sich erwählt hatte. Auch wir haben dieses Gebetsleben in einem geistlichen Obergemach unverzichtbar nötig! Ein Ort, an dem wir ungestört mit unserem Herrn reden können.

Warum eigentlich hat Daniel nicht interveniert bei dem König? Das wäre doch sehr naheliegend gewesen. Aber Daniel war nicht nur ein treuer Mann, er war auch ein weiser Mann. Und er kannte das Prinzip der Meder und Perser, dass diese Verordnung auf keinen Fall rückgängig gemacht werden konnte. Und wenn diese Verordnung auch auf die unmöglichste Art und Weise durch Lug und Trug und Schmeichelei zustande gekommen war, so wusste er, dass ein Protest dagegen überhaupt nichts bewirken konnte. Er hätte nur andere und sich selbst lächerlich gemacht. Es hatte keinen Zweck, deshalb vor dem König vorstellig zu werden, aber er hatte eine weit bessere Stelle, wo er vorstellig werden konnte – die höchste Audienz-Möglichkeit, die es gibt! David und Asaph, die selbst körperlich nicht in das Heiligtum Gottes hineingehen durften, hatten etwas davon verstanden, dass sie sich geistlicherweise dort aufhalten konnten, es war für sie ein Refugium, ein Rückzugsort angesichts ihrer Umstände im Leben (Ps 27,4; 73,17). Daniels Heiligtum war sein Obergemach (Mt 6,6). In dieser Hinsicht ist dieses Kapitel die Fortsetzung und sogar Erhöhung von seinem Verhalten in Kapitel 1. Dort sehen wir die Vorbereitung und hier haben wir die volle Entfaltung des Glaubens Daniels.

Es hatte also keinen Zweck, sich dagegen aufzulehnen. Es hätte aber auch andere Möglichkeiten gegeben, die Daniel aber auch nicht tat. Er hat die Fenster seines Obergemachs nicht geschlossen, und er hat sich auch nicht unterworfen und die 30 Tage abgewartet und nicht gebetet in dieser Zeit – er hat alles so getan wie immer.

Warum wohl hat er die Fenster nicht zugemacht? Hätte er sich nicht sagen können, dass es in dieser kritischen Situation besser sei, die Dinge nicht herauszufordern? Er hatte verstanden, dass sich der König Darius in einen Autoritätsbereich hineingewagt hatte, der ihm nicht zustand – den Bereich der Autorität Gottes. Deshalb konnte Daniel unmöglich das Gebot des Königs befolgen, er wäre dadurch seinem Gott untreu geworden. Aber konnte er nicht bei geschlossenem Fenster weiter zu seinem Gott beten? Hätten wir das nicht getan? Es hätte unbedingt bei seinen Widersachern zu der Schlussfolgerung geführt, dass Daniel eingeknickt wäre, deshalb ließ er die Fenster offen und gab weiterhin seiner Hoffnung auf den Gott Israels hörbaren Ausdruck.

Praktische Hinweise für unser Gebetsleben:

Dreimal am Tag betete Daniel. Natürlich können wir auch öfter beten, aber es wäre gut, wenn wir eine gewisse Konstanz in unserem Gebetsleben haben. Das wäre eine nützliche Gewohnheit und eine Hilfe für unser praktisches Glaubensleben, sich in einem regelmäßigen Gebetsleben zu erhalten. Es ist wichtig, dass wir uns die Zeit dafür nicht wegrauben lassen und wenigstens an diesen gewohnten Zeiten festhalten. Natürlich müssen wir diese festen Zeiten nicht nach der Uhr festlegen, wie es in manchen Religionen der Fall ist, wo man genau zu diesen festgelegten Zeiten beten muss. Aber wenn wir diese feste Angewohnheit haben, regelmäßig zu beten, dann wird der Herr uns auch die Gelegenheiten dazu zeigen; haben wir sie nicht, werden wir schnell Ausreden finden, warum es gerade nicht passt. Gebetszeit ist nicht Zeitverlust, sondern Zeitgewinn!

Wenn wir das Beispiel Daniels vor uns haben, dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass Israel unter Gesetz stand. Wenn wir es wie Daniel dreimal am Tag tun, dann kann bei uns schnell eine gesetzliche Haltung aufkommen, in der wir uns besser als andere dünken (vgl. Lk 18,11). Das ist nicht der Gedanke Gottes für die heutige Zeit. Für uns heute geht es darum, nicht bloße feste Gebetszeiten einzuhalten, sondern auch zwischen den Gebeten ein Leben mit dem Herrn zu führen. Paulus hatte Nacht und Tag gebetet (1. Thes 3,10), für ihn gab es keine drei Gebetszeiten, für ihn waren der ganze Tag und die ganze Nacht Gebetszeit. Das heißt nicht, dass er nur gebetet hätte, denn für ihn gab es auch noch zwei andere Dinge, die er auch Tag und Nacht tat. Mit seinen eigenen Händen hatte er Nacht und Tag gearbeitet (1. Thes 2,9), um seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und bestimmten Versammlungen nicht zur Last zu fallen; und er hatte auch Nacht und Tag einen jeden mit Tränen ermahnt (Apg 20,31). Diese Ausdrucksweise ist also nicht in absolutem Sinn zu verstehen. Im Blick auf das Gebet lernen wir daraus, dass es für uns überhaupt keine Zeit gibt, in der wir nicht beten könnten. Es drückt eine beständige Abhängigkeit vom Herrn aus.

Wer mit dem Herrn wandelt, weiß gar nicht, wie oft er am Tag gebetet hat. Wenn wir nur in Bedrängnis von irgendwelchen Nöten spontan zum Herrn rufen, dann ist das an sich nicht verkehrt, aber unsere Gebete sind dann nur von unseren persönlichen Bedürfnissen geprägt, es ist dann doch ein etwas einseitiges Gebetsleben. Deshalb sollten wir doch versuchen, gewisse Zeiten für das Gebet zu reservieren; wenn wir das nicht machen, wird es kaum zu einem ausgewogenen Gebetsleben kommen. Wenn wir uns gewisse Regelmäßigkeiten eingerichtet haben, dann haben wir auch Muße, für ganz andere Dinge als unsere persönlichen Umstände zu beten. Es ist etwas Großes, ein Gebetsleben zu führen! Der Herr Jesus war stets im Gebet (Ps 109,4), Er war immer in der Haltung des Gebets.

Wofür beten wir eigentlich? Nicht am meisten für uns selbst? Haben wir Zeit, in unseren Gebeten für die Nöte und Krankheiten unserer Geschwister zu beten? Für das Werk des Herrn? Es gibt ein unendlich breites Spektrum für unsere Gebete (Kol 4,12; Eph 6,18.19; 1. Tim 2,1.2; 2. Thes 3,1). Das alles würde zu kurz kommen, wenn wir keine reservierten Gebetszeiten hätten und nur spontan in schwierigen Umständen zum Herrn rufen würden. Wenn man die Gebete des Apostels Paulus mal untersucht, wird man kaum eine Stelle finden, wo er für die äußeren Umstände der Geschwister gebetet hatte, sondern er betete immer für das geistliche Wohl und das geistliche Wachstum der Gläubigen. Ihm lag das Volk Gottes am Herzen wie auch dem Daniel. Dreimal hatte er wegen des Dornes für sein Fleisch zu dem Herrn gefleht; dreimal und nicht mehr, weil der Herr ihm gesagt hatte, dass Seine Gnade ihm genügen würde (2. Kor 12,7–9). Es kann auch in unseren persönlichen Gebetsanliegen mal sein, dass der Herr uns sagt, damit aufzuhören (5. Mo 3,26). Dann müssen wir uns geistlich damit abfinden, dass der Herr in irgendeiner Sache eine Tür für uns geschlossen hat und sie nicht mehr öffnen wird.

Wir lernen also aus dem Beispiel Daniels nicht, dass wir seine Gebetsgewohnheit in einem gesetzlichen und formalen Sinn eins zu eins übernehmen sollten. Das Beispiel von Paulus zeigt uns, dass wir immer unsere Haltung der Abhängigkeit vom Herrn durch Gebet zum Ausdruck bringen sollen. Was unser persönliches Gebetsleben betrifft, sollten wir regelmäßig die am besten geeignete Zeit des Tages dem Herrn geben – egal zu welcher Tageszeit das für jeden Einzelnen sein mag – und uns nicht nur leiten lassen von notvollen Umständen. Jedenfalls sollten wir den Tag nicht starten ohne Gebet, ohne in Kontakt gewesen zu sein mit dem Herrn und mit Seinem Wort. Wo das fehlt, wird der Tag nicht gesegnet sein!

Und Daniel hat sich für sein Gebet auch hingekniet. Die Bibel ist sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament voll von Beispielen gläubiger Menschen, die sich im Gebet vor Gott hingekniet haben (z.B. Salomo in 2. Chr 6,13; Elia in 1. Kön 18,42; Esra in Esra 9,5; Petrus in Apg 9,40; Paulus in Apg 20,36; 21,5); selbst unser Herr als Mensch auf der Erde hat auf den Knien gebetet (Lk 22,41). Wenn wir gesund sind, ist das die geziemende Haltung der Demut vor Gott, das Einnehmen des Platzes der Unterwürfigkeit vor Gott. Wer kniet, ist ein hilfloses Wesen; es ist der äußerliche Ausdruck dessen, was wir innerlich sind: unfähig in uns selbst, aber im Vertrauen auf unseren Herrn und auf unseren Gott und Vater! Das Hinknien ist nicht eine Nebensache, es ehrt Gott.

Neben dem persönlichen Gebet eines jeden Einzelnen ist auch das gemeinsame Gebet jeder örtlichen Versammlung außerordentlich wichtig! Wenigstens einmal in der Woche sollten wir als Versammlung zum Gebet zusammenkommen. Und auch dafür gilt das, was für das persönliche Gebet wichtig ist: dass wir mehr für das geistliche Wachstum und Wohlergehen der Geschwister beten sollten. Als Petrus von Herodes ins Gefängnis geworfen wurde, wurde von der Versammlung in Jerusalem anhaltend für ihn zu Gott gebetet (Apg 12,5); das war ein Gebet für die äußeren Umstände des Petrus. Wir dürfen das also durchaus tun, aber die anderen Gesichtspunkte dabei nicht vernachlässigen.

Zusammenfassend können wir aus der Gebetshaltung Daniels in diesem Vers verschiedene Punkte als vorbildlich für unser Gebetsleben festhalten:

  • Die äußeren Umstände (die Verordnung des Königs) hatten seine gute Gewohnheit nicht verändert.

  • Daniel betete in seinem privaten Umfeld in einem ungestörten Raum (ein Obergemach in seinem Haus).

  • Er betete auf der Grundlage des Wortes Gottes (offene Fenster nach Jerusalem; 1. Kön 8,47.48).

  • Er hatte den Ort der Wohnstätte Gottes und das Volk Gottes nicht aus den Augen verloren (nach Jerusalem gerichtet; vgl. Ps 137).

  • Er betete mit einer bestimmten Regelmäßigkeit (dreimal am Tag).

  • Seine äußere Gebetshaltung (auf den Knien) drückte seine Ehrfurcht vor Gott aus.

  • Er hatte auch eine Vielfalt in seinem Gebetsleben (Gebet und Lobpreis).

  • Er hatte ein echtes Bewusstsein davon, vor wem er stand und mit wem er redete (vor seinem Gott).