Daniel 7 ist eigentlich der Höhepunkt des ganzen Buches, denn in keinem anderen Kapitel wird die Herrschaft des Herrn Jesus auf derart großartige Weise vorgestellt, wie hier. Es werden zuerst drei Tiere vorgestellt (Dan 7,4–6) und dann ein viertes Tier (Dan 7,7.8). Es sind wieder die vier Weltreiche aus dem Kapitel 2, aber unter einem anderen Charakter; nicht in Form eines Bildes, sondern als wilde Tiere. Tiere haben keinen Verstand und keinen Geist und keine Kenntnis Gottes. Es geht dabei aber nicht um natürliche Tiere, sondern um Symbole, die Ähnlichkeiten vorstellen sollen. Ein Tier ist im Wort Gottes ein Symbol von einem Wesen, das keine Beziehung zu Gott haben kann. Und der Hauptgegenstand dieses Kapitels sind nicht die ersten drei Tiere, die ja bereits aus heutiger Sicht Vergangenheit sind – sie spielen fast keine Rolle in diesem Kapitel –, sondern das vierte Tier: Rom als eine wiedererstehende Macht; das nimmt die ganze Aufmerksamkeit hier in Anspruch. Über die Hälfte dieses Kapitels beschäftigt sich mit dem letzten dieser Reiche. Wir finden hier auch gewisse Wiederholungen, aber es sind doch nie bloße Wiederholungen, denn Gott fügt immer neue Einzelheiten hinzu. Gott wiederholt nie einfach etwas, was Er schon einmal gesagt hat.

Im Ganzen umfasst das Gesicht in diesem Kapitel drei Teile, die immer mit dem Ausdruck „ich schaute in Gesichten der Nacht“ beginnen (Dan 7,2–6; 7 – 12; 13.14). Ab Vers 15 beginnt dann die Deutung dieser drei Gesichte, die auch wieder in zwei Teile zerfällt: Verse 17.18 und Verse 23–27:

Verse 2–6:

das Gesicht über die ersten drei Weltreiche

Vers 4

das erste Tier (Weltreich)

Vers 5

das zweite Tier (Weltreich)

Vers 6

das dritte Tier (Weltreich)

Verse 7–12:

das Gesicht über das vierte Weltreich; der Alte an Tagen, das Gericht

Vers 7.8

das vierte Tier (Weltreich)

Vers 910

der Alte an Tagen

Vers 11.12

das Gericht über die vier Weltreiche

Verse 13.14:

das Gesicht über einen wie eines Menschen Sohn

Verse 15.16:

Daniels Bitte um Gewissheit über diese Gesichte

Verse 17.18:

Deutung allgemein über die vier Weltreiche und ihr Ende

Verse 19–22:

Daniels Bitte um Gewissheit speziell über das vierte Tier

Verse 23–27:

Deutung speziell über das vierte Weltreich und sein Ende

Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, sah Daniel einen Traum und Gesichte seines Hauptes auf seinem Lager. Dann schrieb er den Traum auf, die Summe der Sache berichtete er. Daniel hob an und sprach: Ich schaute in meinem Gesicht in der Nacht: Und siehe, die vier Winde des Himmels brachen los auf das große Meer. Und vier große Tiere stiegen aus dem Meer herauf, eins verschieden vom anderen“ (Dan 7,1–3).

Bisher hatten Heiden Träume gehabt, und Gott gab dem Daniel Kraft zur Deutung, aber jetzt sieht nicht mehr ein heidnischer König ein Gesicht, sondern Daniel selbst. Gott gibt jetzt diesem Daniel Offenbarungen. Gott spricht nicht mehr wie einst durch Seine Propheten direkt zu dem Volk Gottes, es besteht wegen seines Zustandes eine gewisse Distanz. Dieses Volk war nicht mehr anerkannt von Ihm, es war „Lo-Ammi“, nicht-mein-Volk. Aber dem Daniel gab Er Kenntnis über den Lauf der Dinge, besonders im Blick auf das jüdische Volk. Ähnlich wie bei Johannes auf Patmos hat auch Daniel hier keine direkte Botschaft für das Volk Gottes gehabt. Es muss ein sehr umfassendes Gesicht gewesen sein, von dem Daniel jetzt nur die Summe der Sache berichtet, den wesentlichen Kern seines Traumes. Es war auch nichts irgendwie Nebulöses oder Träumerisches, sondern es waren klar definierte Gesichte, konkrete Offenbarungen.

Wir könnten uns die Frage stellen, warum Gott dem Daniel dieses Gesicht erst im fortgeschrittenen Alter sehen lässt. Das große Bild Nebukadnezars durfte er in jungen Jahren deuten, ungefähr 50 Jahre vor diesem Gesicht; aber erst im Alter wird ihm gezeigt, welche satanischen Mächte hinter all diesen Weltreichen und Machthabern stehen. Vielleicht war er als gereifter Mann mehr in der Lage, das alles auch geistlich zu verarbeiten? Fest steht, dass er diese Gesichte erst gegen Ende des babylonischen Weltreiches bekam bzw. als dieses Reich längst Geschichte war. Vielleicht musste er auch deshalb so alt werden, bis er diese Gesichte bekam, um das Ende des ersten Weltreiches mitzuerleben.

Wenn Daniel hier sieht, dass die vier Winde des Himmels losbrechen auf das große Meer, dann wird uns hier in Symbolen gezeigt, dass jetzt die Mächte der Finsternis einwirken auf die Masse der Menschheit. Wir denken dabei an den Fürsten der Gewalt der Luft, der jetzt wirksam ist in den Söhnen des Ungehorsams (Eph 2,2). Die ganze Erde wird von bösen geistlichen Mächten satanisch beeinflusst, und aus der Masse der Menschen, dem Völkermeer (Jes 17,12.13), steigen dann vier spezielle Tiere herauf. Wenn in Sacharja 6,5 auch von vier Winden die Rede ist, dann wird dort betont, dass sie von dem Herrn der ganzen Erde ausgegangen sind. Auch in Offenbarung 7,1 lesen wir von vier Winden der Erde, die ihren Ursprung im Himmel haben, die sich aber auf der Erde auswirken. Wir lernen daraus die wichtige Wahrheit, dass alles, was Satan tut, er unter der Duldung und Regierung Gottes tut (vgl. 1. Chr 21,1 mit 2. Sam 24,1). Es liegt kein Widerspruch darin. Wenn es um die Regierung der Welt geht, steht Satan unter Gott und darf sogar manchmal unter Seiner Zulassung böse und verderbliche Dinge tun.

Daniel sieht in diesem ersten Gesicht schon vier Tiere; er beschreibt zwar nur die ersten drei Tiere, aber er sieht schon, dass es ein zusammengehörendes Bild von vier Tieren, eine Abfolge von vier Reichen ist. Dass es vier große Tiere sind, zeigt deutlich, dass es sich um gewaltige Mächte, um vier Weltreiche, handelt. Und sie sind voneinander verschieden. Wir müssen bei diesem Gesicht bedenken, dass Daniel hier gegen Ende des ersten Weltreiches sich mitten in diesem Geschehen befindet, dass das zweite Weltreich und alle folgenden Weltreiche für ihn hier aber noch Zukunft sind. Von unserem heutigen Standpunkt aus sind die ersten drei Weltreiche und auch die erste Phase des vierten, des römischen Weltreiches, schon längst Vergangenheit. Aber wir brauchen die Geschichte nicht, um die biblische Prophetie zu erklären. Man ist ja leicht geneigt, geschichtliche Details zu nehmen und dann damit biblische Prophetie zu erklären. Aber es ist genau umgekehrt: Die Prophetie – auch die der ersten sechs Verse dieses Kapitels – eröffnet uns die Geschichte. Ist es dabei nicht erstaunlich, wie präzise Gottes Wort Dinge vorausgesagt hat, die für uns heute schon Vergangenheit sind und die sich ganz genau so ereignet haben?

Wenn wir hier die Abfolge der vier Weltreiche beschrieben finden, dann wird das nicht so vorgestellt, dass das eine Weltreich das vorhergehende besiegt. Es heißt in Vers 12 einfach nur, dass die Herrschaft dieser Reiche weggenommen wurde. Die Geschichte zeigt, dass das durch Eroberungen geschah, aber das wird hier nicht vorgestellt.