Darauf begehrte ich Gewissheit über das vierte Tier, das von allen anderen verschieden war – sehr schrecklich, dessen Zähne aus Eisen und dessen Klauen aus Erz waren, das fraß, zermalmte und das Übriggebliebene mit seinen Füßen zertrat – und über die zehn Hörner auf seinem Kopf und über das andere Horn, das emporstieg und vor dem drei abfielen; und das Horn hatte Augen und einen Mund, der große Dinge redete, und sein Aussehen war größer als das seiner Genossen. Ich sah, wie dieses Horn Krieg gegen die Heiligen führte und sie besiegte, bis der Alte an Tagen kam und das Gericht den Heiligen der höchsten Örter gegeben wurde und die Zeit kam, dass die Heiligen das Reich in Besitz nahmen“ (Dan 7,19–22).

Nach der ersten Deutung des Engels suchte Daniel immer noch Gewissheit über das vierte Tier. Er beschreibt es jetzt selbst noch mit mehr grausamen Einzelheiten, als er sie bei dem Gesicht über dieses Tier ab Vers 7 geschildert hatte. In Vers 20 fügt er im Blick auf das kleine Horn hinzu, dass sein Aussehen größer war als das seiner Genossen. Das deutet die herausragende Machtposition des kommenden Fürsten des Römischen Reiches an. In jeder Art seiner Erscheinung ist er seinen Genossen überlegen. Der Ausdruck Genossen weist darauf hin, dass die anderen zehn von der gleichen Art an Bosheit sein werden, aber er wird aus ihnen hervorragen.

Auch der Krieg, den dieses Horn gegen die Heiligen führte, wird in dem Gesicht in Vers 8 nicht erwähnt. Dort war nur von Lästerungen, prahlerischen Worten, die sich direkt gegen Gott richteten, gesprochen. Hier berichtet Daniel nun noch einen weiteren Angriffspunkt, die Heiligen selbst. Das Haupt des Römischen Reiches führt nicht Krieg gegen das ungläubige Volk an sich, sondern gegen die Heiligen darin, die Gläubigen, und er besiegt sie. Das Besiegen ist übrigens nicht das Gleiche wie das Vernichten in Vers 25. Besiegen meint, dass ihre Existenz nicht aufgelöst wird, aber wohl ihre Präsenz. Das Vernichten geht weiter und bedeutet auch das Töten, was bei den Märtyrern ja der Fall sein wird. Es ist die Zeit der Drangsal, die Gott als Gericht über Sein Volk bringen muss. Krieg ist übrigens bis auf eine Ausnahme (Off 12,7) ein Kennzeichen der Erde, aber Gott berichtet in Seinem Wort nur dann von Kriegen, wenn Heilige davon betroffen ist; das erste Mal finden wir das in 1. Mose 14.

Diese Zeit der Drangsal dauert dreieinhalb Jahre (Vers 25), es ist die zweite Hälfte der 70.Jahrwoche aus Daniel 9,27. An deren Ende wird der Alte an Tagen den himmlischen Heiligen das Gericht übertragen (1. Kor 6,2) und die irdischen Heiligen werden das Reich in Besitz nehmen. Was für eine Gnade! Die, die hier auf der Erde für Ihn im Glauben gelebt und Verfolgungen erduldet haben, sie werden von Ihm das Reich übertragen bekommen.

Er sprach so: Das vierte Tier: Ein viertes Königreich wird auf der Erde sein, das von allen Königreichen verschieden sein wird; und es wird die ganze Erde verzehren und sie zertreten und sie zermalmen. Und die zehn Hörner: Aus jenem Königreich werden zehn Könige aufstehen, und dieser wird verschieden sein von den vorigen und wird drei Könige erniedrigen. Und er wird Worte reden gegen den Höchsten und die Heiligen der höchsten Örter vernichten; und er wird darauf sinnen, Zeiten und Gesetz zu ändern, und sie werden eine Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit in seine Hand gegeben werden“ (Dan 7,23–25).

Hier beginnt jetzt die zweite Deutung durch den Dastehenden. Das kommende Römische Reich wird die ganze Erde verzehren (vgl. Off 13,7b). Es ist schon manchmal im Blick auf das Römische Reich und seine Ausdehnung die Frage erhoben worden, was denn mit USA, Australien, Neuseeland und weiteren Staaten in diesem Zusammenhang sei. Manche Ausleger (z.B. M. Tapernaux) weisen darauf hin, dass es sich dabei um Nachfolgegenerationen Europas handelt1.

Das Haupt des Römischen Reiches wird drei von den zehn Königen erniedrigen, ein politischer Umbruch wird stattfinden. Wir können das ganze Handeln dieses Machthabers, wie es in diesem Vers beschrieben wird, auf unsere Zeit anwenden, wo wir auch in zunehmendem Maß politische Unruhen und Umbrüche miterleben, die auch Westeuropa erreichen. Das sind die Vorausschatten dessen, was kommen wird. Auch die Blasphemie, die Gotteslästerung, nimmt in unseren Tagen in unserem Land immer mehr zu. Noch ist sie strafrechtlich verboten (§ 166 Strafgesetzbuch), aber es ist schon zu einer Petition zur Streichung des Gotteslästerungsparagraphen aufgerufen worden2, die politische Diskussion geht in diese Richtung. In den Niederlanden wird die gleiche Diskussion geführt. Auch werden bibeltreue Gläubige als religiöse Fanatiker eingestuft, und wenn man heute auch allem Möglichen gegenüber tolerant ist, Bibeltreue wird überhaupt nicht toleriert. Denken wir nur an die gesetzlichen Regeln zur Kindererziehung. Wir sehen also in unserer heutigen Zeit in vielfacher Hinsicht deutliche Vorboten jener Zeit, die nach der Entrückung der Versammlung in den zweiten dreieinhalb Jahren ihre schreckliche Realität und ihren Höhepunkt haben wird.

Dieser kommende Fürst, der römische Machthaber, wird sich auch erdreisten, Worte zu reden gegen den Höchsten. Das ist ein Name Gottes, der überwiegend Bezug hat auf das 1000-jährige Reich (vgl. 1. Mo 14,19; Ps 83,19; 89,28). Gerade das beweist, dass dieser Mann ein Bewusstsein davon hat, dass zwischen dem Höchsten und den Heiligen der höchsten Örter eine Beziehung besteht, zwischen Gott und diesen Gläubigen. Ist diese Beziehung auch in unserem Leben heute noch zu sehen?

Wenn es Zeiten und Gesetz ändern will, geht es dabei um die jüdischen Festzeiten und die Vorschriften des Gesetzes, das die Juden halten sollten. Es wird ein totaler Angriff sein gegen alles, was von Gott ist und was zu Gott gehört. Aber wir müssen es unterscheiden von dem, was in Daniel 8,11 von dem Antichrist prophetisch gesagt wird: dass er Gott das beständige Opfer wegnehmen wird. Was hier in Vers 25 gesagt wird, hat eine Parallele in Daniel 9,27, wo von dem Haupt des kommenden Römischen Reiches gesagt wird, dass er in der zweiten Hälfte der 70. Jahrwoche Schlachtopfer und Speisopfer aufhören lassen wird.

Wer wird in seine Hand gegeben werden? Bezieht es sich auf die Heiligen der höchsten Örter oder auf die Zeiten und das Gesetz? Rein grammatisch könnte beides möglich sein. Johannes 10,28.29 sagt aber, dass niemand die Seinen aus der Hand des Herrn noch aus der Hand des Vaters zu rauben vermag; es werden also nicht die Heiligen in die Hand des römischen Fürsten gegeben, sondern die jüdischen Festzeiten und Vorschriften des Gesetzes.

Die Zeitdauer, die hier angegeben wird, sind dreieinhalb Jahre: eine Zeit steht für ein Jahr, Zeiten für zwei Jahre und eine halbe Zeit für ein halbes Jahr. Es ist der gleiche Zeitabschnitt, der auch mit 42 Monaten angegeben wird (Off 11,2; 13,5) oder mit 1260 Tagen (Off 11,3; 12,6). Es handelt sich um die zweite Hälfte der letzten Jahrwoche aus Daniel 9,27, den Höhepunkt der Drangsalszeit, die große Drangsal Jakobs. Es ist ein tröstender Gedanke, dass Gott die Dauer dieser schrecklichen Zeit schon vorher genau festgelegt hat, sogar in Tagen. Gott bestimmt genau die Zahl der Tage, die dieses Untier wüten darf – nicht einen Tag länger, als Er es ihm gestattet! Und dann wird der Augenblick kommen, wo dieser Herrscher vernichtet wird.

Aber das Gericht wird sich setzen, und man wird seine Herrschaft wegnehmen, um sie zu vernichten und zu zerstören bis zum Ende. Und das Reich und die Herrschaft und die Größe der Königreiche unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen der höchsten Örter gegeben werden. Sein Reich ist ein ewiges Reich, und alle seine Herrschaften werden ihm dienen und gehorchen“ (Dan 7,26.27).

Hier werden wenig zusätzliche Einzelheiten gegeben. Wir hatten schon gesehen, dass es sich hier um die irdische Szene unter dem ganzen Himmel handelt, es sind irdische Heilige, die das Reich in Besitz nehmen werden.

„Bis hierher das Ende der Sache. Mich, Daniel, ängstigten meine Gedanken sehr, und meine Gesichtsfarbe veränderte sich an mir; und ich bewahrte die Sache in meinem Herzen“ (Dan 7,28).

Die tiefe Ergriffenheit und Beängstigung blieben bei Daniel auch nach der Deutung durch den Engel bestehen. Er hatte jetzt verstanden, dass sein Volk, das er liebte, an diesen Entwicklungen beteiligt sein wird und durch diese ganze Zeit hindurchgehen muss. Das machte ihn innerlich zutiefst betroffen. Eine ähnliche Herzenshaltung der Betroffenheit über das, was ihrem Volk widerfährt, finden wir auch bei Jeremia (Jer 4,19) und Hesekiel (Hes 3,14.15).

Wie ist das bei uns, wenn wir nun diese prophetische Schau vor uns gehabt haben und an die Menschen denken, die uns durch Nachbarsc haft oder Beruf nahestehen? Sind wir in unseren Gedanken aufgewühlt, wenn wir an das Teil denken, dem sie entgegengehen? Wir dürfen Weissagung nicht nur so lesen, dass sie bemerkenswert und interessant für uns ist, sondern wir müssen innerlich davon erfasst werden, wie wir das hier bei Daniel finden.

Wir betrachten hier in aller Seelenruhe die schrecklichsten Gerichte, aber wir müssen nicht die Angst haben, dass wir da einmal hindurchgehen müssen. Die Versammlung wird entrückt werden, ehe diese Zeit anbricht, ehe die Stunde der Versuchung kommt. Die Brüder Daniels werden da hindurchgehen müssen – wir warten auf den, der gesagt hat: „Ich komme bald“ (Off 22,20)!

1 M.Tapernaux: Einführung in das Studium der Prophetie, Seite 211: „Indessen sind es nicht nur die Völker, die einst innerhalb der Grenzen des alten Römischen Reiches gelebt haben, die das künftige Reich bilden werden, sondern bestimmt auch alle jene, welche daraus hervorgegangen sind und die gleiche Zivilisation vertreten, wie z.B. die Völker der englischen und der neolateinischen Sprache auf der ganzen Welt (Nord- und Südamerika, Australien etc.) …“

2 http://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/petition-166-stgb