Und ich erhob meine Augen und sah: Und siehe, vor dem Fluss stand ein Widder, der zwei Hörner hatte; und die zwei Hörner waren hoch, und das eine war höher als das andere, und das höhere stieg zuletzt empor. Und ich sah den Widder nach Westen und nach Norden und nach Süden stoßen, und kein Tier konnte vor ihm bestehen, und niemand rettete aus seiner Hand; und er handelte nach seinem Gutdünken und wurde groß“ (Dan 8,3.4).

Der Widder mit den zwei Hörnern in diesen beiden Versen ist ein Bild des Reiches der Könige von Medien und Persien (Vers 20). Auch hierin haben wir wieder eine völlige Übereinstimmung mit dem Bild in Kapitel 2 und 7, wo auch das zweite Weltreich der Meder und Perser als ein geteiltes oder zweifaches Reich vorgestellt wird, ein Reich, aber mit zwei Schwerpunkten: das Standbild hatte zwei Arme, und der Bär richtete sich auf einer Seite auf, und hier ist das eine Horn höher als das andere. Das deutet auf die Oberhand der Perser in diesem Reich hin. Ein Widder in Gottes Wort ist oft ein Hinweis auf Führungspersönlichkeiten; Fürsten, Herrscher, die eine gewisse Autorität ausüben (Hes 39,18).

Und während ich achtgab, siehe, da kam ein Ziegenbock von Westen her über die ganze Erde, und er berührte die Erde nicht; und der Bock hatte ein ansehnliches Horn zwischen seinen Augen. Und er kam bis zu dem Widder mit den zwei Hörnern, den ich vor dem Fluss hatte stehen sehen; und er rannte ihn an im Grimm seiner Kraft. Und ich sah, wie er zu dem Widder gelangte. Und er erbitterte sich gegen ihn, und er stieß den Widder und zerbrach seine beiden Hörner; und in dem Widder war keine Kraft, um vor ihm zu bestehen. Und er warf ihn zu Boden und zertrat ihn, und niemand rettete den Widder aus seiner Hand“ (Dan 8,5–7).

Der Ziegenbock ist die erste westliche Macht, die nach Osten vorgestoßen ist. Wenn hier gesagt wird, dass er die Erde nicht berührte, dann beschreibt das die Schnelligkeit dieses militärischen Vorrückens, er fliegt gleichsam über die Erde, ohne sie zu berühren. Diesen Gedanken der Geschwindigkeit hatten wir auch schon in dem Bild des griechischen Reiches in Daniel 7,6 gesehen: ein Leopard mit vier Vogelflügeln. Die griechische Macht zerstört das Medo-persische Reich, der Bock stößt und lässt nichts übrig. Aus der Geschichte wissen wir, dass Alexander der Große nur drei Jahre brauchte, bis dieses ganze Reich unterworfen war, innerhalb von zehn Jahren hatte er praktisch die ganze westliche Welt unterworfen. Es fällt auf, dass hier die Beweggründe für dieses Anrennen des Griechischen Reiches gegen das Medo-persische Reich genannt werden: Grimm und Erbitterung. Hier finden wir auch wieder Gründe in der Geschichte. Die Perser hatten das Volk der Griechen immer wieder durch wiederholte Überfälle gereizt und erbittert. Zu diesem verletzten Nationalstolz der Griechen hatte sicher auch beigetragen, dass die Perser die Götter der Griechen dabei beleidigt hatten. Und als jetzt Alexander der Große das Griechische Reich zu seiner Blüte führte, nutzte er diese Gelegenheit zu einer wütenden Rache.

Ohne dass wir damit die Prophetie auslegen, zeigt uns doch die Geschichte, wo und inwieweit die prophetische Vorhersagen bereits eingetroffen sind. In der Schule haben wir früher gelernt: „333 – Issos-Keilerei“; die Schlacht bei Issos war die entscheidende Schlacht zwischen dem griechischen und dem persischen Weltreich. Das war der Augenblick, wo der Bock allein durch seine Angriffskraft den Widder zu Boden stieß.

Und der Ziegenbock wurde über die Maßen groß. Und als er stark geworden war, zerbrach das große Horn, und vier ansehnliche Hörner wuchsen an seiner Statt nach den vier Winden des Himmels hin. Und aus dem einen von ihnen kam ein kleines Horn hervor; und es wurde ausnehmend groß gegen Süden und gegen Osten und gegen die Zierde. Und es wurde groß bis zum Heer des Himmels, und es warf vom Heer und von den Sternen zur Erde nieder und zertrat sie“ (Dan 8,8–10).

Die Voraussetzungen für den König des Nordens werden also dadurch geschaffen, dass diese westliche Macht nach Osten dringt und dort seine Wirksamkeit geltend macht. Der erste und größte Fürst dieses Reiches, Alexander der Große, hatte ja nur ein sehr kurzes Leben, wir haben das in Daniel 7,6 schon berührt. Nach seinem Tod war das Reich ohne Führung und es gab großen Streit unter seinen Generälen, die sich einige Jahre in den sogenannten Diadochen-Kämpfen (Diadochen = Nachfolger) untereinander bekriegten. Diese Kriege dauerten eine ganze Reihe von Jahren, bis ca. 300 v.Chr. die vier zerteilten Reiche entstanden, die hier in den vier Hörnern angedeutet werden:

  • Kassander erwarb sich Mazedonien; schon nach ca. 100 Jahren dem römischen Reich zugefallen

  • Lysimachus erwarb sich Kleinasien und Thrakien; auch schon bald dem römischen Reich zugefallen

  • Seleukas erwarb sich Persien (Syrien) bis nach Palästina – hieraus kommt der künftige König des Nordens

  • Ptolemäus erwarb sich Ägypten – hieraus kommt der künftige König des Südens

Aus diesen vier Reichen treten also später zwei wieder besonders hervor, einmal das Seleukiden-Reich und dann das Ptolemäische Reich. Diese beiden Reiche haben als der König des Nordens und der König des Südens noch einmal eine besondere Beziehung zu dem Volk der Juden.

Wir können diese Ereignisse heute in den Geschichtsbüchern nachlesen, müssen aber bedenken, dass sie hier in diesem Gesicht etwas mehr als 200 Jahre vorher vorausgesagt wurden! Zum Ende dieses Kapitels müssen wir auch wieder berücksichtigen, dass auch dieses Gesicht eine doppelte Erklärung hat. Es gibt hier aus der Sicht von Daniel eine nahe Erklärung dieses Gesichtes, und es gibt auch eine Erfüllung, die sogar für uns heute noch zukünftig ist. So ist es übrigens fast überall in den Weissagungen über die Feinde Israels, wie z.B. Babylon, den Assyrer u.a. Sie finden ihre nahe Erfüllung in den historischen Angriffen der Assyrer gegen das damalige Israel und der Babylonier gegen das damalige Juda – aber sie enthalten immer auch Perspektiven auf zukünftige Geschehnisse. Sowohl Assyrien als auch Babylon wird noch einmal auftreten gegen dieses Volk, nur wird in der Zukunft erst Babel gerichtet werden und dann Assyrien.

Es fällt noch ein kleiner, aber wichtiger Unterschied auf, der wieder einmal zeigt, wie genau Gott Sein Wort schreibt. In Vers 4 wird im Blick auf den medo-persischen Herrscher gesagt, dass er groß wurde; in Vers 8 wird im Blick auf den griechischen Herrscher gesagt, dass er über die Maßen groß wurde. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass das Reich Alexanders des Großen viel ausgedehnter war als das des Kores.

Interessant ist die Ausdrucksweise am Ende von Vers 9, dass sich dieser König des Nordens – erst Antiochus Epiphanes (175 v.Chr. – 164 v.Chr.), der aus dem Reich der Seleukiden hervorkam, und später der Assyrer – gegen Süden (Ägypten) und gegen Osten (Mesopotamien) und gegen die Zierde richtet. Eine wunderbare Bezeichnung Gottes für das Land Israel (Hes 20,6.15; Dan 11,16.41.45). Gott hatte dieses Land erspäht, Er hatte unter allen Ländern der Erde dieses Land für Sein Volk auserwählt, beständig sind Seine Augen darauf gerichtet (5. Mo 11,11.12), für Ihn ist es der Nabel der Erde (Hes 38,12). Der Mensch will nicht akzeptieren, dass Gott sich ein Volk ausersehen hat und ein Land für dieses Volk, das doch das geringste unter allen Völkern ist (5. Mo 7,7). Aber Gottes Meinung darüber ist, dass es die Zierde von allen Ländern ist, auch in Tagen, wo alles verdorben ist durch die Untreue des Volkes! Hier in Daniel 8 ist dieses Volk „Lo-Ammi“ – Nicht mein Volk (Hos 1,9), und doch sieht Er es so, als wäre es noch Sein Volk. Gott sieht immer noch um der Liebe zu den Vätern willen dieses Volk als Seinen Augapfel (5. Mo 32,10; Sach 2,12) an und hat Sein Auge auf das Land der Zierde gerichtet – wunderbare Gnade bei all dem Ernst wegen der Untreue des Volkes!

Dort wird einmal Jerusalem die Hauptstadt der ganzen Welt sein, von dort wird einmal die Regierung über die ganze Welt ausgehen; alle Völker werden jedes Jahr da hinaufziehen zu den Festen. Dagegen richtet sich jeder Widerstand des Teufels und der ganzen Welt – und doch wird es zustande kommen, weil Gott Seine Hand darauf gelegt hat. Und wir sind in unseren Tagen Zeugen davon, dass Sein Volk – wenn auch noch im Unglauben – wieder zurückkehrt in dieses Land. Gott gibt Seine Gedanken nicht auf und Er kommt zu Seinem Ziel!

Das Heer des Himmels ist also das Volk, das sich im Land befand, das aber in einem schlechten und bösen Zustand war; trotzdem werden sie äußerlich als mit Gott in Verbindung stehend gesehen. Als Sterne hätten sie eigentlich Licht verbreiten sollen, aber sie waren in einem schlechten Zustand und werden dementsprechend gerichtet. In Daniel 7,25 hatten wir gesehen, dass der römische Herrscher die Heiligen der höchsten Örter vernichten wird; da hatte es sich um treue Märtyrer gehandelt, die sich vor dem Bild des Tieres nicht niedergebeugt hatten. Hier ist die Situation leider eine ganz andere; hier geht es um solche, die in einem niedrigen und bösen Zustand sind, und ihnen begegnet Gericht durch das kleine Horn, den König des Nordens. Gott benutzte den Assyrer als Seine Geißel zur Züchtigung Seines Volkes.

(Auch bis zum Fürsten des Heeres tat er groß; und er nahm ihm das beständige Opfer weg, und die Stätte seines Heiligtums wurde niedergeworfen. Und eine Zeit der Mühsal wurde dem beständigen Opfer auferlegt, um des Frevels willen.) Und er warf die Wahrheit zu Boden und handelte und hatte Gelingen. Und ich hörte einen Heiligen reden; und ein Heiliger sprach zu jenem, der redete: Bis wann geht das Gesicht vom beständigen Opfer und vom verwüstenden Frevel, dass sowohl das Heiligtum als auch das Heer zur Zertretung hingegeben ist? Und er sprach zu mir: Bis zu 2300 Abenden und Morgen; dann wird das Heiligtum gerechtfertigt werden“ (Dan 8,11–14).

Der Fürst des Heeres ist Gott selbst, JAHWE, der Gott des Volkes Israel. Es heißt hier nicht, dass er sich gegen Gott stellte, sondern dass er bis zu ihm großtat, d.h. dass er sich Gott gleichmachte. Er hatte sich selbst den Namen gegeben Theos Epiphanes = der göttlich Erscheinende oder der erscheinende Gott. Dieser Mann nahm Gott Sein Opfer weg. Die Opfer werden hier nicht als die Opfer Israels bezeichnet, sondern als Gottes Opfer. Das, was dieser Mann tat, richtete sich direkt gegen Gott selbst. Und auch das Heiligtum ist und bleibt das Heiligtum Gottes. Auch wenn der ganze Opferdienst verderbt war und die Herrlichkeit Gottes den Tempel Gottes verlassen hatte, wird der Tempel doch immer wieder noch Tempel Gottes genannt. Es ist Sein Tempel, Sein Heiligtum! Und die Juden waren auch noch das Heer Gottes, obwohl sie als Volk keine wirkliche Beziehung mehr zu Gott hatten.

Hier wird uns also gezeigt, dass diese Verwüstung des Heiligtums und die Mühsal der Opfer wegen des niedrigen moralischen Zustandes unter dem jüdischen Volk – „um des Frevels willen“ – geschah. Das beständige Opfer wurde in völligem Unglauben durch das Volk dargebracht, es war nichts, was Gott überhaupt noch anerkennen konnte. Aber wenn diese Dinge angegriffen wurden, dann zeigt Gott, was für einen sie eigentlich Wert für Ihn besitzen.

Die Naherfüllung in diesem kleinen Horn ist also Antiochus Epiphanes, der die Juden heftig drangsalierte; er plünderte Jerusalem und schändete den Tempel, und die Geschichte berichtet, dass er sogar Schweine auf dem Altar der Juden opferte. Ein unreiner Mann entweihte und verunreinigte diese heilige Stätte, so dass ein treuer Jude dort gar nicht mehr hineingehen konnte! Dies führte zu den Makkabäer-Aufständen ca. 168 v.Chr. Aber die eigentliche Erfüllung dieses Geschehens geht auf die Zeit des Endes.

Wie die Anmerkung zeigt, ist Vers 12 ist sehr schwer zu übersetzen. Deutlich wird, dass es im Grunde eine Zuchthandlung Gottes an dem untreuen Volk der Juden ist, dass diese Mühsal an dem beständigen Opfer durch diesen Mann gebracht werden darf. Die Wahrheit zu Boden werfen bedeutet, das, was wahr und gerecht ist, zu erniedrigen; und es ist sehr ernst, dass dieser Mann dabei Gelingen hat, um das Gericht Gottes an Seinem Volk auszuführen.

Wir müssen beachten, dass das, was hier in Vers 11 und 12 als Naherfüllung durch das kleine Horn, den Antiochus Epiphanes, geschieht, in der zukünftigen Erfüllung nicht durch den König des Nordens, den Assyrer (das kleine Horn), getan wird, sondern gemeinsam durch das Haupt des Römischen Reiches und den Antichristen. Was hier geschieht, ist in gewissem Sinn ein Muster zukünftiger Gottlosigkeit, eine gewisse Parallelität in der Bösartigkeit, die hier aber nicht im Vordergrund steht. Es geht in diesem Kapitel ja nicht um den Antichristen, sondern historisch um Antiochus Epiphanes und prophetisch um den König des Nordens, den Assyrer. Außerdem sind es hier Angriffe von außen gegen Israel, und das Handeln des Antichristen geschieht von innerhalb Israels aus. Antiochus ist also kein Vorausbild des Antichristen.

In Vers 13 haben wir praktisch eine Überschrift über dieses Kapitel: Es ist das Gesicht vom beständigen Opfer und vom verwüstenden Frevel; und in Vers 26 wird es das Gesicht von den Abenden und von den Morgen genannt, also von den fehlenden Opfern. Das sind die Hauptgesichtspunkte Gottes in diesem Teil der Weltgeschichte. Er beurteilt das Geschehen nach dem, was Ihm gehört und was Ihm wichtig ist. Es reden hier Heilige miteinander über diese Dinge, es handelt sich um Heilige des Himmels. „Bis wann“ oder „Wie lange“ ist eine charakteristische Frage des Frommen (Ps 74,10): Bis wann soll das Böse währen, bevor Gott wieder Seine Rechte antritt? Der Glaube kann nicht ertragen, dass das Böse dominiert (Jes 6,11).

Die 2300 Abende und Morgen dürfen nicht verwechselt werden mit den 1260 Tagen, der zweiten Hälfte der Drangsalszeit. Wenn von dieser zweiten Hälfte der 70. Jahrwoche Daniels (Dan 9,27) gesprochen wird, dann wird es bezeichnet als 3½ Jahre, 42 Monate oder 1260 Tage. Hier haben wir jedoch eine andere Zahl, es sind 1150 volle Tage, aber wenn es um das Aufhören der Opfer geht, zählt Gott jedes einzelne Opfer, das Ihm entzogen wird (vgl. 2. Mo 29,38 ff.). Diese 1150 Tage sind ungefähr 3 Jahre und 2 Monate, und das ist wohl ein Hinweis auf die Zeitspanne der eigentlichen Tempelverunreinigung durch Antiochus Epiphanes in Jerusalem. Würden die 2300 Abend-Morgen als einzelne Tage gezählt, wäre das eine Zeitspanne von ungefähr 6½ Jahren, was sich historisch bei Antiochus Epiphanes decken würden mit der Gesamtzeit seiner Invasion. Für beide Arten der Zählung gibt es also in der Zeitdauer des Antiochus eine historische Erklärung, und wir sollten es offenlassen und nicht nur eine als richtig ansehen. Auf jeden Fall ist es aber eine abgeschlossene Zeitdauer, danach wird das Heiligtum gerechtfertigt werden, d.h. gereinigt und geheiligt werden.