Und es geschah, als ich, Daniel, das Gesicht sah, da suchte ich Verständnis darüber; und siehe, da stand etwas vor mir wie die Gestalt eines Mannes. Und ich hörte eine Menschenstimme zwischen den Ufern des Ulai, die rief und sprach: Gabriel, gib diesem das Gesicht zu verstehen! Und er trat an den Ort, wo ich stand; und als er herzutrat, erschrak ich und fiel nieder auf mein Angesicht. Und er sprach zu mir: Hör zu, Menschensohn, denn das Gesicht ist für die Zeit des Endes! Und als er mit mir redete, sank ich betäubt auf mein Angesicht zur Erde. Er aber rührte mich an und stellte mich auf meinen früheren Standort. Und er sprach: Siehe, ich will dir kundtun, was in der letzten Zeit des Zorns geschehen wird; denn es geht auf die bestimmte Zeit des Endes“ (Vers 15–19)

Die folgenden Verse können wie folgt eingeteilt werden:

  • Vers 15–22: Daniel bittet um Aufklärung, und in den Versen 19–22 gibt ihm der Engel Gabriel dieses Gesicht zu verstehen

  • Vers 23–26: was hier geschildert wird, ist auch aus unserer heutigen Sicht noch zukünftig; es ist die Zeit, kurz bevor der Herr Jesus sichtbar auf diese Erde zurückkommt;

  • Vers 27: die Reaktion Daniels auf das, was er gesehen hat und erklärt bekommen hat

Wir sollten uns ein Beispiel daran nehmen, wie Daniel mit dem umgeht, was Gott ihm in dem Gesicht gezeigt hatte. Das Gesicht von Daniel 7 hatte er in seinem Herzen bewahrt (Dan 7,28). Hier bei diesem Gesicht hatte er Acht gegeben (Vers 5), und jetzt sucht er Verständnis darüber. Das ist eine gute Haltung dem gegenüber, was Gott uns mitteilt. Wir brauchen Aufmerksamkeit, Interesse und auch Energie, um diese prophetischen Mitteilungen Gottes gut zu verstehen. Und wenn Gott das bei uns sieht, dann antwortet Er auch auf dieses Interesse, wie hier bei Daniel. Der Engel Gabriel, der jetzt zu ihm kommt, redet mit Menschenstimme, also verständlich.

Gabriel war sicher ein mächtiger Engel, der vor Gott steht (Lk 1,19), Erzengel wird er aber nicht genannt. Sein Name bedeutet der Starke Gottes. Er ist ein Bote der Gnade, der typischerweise mit Zuwendung für das Volk Israel in Verbindung steht. Als er mit Daniel redete, sank dieser betäubt zu Boden, wird aber von dem Engel wieder aufgerichtet. Ihm wird gesagt, dass dieses Gesicht auf die bestimmte Zeit des Endes geht; ein Ausdruck, der klar macht, dass dieses Gesicht nicht nur eine geschichtliche Erfüllung in Antiochus gefunden hat, sondern dass es mit der Zeit des Endes, der Zeit bevor der Sohn des Menschen zurückkommen wird, zu tun hat.

Die Zeit des Endes ist eine Endzeit, in der Gott in ganz bestimmter Weise handeln wird. Er wird in dieser Zeit Seinen Zorn ausüben, zunächst im Gericht über Sein eigenes Volk (Jes 5,24+25; 10,24+25). Der Hauptgrund wird der Gräuel am heiligen Ort sein, den zwar der Antichrist aufstellen wird, der aber von der Masse des Volkes als religiöser Führer erwählt worden war (Dan 9,27). Aber dieser Zorn gegen Sein eigenes Volk wird ein Ende haben und sich wenden gegen die Feinde Seines Volkes. Gott wird Seinen Zorn nicht ständig nähren; und wenn Er jetzt Assur als Rute Seines Grimmes benutzt, dann wird Er diese Rute auch einmal weglegen.

“Der Widder mit den zwei Hörnern, den du gesehen hast, das sind die Könige von Medien und Persien. Und der zottige Ziegenbock ist der König von Griechenland; und das große Horn, das zwischen seinen Augen war, ist der erste König. Und dass es zerbrach und vier an seiner Statt aufkamen: Vier Königreiche werden aus dieser Nation aufstehen, aber nicht mit seiner Macht“ (Vers 20–22)

Ein kurzer Rückblick und eine Erklärung der Verse 4–7, wer der Widder und wer der Ziegenbock ist, und ein Hinweis auf die vier Diadochen-Reiche, die nach dem Tod Alexander des Großen (das große Horn des Ziegenbocks) aus dem griechischen Reich hervorgegangen sind.

Und am Ende ihres Königtums, wenn die Frevler das Maß vollgemacht haben werden, wird ein König aufstehen mit frechem Angesicht und ränkekundig. Und seine Macht wird stark sein, aber nicht durch seine eigene Macht; und er wird erstaunliches Verderben anrichten und Gelingen haben und handeln; und er wird Starke und das Volk der Heiligen verderben. Und durch seine Klugheit wird der Trug in seiner Hand gelingen; und er wird in seinem Herzen großtun und unversehens viele verderben. Und gegen den Fürsten der Fürsten wird er sich auflehnen, aber ohne Menschenhand zerschmettert werden“ (Vers 23–25)

Hier geht es um das Ende des griechischen Reiches. Bei den Frevlern handelt es sich um dieselben, die auch in Vers 12 diese Frevel begangen hatten, das eigenwillige, abtrünnige Volk Israel, das keine wirkliche Beziehung mehr zu ihrem Gott hatte. Der König frechen Angesichts und ränkekundig wird die prophetische Erfüllung dessen sein, was der Antiochus Epiphanes vorgebildet hat, es ist der künftige König des Nordens, der aus Syrien kommend einen bösen Einfluss in Palästina ausüben und das Land angreifen und überfluten wird. Syrien ist das Nachbarland Israels und ist übrigens nicht gleichzusetzen mit Assyrien, in der Bibel haben die beiden Reiche völlig unterschiedliche Namen. Beide kamen aus dem Norden von Israel, aber als Länder sind sie nicht identisch. In der Bibel ist Assyrien = Aschur, und Syrien immer = Aram (Mesopotamien). Das alte assyrische Reich vor dem babylonischen Weltreich war ein mächtiges Reich und hatte einen großen Einfluss; es ist das Reich, welches zur Zeit Hiskias Jerusalem belagert hatte (Sanherib). Von vielen Historikern wird es auch als das erste Weltreich bezeichnet, aber nach dem biblischen Verständnis über die Zeiten der Nationen ist es kein Weltreich in diesem Sinn. Wenn wir heute von dem König des Nordens sprechen, kommt er aus dem deutlich kleineren Reich Syrien (der nördliche Teil des griechisch-mazedonischen Reiches) nördlich von Israel, das aus dem griechischen Reich hervorging1.

Dieser König des Nordens wird in Dan 9,27 der Verwüster genannt; er wird nicht nur hinterlistig und mit geistiger Raffinesse handeln, sondern auch okkulte Praktiken verbreiten. Zu beachten ist, dass er nicht durch seine eigene Macht stark sein wird. Wer wird ihm seine Macht verleihen? In erster Linie als Inspirator ist es sicherlich Satan, der ihm diese Macht verleiht; aber es kann auch noch an eine dahinter stehende irdische und politische Macht gedacht werden, nämlich an den König des äußersten Nordens, Russland. Russland unterstützt schon heute Syrien, ein Vorausschatten von dem, was in der Zeit des Endes noch viel schlimmer stattfinden wird. Dieser König des Nordens wird Starke und das Volk der Heiligen verderben; wie in Dan 7,27 eine Bezeichnung für das Volk Israel (vgl. Vers 10 Heer des Himmels).

Er wird also gerade die Tatsache, dass sich das Volk Israel im Unglauben befindet, dass Frevel in Israel ist, dazu benutzen, um seine Macht auszubreiten. Er wird sie geradezu verfestigen auf ihrem Weg des Unglaubens. In Vers 12 hatten wir gesehen, dass das kleine Horn die Wahrheit zu Boden werfen wird. In dieser Zeit wird die Lüge vorherrschend sein. Ränkekundig meint so viel wie dunkle, rätselhafte und schwierige Aussprüche, eine Verbindung mit der bösen, unsichtbaren Welt, die dieser Mensch ausnutzen wird. Ist das heute nicht auch so? Wenn der Mensch im Unglauben lebt, öffnet er sich für jedes okkulte Angebot. Wer dem Glauben die Tür versagt, dem steigt der Aberglaube durchs Fenster (J.F.Gellert). Wo der Glaube keinen Raum hat, wird der Teufel diesen Raum mit seinen Gedanken ausfüllen. Es wird eine schreckliche Zeit sein, wenn die Wahrheit zu Boden geworfen werden wird; und diese Zeit wirft ihre Schatten voraus in unseren Tagen, wo man die Ohren von der Wahrheit abkehrt und sich zu den Fabeln hinwendet (2. Tim 4,4).

Wo hier im Deutschen unversehens übersetzt wird, übersetzt W.Kelly by peace, durch Frieden. Der König des Nordens wird durch verfänglichen Frieden viele verderben. Dieser Mann der Ränke und des Truges wird die Masse in Sorglosigkeit wiegeln, in eine scheinbare Sicherheit; was er als Friede vorstellt, ist gar kein Friede; es ist ein Mittel, um die Menschen unversehens zu verderben. Und er hat Gelingen bei seinem Tun, das wird in diesen Versen wiederholt betont. Darin wird er sich immer weiter bis hin zum Größenwahn steigern und sich dann sogar gegen den Fürsten der Fürsten – Christus, den Sohn des Menschen – auflehnen. Das lenkt den Blick zurück auf Vers 11, wo wir gesehen hatten, dass Antiochus Epiphanes gegen den Fürsten des Heeres groß tun würde.

Dieser Mann ist also ein großer Feind des Volkes Israel. Das ist auch heute schon zu beobachten, ständig sind zwischen Syrien und Israel Konflikte und Spannungen. Die verschiedenen Stellen des Wortes Gottes zeigen, dass dieser Feind listig vorgehen wird und dass er gewalttätig vorgehen wird. Das sind übrigens die beiden uralten Taktiken des Teufels: Verführung durch List und brutale Gewalt. Hier in diesen Versen steht mehr seine List im Vordergrund: frechen Angesichts, ränkekundig, klug, Trug in seiner Hand. Offensichtlich wird es den Feinden aus dem Norden gelingen, durch List und Trug einige aus dem Volk Israel zu verführen. Das wird in der zweiten Hälfte der letzten Jahrwoche Daniels geschehen. Und ganz am Ende dieser Zeit wird es ganz plötzlich und unerwartet einen militärischen Angriff geben. Jes 28 schildert den ersten Angriff, Jes 29 den zweiten Angriff, und in Sach 14 finden wir dann das Ende dieses Feindes.

Um diesen Feind zu besiegen, wird Gott keinen Menschen benutzen (Jes 31,8; 14,24+25), das wird der Herr Jesus selbst tun. Diese Stellen aus dem Propheten Jesaja beziehen sich in erster Linie auf die damalige Situation, wo der Assyrer Sanherib vor den Toren Jerusalems stand, und auch ohne Menschenhand zurückgeschlagen wurde. Auch dieser Assyrer hatte den Herrn verhöhnt (Jes 37,23) und deswegen traf ihn das Gericht. Und er hatte sich auch gegen Gott erhoben (Jes 37,29). Das Gericht traf damals dieses Volk allerdings durch einen Engel, und der König wurde von seinen Söhnen umgebracht.

Aber auch bei seinem zweiten Angriff auf Jerusalem wird er ein plötzliches Ende finden, und niemand wird ihm helfen (Dan 11,45). Was muss das für eine furchtbare Rache sein, wenn Gott Völker unter Seinen Füßen zertritt wie man einen Wurm zertritt! Und Er wird das tun in Seinem Land, genau da wo sie gesündigt haben. In dem Moment, wo er sich erhebt gegen den Fürsten der Fürsten, wird er ohne Menschenhand zerschmettert werden (vgl. Hiob 34,20). Gott lässt ihn eine Zeit lang gewähren, Er benutzt ihn als Zuchtrute für Sein eigenes Volk, und trotzdem wird er für das, was er tut, die volle Verantwortung tragen und dafür das volle Gericht empfangen. Da haben wir wieder die beiden Seiten des Handelns Gottes: Sein Zorn, der sich zuerst gegen Israel wendet, richtet sich dann gegen diese Zuchtrute selbst, wenn der Grimm Gottes gegen Israel zu Ende ist (Jes 10,24+25).

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass alle drei Akteure der Endzeit, das Haupt des römischen Reiches, der Antichrist und auch der Assyrer durch diese Selbstüberhebung, diesen Größenwahn gekennzeichnet sein werden. Und alle drei werden nicht nur ohne Menschenhand, sondern allein durch Mund des Herrn Jesus vernichtet werden (Off 19,15; 2. Thes 2,8; Jes 30,31–33). Der Mund, der einmal ausrufen musste: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, hat alle Macht und Würde, um jeden Widerstand gegen Ihn durch Seinen Mund auf ewig zu brechen!

1 Vgl.: http://www.bibelkommentare.de/index.php?page=dict&article_id=2679

Damaskus war die Hauptstadt des Teiles von Syrien, der oft im Konflikt mit Israel stand. Es war unter der Regierung Davids erobert worden und Salomo unterworfen. Nach der Teilung des Königreiches lehnte es sich jedoch auf und war Israel abermals feindlich gesonnen. Es ging später dann im Assyrischen und im Babylonischen Reich unter. Anschließend ging es an die Perser über und wurde dann Alexander, dem Großen, unterworfen. Nach seinem Tod kam es unter die Herrschaft Seleukos I. Nikators, der Antiochien erbaute und zu seiner Hauptstadt machte.