Gegen Ende der Gefangenschaft der Juden in Babel macht der betagte Prophet Daniel eine außerordentliche Entdeckung. Durch das Studium des Propheten Jeremia versteht Daniel auf einmal, dass das babylonische Reich 70 Jahre nach der Wegführung zu seinem Ende kommen würde (Jer 25,11) und dass die Juden in das Land zurückgeführt würden (Jer 29,10). Während der Niedergang Babels bereits vor seinen Augen stattgefunden hatte, stand die Rückführung der Juden noch aus.

Was uns besonders berührt, ist, dass wir den sicher über 80 Jahre alten Daniel hier bei einem anderen Propheten studieren sehen, den er ohne Frage als heilige Schrift anerkannte (Dan 9,2). Daniel ist dadurch ein Vorbild dafür, ...

  • ... dass jeder Diener, gleich welche Position er im Volk Gottes hat, dankbar das anerkennen soll, was Gott durch andere Diener wirkt;
  • ... dass die Notwendigkeit, das Wort Gottes zu lesen und zu studieren, auch im Alter nicht aufhört;
  • ... dass man die Prophetie nicht verstehen lernt, indem man versucht, die Umstände zu deuten (Daniel verstand nicht aufgrund des Falls Babylons), sondern durch das Wort Gottes.

Darüber hinaus zeigt Daniel eine bemerkenswerte Reaktion auf die Entdeckung, dass die 70 Jahre kurz vor der Vollendung stehen: Nicht Freude ist das Erste, sondern Demütigung, Bekenntnis und Flehen. Er weiß, dass Gottes Erbarmungen an Buße auf Seiten des Volkes geknüpft sind. Und diese Buße sah er in großen Teilen des Volkes nicht. Auch nicht Revolution ist Daniels Reaktion, denn dann hätte er die babylonische Gefangenschaft nicht als gerechte Strafe Gottes akzeptiert. Das wäre letztlich Auflehnung gegen Gott gewesen.

Die Wiederherstellung war kein Verdienst des Volkes, sie hatten überhaupt keinen Anspruch darauf. Es war die Gnade Gottes, deswegen war Demütigung und nicht Jubel oder Revolution die angemessene Haltung. (vgl. Jak 4,10 und 1. Pet 5,6).

Möge das Studium des Propheten Daniel (der Prophetie) auf uns denselben Effekt haben wie das Studium des Propheten Jeremia auf Daniel! Der Bibelausleger William Kelly schreibt dazu: „Wenn das Studium der Prophetie nicht dazu angetan ist, uns ein tieferes Bewusstsein von dem Versagen des Volkes Gottes auf der Erde zu geben, dann verkennen wir – davon bin ich überzeugt – eine ihrer wichtigsten praktischen Bedeutungen. Weil dieses Empfinden nicht vorhanden ist, ist das Erforschen der Prophetie im Allgemeinen so wenig nutzbringend. Es ist oft eher eine Frage von Daten und Ländern, von Päpsten und Königen; obwohl Gott die Prophetie nicht gegeben hat, um den menschlichen Verstand zu trainieren, sondern als Ausdruck seiner Gedanken über unseren moralischen Zustand, so dass alle Prüfungen und Gerichte, die dort beschrieben werden, mit dem Herzen aufgenommen und als die Hand Gottes verstanden werden müssen, die wegen unserer Sünden auf seinem Volk lastet.“