Einleitung zu Daniel 9

In diesem Kapitel 9 nimmt Daniel gegenüber den vorhergehenden Kapiteln eine ganz neue Position ein. Ab Kapitel 2 sehen wir ihn als den Deuter von Seiten Gottes über Träume und Gesichte, die andere gehabt haben. In den Kapiteln 7 und 8 ist er direkter Empfänger von Gesichten und Offenbarungen Gottes, Gefäß von Offenbarungen Gottes. Aber jetzt in Kapitel 9 kommt er in dem Charakter eines Forschers der Heiligen Schrift vor uns; und durch dieses Erforschen wird er ein Fürbitter für das schuldige Volk vor Gott. Wir erkennen darin zwei hervorragende Charakterzüge bei ihm:

  • er liebte das Volk Gottes über die Maßen, obwohl Lo-Ammi darauf geschrieben stand

  • er liebte die zerstörte Stadt Jerusalem, den Ort, wo Gott Seinen Namen hatte wohnen lassen

Es scheint gerade diese Liebe zu seinem Volk und dieser zerstörten Stadt zu sein, die ihn forschen ließ in der Heiligen Schrift des Alten Testaments. Es ist ergreifend, diesen alten Mann zu sehen, wie er sich über das Wort Gottes beugt. Er sucht eine Antwort auf die lange währende Gefangenschaft seines Volkes – und er findet sie!

Wahrscheinlich waren die siebzig Jahre der Gefangenschaft zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz abgelaufen, aber es stand kurz bevor. Die von Daniel gefundenen Stellen im Propheten Jeremia betonen einerseits die Seite der Bestrafung für das Volk Israel (Jer 25,11) und andererseits mehr das Erbarmen Gottes gegenüber Seinem Volk (Jer 29,10). Es muss Daniel tief bewegt haben, dass dieser Zeitpunkt ganz nah bevorstand, und das weckte in ihm das Bedürfnis, sich mit der Sünde dieses Volkes eins zu machen und seine Schmach zu teilen. Er wusste, wenn Gott das Volk zurückführen und wieder segnen will, dann muss es innerlich zubereitet werden und umkehren und seine Sünden bekennen. Er fühlte, dass das Volk nicht in dem Zustand war, um die Segnung der Wendung der Gefangenschaft und des Zurückführens in das Land zu empfangen. Deshalb beugt er sich in einer beispiellosen Art in diesem Gebet in den ersten neunzehn Versen. Möchte die Betrachtung dieses wunderbaren Gebetes uns alle tief beeindrucken, denn in unseren Tagen und in unserer Mitte sieht es auch sehr böse aus, gerade auf sittlichem Gebiet. Wir müssen nicht denken, das beträfe nur andere Gläubige, es ist unser eigener ernster und tief beschämender Zustand!

Es sind insgesamt drei Erweckungen, die zu diesem Ergebnis führten, dass das Volk wieder in das verheißene Land zurückkehren konnte, und alle gehen von Gott aus:

  • zuerst wurde Jeremia von Gott erweckt; Gott gab ihm eine besondere Offenbarung über die Länge der Gefangenschaft in Babylon

  • dann erwählte Gott sich in Daniel einen Mann, der nach Seinem Herzen war und den Er den Vielgeliebten nennt; dieser Mann war in der Kette der Ratschlüsse Gottes eine ganz wichtige Person, weil er als Fürsprecher auftrat für das schuldige Volk

  • und dann erweckte Gott als dritten den Kores, den König der Perser (Esra 1,1+2); der sollte das Werkzeug sein, um die erste Rückführung eines großen Teiles des Volkes nach Palästina zu gewähren

Wir lernen daraus wieder, wie wir schon so oft in diesem Buch gesehen haben, dass letzten Endes Gott es ist, der alles in Seiner Hand hat und die Dinge so lenkt, wie Er es will.

Für eine gewisse Gliederung dieses langen Kapitels kann die folgende Einteilung hilfreich sein:

  • Verse 1–3: die Veranlassung für dieses Gebet Daniels

  • Verse 4–6: Daniel macht sich mit der Schuld und Sünde des Volkes eins

  • Verse 7–15: Daniel rechtfertigt Gott in Seinem Handeln mit dem Volk

  • Verse 16–19: Daniels Bitte um das Erbarmen Gottes

  • Verse 20–27: die Antwort Gottes auf das Gebet Daniels

Diese Reihenfolge ist sehr zu beachten: Zuerst muss die Gerechtigkeit Gottes anerkannt werden, bevor wir Seine Barmherzigkeit anrufen können!

Im ersten Jahr Darius‘, des Sohnes Ahasveros‘, aus dem Geschlecht der Meder, der über das Reich der Chaldäer König geworden war, im ersten Jahr seiner Regierung verstand ich, Daniel, in den Schriften die Zahl der Jahre, bezüglich derer das Wort des Herrn an den Propheten Jeremia ergangen war, dass nämlich 70 Jahre für die Verwüstung Jerusalems vollendet werden sollten“ (Vers 1+2)

Daniel kam nicht durch die Umstände, in denen er sich befand, zu der Einsicht über das nahe bevorstehende Ende der Gefangenschaft, sondern aus dem Studium der Schriften. Das ist im Blick auf prophetische Ereignisse auch für uns ein wichtiger Gedanke: wir müssen nicht historische Zeitereignisse als Anlass nehmen, um die Gedanken Gottes im Blick auf Sein Volk erkennen zu können. Daniel hatte sein Verständnis auch nicht aus den Schriften der Chaldäer gewonnen, in denen er unterwiesen worden war (Dan 1,4), sondern aus den bis dahin bekannten Schriften des Wortes Gottes. Offensichtlich kannte er auch das Gebet Salomos, das dieser bei der Einweihung seines Tempels gesprochen hatte, denn er drückt sich ganz ähnlich aus, wie Salomo es seinerzeit ausgesprochen hatte (1. Kön 8,45–53). Dieses Gebet Salomos übrigens geht zurück auf 5. Mo 30,1–5. Diese Zusammengehörigkeit der bis dahin verfügbaren Schriften kannte Daniel.

Natürlich kann Gott daneben auch äußerliche Anlässe benutzen, um uns anzustoßen. Es ist ja nicht unwichtig, zu sehen, dass dieses Verständnis Daniels genau zu dem Zeitpunkt gereift war, wo der Wechsel zwischen dem babylonischen und dem medo-persischen Weltreich stattfand. Aus der Erklärung, die Gott ihm über den Traum Nebukadnezars in Daniel 2 gegeben hatte, und auch aus der ihm in Daniel 7 gegebenen Schau über die Aufeinanderfolge der vier verschiedenen Weltreiche, musste gerade jetzt bei dem Beginn des zweiten Weltreiches die Frage aufkommen, wie es mit seinem Volk, für das er ein so brennendes Interesse hatte, weitergehen würde. Ein Teil der Prophezeiung Jeremias war also schon in Erfüllung gegangen (Jer 25,12–14), das babylonische Weltreich war von dem medo-persischen Reich dienstbar gemacht worden. Aber das war gar nicht das Hauptinteresse Daniels, ihm ging es um das Volk Gottes und um die Stadt Jerusalem, dass die Verwüstung Jerusalems ein Ende haben würde.

Hinsichtlich der beiden aus dem Propheten Jeremia erwähnten Stellen (Jer 25,11+12; 29,10) ist zu beachten, dass nach Jer 25,1 schon im ersten Jahr der babylonischen Gefangenschaft dieser Hinweis auf die siebzigjährige Dauer der Gefangenschaft gegeben wird. Ganz am Anfang dieser Zeit hatte Gott schon das Ende festgelegt. Die zweite Stelle ist Teil eines Briefes, den Jeremia an die Weggeführten in der babylonischen Gefangenschaft geschrieben hatte (Jer 29,1). Damit hat Gott direkt einen Teil Seiner Schrift Seinem Volk in die Hände gegeben.

Es ist bemerkenswert, mit welchen Worten Daniel über diese 70 Jahre spricht. Es sind 70 Jahre, die für die Verwüstung oder die Trümmer Jerusalems vollendet werden sollten. Er stellt sich unter dieses Handeln Gottes im Gericht an Seinem irdischen Volk. Diese Haltung prägt sein ganzes Gebet. Er anerkannte, dass das Volk das bekommen hatte, was es verdient hatte. Das ist die eine Seite; und auf der anderen Seite wendet sich Daniel deshalb in seiner Fürbitte an die Erbarmungen Gottes (Vers 18). Es ist auch das einzige Kapitel in diesem Buch, in dem Gott als der Herr angesprochen wird. Daniel ist sich der Beziehung Gottes zu diesem Volk wohl bewusst. Aber er hat auch ein Bewusstsein von dem, was Gott in sich selbst ist, deshalb spricht er auch an den Stellen, an denen es angemessen ist, von Ihm als dem Herrn (Adonai), der Autorität besitzt, und dieser Autorität hatte sich das Volk nicht unterworfen.

Ein weiterer Gesichtspunkt bei diesen 70 Jahren Gefangenschaft ist der, dass Gott dieses Gericht schon im Voraus angekündigt hatte für den Fall, dass das Volk Ihm widerstehen würde (z.B. 3. Mo 26,27 ff), und Er beschreibt diese Wegführung aus dem Land damit, dass das Land dann seine Sabbate nachholen würde (Vers 34+43). Und in 2. Chr 36,20+21 kommt Er dann noch einmal auf diese Ausdrucksweise zurück und beschreibt die Dauer dieser Zeit mit 70 Jahren. Geht es uns nicht dabei zu Herzen, dass Gott trotzdem in 3. Mo 26,44 zugesichert hatte, dass Er sie während dieser Zeit nicht verachten und verabscheuen und vernichten würde?

Es ist schon häufig gesagt worden, dass die Zahl von 70 Jahren Gefangenschaft gar nicht korrekt sei, dass die babylonische Gefangenschaft nur 50 Jahre gewährt hätte. Wir müssen dabei aber berücksichtigen, dass es in Jerusalem zur Zeit Nebukadnezars drei Belagerungen und Eroberungen und Wegführungen gab (siehe auch Anhang zur Elberfelder Übersetzung „Das geteilte Reich“). Die erste Wegführung geschah im Jahr 606/605 v.Chr. unter dem König Jojakim, wo ein Teil der Geräte des Tempels und auch ein Teil der Bevölkerung weggeführt wurde. Dann gab es eine zweite Wegführung im Jahr 597 v.Chr. unter König Jojakin; und die dritte Wegführung fand statt im Jahr 586 v.Chr. unter dem König Zedekia und war verbunden mit der Zerstörung des Tempels und der Wegführung des großen Teiles des Volkes. Die Wegführung Daniels gehörte zur ersten Wegführung unter Jojakim, d.h. die Zählung der 70 Jahre begann tatsächlich 606/605 v.Chr.. Und wenn man von da an rechnet, sind es bis zum Ende der Gefangenschaft im Jahr 536 v.Chr. genau 70 Jahre.

Inspiration und der Kanon der Heiligen Schrift

Hier wird zum ersten Mal in Gottes Wort von den Schriften gesprochen. Wir wissen, dass die Bibel, so wie wir sie heute in Händen haben, nicht in einem Zug gegossen worden ist, sondern dass sie über einen Zeitraum von bald 1500 Jahren entstanden ist. Woher wusste Daniel damals, dass die Schriften von Jeremia Heilige Schrift sind? Woher können wir heute eigentlich wissen, was Heilige Schrift ist? Gott sagt uns hier nicht, wie Daniel das anerkannt hat, aber wir sehen, dass er es anerkannt hat. Ein Mann, der selbst inspirierter Schreiber von Gottes Wort war, anerkennt die Schrift eines anderen Juden, die gerade erst wenige Jahrzehnte vorher entstanden war (Jeremia hatte am Anfang und zum Teil während der Gefangenschaft geschrieben). Jeremia hatte Briefe nach Babylon geschrieben (Jer 29,1), es hatte schon Beziehungen zwischen Jerusalem und den im Exil lebenden Juden in Babylon gegeben. Wir sehen, dass ein Schreiber (Daniel) in einer relativ kurzen Zeit nach der Verfassung des Buches Jeremia dieses Buch in die Hand bekommt. Und dieser Schreiber, selbst inspiriert von Gott, achtet es als Heilige Schrift.

Das ist übrigens eines von vier ganz markantes Beispiel dafür, wie der Kanon der Heiligen Schrift entstanden ist: Ein kompetenter Beurteiler (Daniel), der selbst ein inspirierter Schreiber war, sagt von diesem Buch (Jeremia), dass es Heilige Schrift ist, vom Heiligen Geist inspiriert ist. In Jer 26,18 haben wir einen ähnlichen Vorgang. Da erwähnten die Ältesten von Juda, als Jeremia von den Fürsten des Volkes umgebracht werden sollte, den Propheten Micha, der einige Jahrzehnte vorher geweissagt hatte, und sie zitieren aus seiner Weissagung gegen Hiskia und anerkennen ihn als Boten Gottes und damit seine Schrift als inspiriertes Wort Gottes. Die anderen beiden Beispiele finden wir im Neuen Testament: In 1. Tim 5,18 zitiert der Apostel Paulus in einem Atemzug sowohl eine Stelle aus 5.Mose als auch aus dem Lukas-Evangelium und nennt beides die Schrift sagt. Lukas war ein Schreiber, der zur gleichen Zeit wie Paulus selbst schrieb; der begnadete Apostel Paulus anerkennt die Schrift seiner Mitarbeiters Lukas ohne irgendwelche Einschränkungen genauso als Wort Gottes wie die Bücher Mose. Und die vierte Stelle finden wir in 2. Pet 3,15+16, wo Petrus die Briefe des Apostels Paulus als Wort Gottes anerkennt, wenn er alle seine Briefe auf den gleichen Boden stellt wie die übrigen Schriften – die übrigen Schriften sind die Schriften des Alten Testaments. Diese vier Stellen zeigen den Ursprung und den Charakter der Anerkennung von inspirierten Schriften als Gottes Wort.

Das ist ein ganz wichtiger Punkt, weil ja oft gesagt wird, das auf einem Konzil von kirchlichen Würdenträgern festgelegt wurde, was zur Heiligen Schrift gehört und was nicht. Das ist überhaupt nicht der Fall. Die Kanonisierung der Heiligen Schrift geschah also durch kompetente Beurteiler, die von Gott unmittelbar nachdem die Dinge geschrieben worden waren, dazu beauftragt waren, sie als Gottes Wort anzuerkennen – bei den Juden der Teil des Alten Testaments und bei den Christen der des Neuen Testaments. Wer hätte ein Recht, dagegen anzugehen? Diese jeweils zwei Beispiele des Alten Testaments und des Neuen Testaments zeigen, wie alle Schriften sofort anerkannt wurden. Später dann, Anfang des 2.Jahrhunderts, sollten noch weitere Schriften hinzugefügt bzw. vorhandene und anerkannte gestrichen werden. Im 4.Jahrundert dann wurde von mehreren Bischöfen festgestellt und bestätigt, was bis dahin schon immer von allen rechtgläubigen Christen als Bücher des Wortes Gottes anerkannt worden war.

Also in Gottes Wort selbst wird festgelegt, was die Schriften sind. Wie dankbar dürfen wir sein, dass über das, was wir heute als Bibel in der Hand halten, niemals ein fundamentaler Streit existiert hat, selbst nicht von Feinden des Christentums. Gott hat dafür Sorge getragen, dass das bis heute ungeschmälert als Wort Gottes anerkannt und überliefert worden ist! Es ist ein unschätzbares Vorrecht, das Wort Gottes in Händen halten zu dürfen. Paulus hatte schon den Römern geschrieben, dass der große Vorteil der Juden war, dass ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut worden waren (Röm 3,1+2). Bis heute sind sich die Juden dieser Bevorrechtigung, als einzige Nation das Wort Gottes zu besitzen, in keiner Weise bewusst. Heute sind die Schriften uns anvertraut, und wie gehen wir persönlich mit diesem Vorrecht um? Erforschen wir die Schriften voller Ehrfurcht und lassen unser Leben davon lenken und leiten – ohne wenn und ohne aber?