Und ich richtete mein Angesicht zu Gott, dem Herrn, um ihn mit Gebet und Flehen zu suchen, in Fasten und Sacktuch und Asche“ (Vers 3)

Daniel bricht hier nicht in einen begeisterten Jubel aus, als er zu der Erkenntnis gelangt ist, dass die Zeit der Gefangenschaft zu Ende geht. Nein, er erkennt, dass Gottes Handeln mit Seinem irdischen Volk in dieser 70-jährigen Gefangenschaft notwendig war wegen der Schuld, die dieses Volk aufgehäuft hatte. Er macht sich jetzt mit den Zeichen tiefster Trauer und Demütigung eins mit der Schuld dieses Volkes. Eine sehr beispielgebende Haltung auch für unsere Tage!

Drei besondere Kennzeichen werden über die innere Haltung Daniels gesagt: er konzentrierte sich in seinem Gebet auf das Wesentliche, er richtete sein Angesicht zu Gott; sein ganzes Augenmerk war jetzt darauf gerichtet, zu Gott zu reden, und dabei wollte er sich durch nichts ablenken lassen. Er suchte Gott in seinem Gebet, er hatte eine gewisse Erwartungshaltung an seinen Gott; er suchte Hilfe nur da, wo er genau wusste, dass er sie finden konnte. Dass er es mit Gebet und Flehen tat zeigt, dass es von ihm ein intensives Gebet war. Bei Daniel stimmte das Innere mit dem Äußeren überein, seine innere und äußere Haltung passten zusammen. Das hat auch uns etwas zu sagen: man kann nicht flehen in einer entspannten, gemütlichen Haltung. Bei der Betrachtung von Kapitel 6 haben wir vor einem Jahr sehr eindrücklich über das Gebet Daniels gesprochen (Dan 6,11+12). Hat sich dadurch in unserem Gebetsleben etwas verändert? Unsere Gebetshaltung, unsere Gebetsinhalte? Ein Jahr hat uns Gott seitdem noch gegeben – hat sich in dieser Zeit etwas in meinem persönlichen Gebetsleben verändert? Wird sich durch die Betrachtung dieses Kapitels etwas verändern?

Ehe Daniel sich mit den Sünden des Volkes eins macht und diese Schuld bekennt, ist er persönlich in der Verfassung, die dazu nötig ist. Dieser Mann war vor Gott gedemütigt, und er ließ das kundwerden durch das Fasten und durch die Asche, die er auf sein Haupt streute. Er verzichtete auf Speise und Trank. Heute liegt für uns mehr eine geistliche Bedeutung in dem Fasten. Es kommt nicht so sehr auf das tatsächliche Verzichten auf Speisen an, sondern der entscheidende Punkt ist, dass wir innerlich auf alles verzichten (Jes 58,6+7), was uns ablenken könnte, unsere Angelegenheit vor Gott auszubreiten – Verzicht auf Dinge, die wir normalerweise tun dürfen, aber die uns abhalten könnten. Und in dem Sacktuch und der Asche finden wir, dass sich die innere Haltung Daniels dann auch in seinem Äußeren wiederspiegelt.

Eine ganz ähnliche Haltung finden wir auch bei Nehemia, als er hörte, wie erschütternd der Zustand Jerusalems war (Neh 1,4); er setzte sich hin und weinte und trug Leid tagelang. Warum setzte er sich hin? Sind ihm vielleicht die Knie weich geworden vor lauter Leid? Die Belehrung aus der Haltung Nehemias und Daniels für unsere Tage ist die: Ehe wir uns einsmachen können mit Sünde, die in unserer Mitte geschieht, die also unsere Sünde ist, müssen wir vor Gott in einem gebeugten Zustand sein! Wir können das nicht nebenbei tun oder der Form nach, weil das von uns erwartet wird – es muss uns tief demütigen, dann wird der Herr auch uns gebrauchen können.

Diese innere Verfassung und das Herzensinteresse Daniels rufen die ganze Anerkennung Gottes hervor und Er nennt ihn einen Vielgeliebten (Dan 9,23; 10,11) und antwortet sofort auf dieses Gebet (Vers 20). Solche treuen Leute wie auch Nehemia, die in tiefer Betroffenheit die Geschicke Jerusalems und auch des ganzen Volkes Gottes auf dem Herzen tragen, haben die ganze Zustimmung Gottes. Auch bei Esra finden wir die gleichen inneren Erschütterungen, als er feststellen musste, dass nach der Rückführung aus der babylonischen Gefangenschaft und dem Bau des Tempels wieder alte Sünden aufbrachen (Esra 10,1).

Daniel zeigt hier in dieser Fürbitte für das Volk typische Kennzeichen eines Propheten (1. Mo 20,7). Ein Prophet ist nicht nur jemand, dem Gott etwas offenbart und der dann das Sprachrohr Gottes ist; es ist auch das Wesen eines Propheten, für andere zu Gott zu sprechen (vgl. Jer 27,18). Jeremia sagt da praktisch, dass es einen Beweis dafür gibt, ob ein angeblicher Prophet ein echter Prophet ist, nämlich wenn er Fürbitte tut für das Volk. Diese beiden Seiten des prophetischen Dienstes finden wir sehr ausgeprägt bei Samuel; er hatte sowohl für Gott zu dem Volk gesprochen, und er hatte auch für das Volk zu Gott gesprochen.

Und ich betete zu dem Herrn, meinem Gott, und ich bekannte und sprach: Ach, Herr, du großer und furchtbarer Gott, der den Bund und die Güte denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote halten!“ (Vers 4)

Daniel hatte Gemeinschaft mit Gott über das, was er in den Schriften gefunden hatte. Das Untersuchen der Schriften und dann damit im Gebet zu Gott gehen, ist der Schlüssel dazu, weiteres Verständnis über die Wege Gottes zu bekommen! Daniel betete jetzt auch nicht für äußerliches Wohlergehen seines Volkes, es geht ihm um den geistlichen Zustand derer, die zu dem Volk Gottes gehören. Das sollten wir auch einmal im Blick auf unsere Gebete bedenken. Wofür beten wir in unseren Gebetsstunden? Haben wir nicht auch in der Praxis unseres Versammlungslebens manchmal die Notwendigkeit, uns gemeinsam zu schämen und zu beugen vor unserem Gott? Aber wir sollten uns davor hüten, in unseren öffentlichen Gebeten Dinge anzusprechen, die noch gar nicht öffentlich sind! Wir sollten da sehr sorgfältig erwägen, ob es angemessen ist, öffentlich über eine solche Sache zu beten; der geeignetere Ort wäre dann doch die Brüderstunde.

Es ist sehr wichtig, dass dabei erst bei jedem von uns eine persönliche Demütigung vorausgehen muss, bevor es zu einer gemeinsamen Demütigung kommen kann. Einmütigkeit in der Beurteilung einer solchen Sache ist unabdingbar dabei. Wenn wir keine Einmütigkeit darüber haben, ist es kaum möglich, sachlich und mit tiefen Empfindungen darüber zu beten, weil es dann sehr leicht dazu kommt, dass gegeneinander gebetet wird. Wie wichtig ist es dabei, dass wie hier bei Daniel zuallererst das Wort Gottes seine heiligende Wirkung auf unsere Herzen nimmt.

Und so beginnt Daniel sein Gebet mit einem Bekenntnis. Persönlich konnte er für den Zustand seines Volkes nichts, aber er macht es sich zu eigen; er bekennt etwas, was nicht seine eigene Schuld war. Erinnert er uns dabei nicht an unseren Herrn, der sich – sicher in einem weit höheren Maß – auch Schuld zu eigen machte, die nicht Seine Schuld war?

Dieser Mann, der innerlich vielleicht nur mit ganz wenig anderen Gott so nahe stand und ein tiefes Bewusstsein davon hatte, wer Gott war, der spricht Ihn jetzt als den großen und furchtbaren Gott an. Auch bei Nehemia finden wir das gleiche Empfinden und die gleiche Anrede (Neh 1,5). Gottesfürchtige Menschen haben die gleiche innere und äußere Haltung vor Gott, haben ein übereinstimmendes Bewusstsein davon, wer Gott ist: groß – über allem stehend; furchtbar – züchtigend, wo Zucht zu üben ist. Wir wollen nie vergessen, wer Er ist, mit dem wir es zu tun haben! Wir kennen Ihn in dem Herrn Jesus als unseren Vater, aber Er ist und bleibt auch der große und furchtbare Gott, der ein verzehrendes Feuer ist (Heb 12,29).

Diese übereinstimmende Anrede bei Nehemia und Daniel zeigt auch, dass beide gottesfürchtigen Männer die Heiligen Schriften gekannt haben und Ausdrücke benutzten, die schon vorher im Blick auf Gott genannt wurden. In 5. Mo 7,21 finden wir, dass Gott von sich selbst sagt, dass Er in ihrer Mitte ist, „ein großer und furchtbarer Gott“. Es ist ein Ausdruck der Heiligen Schrift, und wir lernen daraus, dass wir auch in unseren Gebeten uns auf das stützen dürfen, was Heilige Schrift ist. Salomo spricht in seinem Gebet bei der Einweihung des Tempels davon, dass Gott „den Bund und die Güte seinen Knechten bewahrt“ (1. Kön 8,23). Wenn das Volk Israel so tief gesunken ist, wie es hier der Fall war, dann lag das nicht an dem Bund Gottes, denn Gott hält Seinen Bund und wird immer danach handeln.

Wir müssen auch beachten, dass sich Daniel hier bewusst ist, gar keinen Anspruch auf die Güte Gottes erheben zu können. Wenn er hier von dem Bund und der Güte Gottes spricht, dann verweist er auf einen Bund mit Bedingungen: er gilt nur solchen, die Gott lieben und die Seine Gebote halten. Das Volk hatte das gerade nicht getan, und Daniel anerkennt hier, dass es keinen gerechten Anspruch auf die Güte Gottes mehr gab.