Herr, nach allen deinen Gerechtigkeiten lass doch deinen Zorn und deinen Grimm sich wenden von deiner Stadt Jerusalem, deinem heiligen Berg! Denn wegen unserer Sünden und der Ungerechtigkeiten unserer Väter sind Jerusalem und dein Volk allen denen zum Hohn geworden, die uns umgeben. Und nun höre, unser Gott, auf das Gebet deines Knechtes und auf sein Flehen; und um des Herrn willen lass dein Angesicht leuchten über dein verwüstetes Heiligtum!“ (Vers 16+17)

Jetzt nimmt Daniel Zuflucht zu Gott und beginnt, für dieses Volk zu beten. Diese Fürsprache Daniels ist rührend. Neben seiner Kühnheit des Glaubens sehen wir auch ein geistliches Verständnis bei ihm, denn noch dem Propheten Jeremia wurde von Gott gesagt, nicht für dieses Volk zu beten (Jer 7,16; 11,14; 14,11). Daniel besaß aber aus den Schriften die feste Überzeugung, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, wieder Fürbitte für dieses Volk tun zu können, die Schriften waren die Grundlage für seine Bitte. Und wofür hat er gebetet? Für die schwierige Situation, in der sich das jüdische Volk im Exil in Babel befand? Für die Rückkehr der Juden nach der 70-jährigen Gefangenschaft in ihr eigenes Land? Er erinnert Gott gleichsam daran, dass Jerusalem Gottes Stadt ist, dass das verwüstete Heiligtum Gottes Heiligtum ist. Und er betet darum, dass Gott jetzt eine Antwort gibt auf diesen elenden Zustand. Er spricht von den Verwüstungen Jerusalems, aber der eigentliche Gegenstand seiner Fürbitte ist, dass die Ehre Gottes wieder hergestellt wird. Das ist wohl der höchste Charakter von Fürbitte! Es geht nicht um die Folgen für das Volk, um den elenden Zustand, in dem sie sich befanden, sondern in erster Linie sollte die Ehre Gottes wieder hergestellt werden. Das ist sehr lehrreich für unser persönliches und auch für unser gemeinsames Gebetsleben als örtliche Versammlung! Wie wenig haben wir oft die Ehre Gottes in unseren Gebeten im Blickfeld.

Das alttestamentliche Jerusalem war der Platz, den Gott erwählt hatte, um Seinen Namen dort wohnen zu lassen. Das ist das Bild des Platzes des Zusammenkommens für uns heute. Es ist der Ort, wo der Herr Jesus Sein Werk vollbracht hat, wo wir heute aufgrund Seines Werkes zusammenkommen, um Gott Lob und Anbetung zu bringen. Es ist der einzige Ort, wo Gott Sein ganzes Volk versammelt sehen will. Damals war es ein geografischer Ort, heute ist es ein geistlicher Ort. Wenn damals auch nicht alle Israeliten an den festgesetzten Zeiten nach Jerusalem hinaufgingen, so waren sie doch darin ein Zeugnis für Israel (Ps 122,4), für ganz Israel, auch für alle die, die es nicht taten. Und das ist heute noch genauso; es gibt nur einen Ort, wo die Einheit des Leibes Christi dargestellt wird – an Seinem Tisch – und das sollten wir nie außer Acht lassen. Wenn wir Seinen Tod verkündigen, sehen wir in dem Brot einerseits ein Bild des ein für alle Mal vollbrachten Opfers des Leibes Christi, aber es ist auch zugleich der Ausdruck des Leibes Christi als der Einheit aller Gläubigen (1. Kor 10,16). Dieser Platz existiert auch heute noch, und wenn es auch in der größten Schwachheit geschieht und wir keinerlei Grund haben, uns dessen irgendwie zu rühmen, wollen wir doch auch noch in diesen letzten Tagen nach Seinen Gedanken daran festhalten.

Daniel spricht jetzt hier von der Stadt Jerusalem, und genau darum geht es dann auch in der prophetischen Schau, die Gott ihm ab Vers 24 gibt. Interessant ist dabei der Wechsel in der Beschreibung der Stadt. Daniel spricht ab Vers 16 zu Gott immer wieder von deiner Stadt Jerusalem und deinem heiligen Berg und deinem Volk; in der Antwort, die er dann durch den Engel Gabriel bekommt, spricht dieser zu Daniel immer von deiner Stadt und deinem Volk. Das Verhältnis wird also umgedreht; für Daniel ist es die Stadt Gottes und das Volk Gottes, für Gott ist es die Stadt Daniels und das Volk Daniels. Etwas Ähnliches finden wir zwischen Gott und Mose in 2. Mo 32,7+11. Wessen Volk war es denn? Lo-Ammi hatte begonnen mit der Zeit Nebukadnezars, Gott hatte sich 70 Jahre zuvor von Seinem Volk zurückgezogen. Aber der Glaube Daniels lässt es sich nicht nehmen, dieses Volk und diese Stadt immer noch als Gottes Volk und Gottes Stadt zu sehen. Auch wir sollten es uns in unseren Tagen des Niedergangs nicht nehmen lassen, die Gläubigen immer als Gottes Volk zu sehen.

Daniel führt in diesen Versen verschiedene Beweggründe an, aufgrund derer Gott zu Gunsten Seines Volkes einschreiten und handeln sollte: nach allen Deinen Gerechtigkeiten, also in Übereinstimmung mit Seinen Gerechtigkeiten (Vers 16), um des Herrn willen (Vers 17), um Deiner vielen Erbarmungen willen (Vers 18), um Deiner selbst willen (Vers 19). Gott sollte im Blick auf Seine eigenen Interessen zu Seinem Ziel mit diesem Volk kommen, damit wirklich Sein Name wieder in Jerusalem geehrt wird.

Jetzt war es so, dass sie allen zum Hohn geworden waren. Und diese Schmach fiel letztlich auch auf den Namen des Herrn. Darüber machte sich Daniel so große Sorgen, wie auch Nehemia in Neh 1,3; 2,17. Redet es nicht auch zu unseren Herzen, dass unser Zustand Anlass gibt, dass wir Hohn und Schmach auf uns bringen, der letztlich auf den Namen des Herrn fällt!

In diesen beiden Versen erkennen wir zwei konkrete Bitten, die beide Bezug auf Jerusalem haben. Daniel betet nur für die Stadt, die Gott mehr liebte als alle Tore Jakobs (Ps 87,2). Alle Gedanken Gottes im Blick auf Sein irdisches Volk konzentrierten sich auf die heilige Stadt Jerusalem, die einzige Stadt der Welt, die Stadt Gottes genannt wird (Ps 46,5; 87,3). Die erste Bitte ist, dass sich der Zorn und Grimm Gottes wenden möchte von der Stadt Jerusalem; und die zweite Bitte ist, dass Gott Sein Angesicht leuchten lassen möchte (vgl. 4. Mo 6,25; Ps 80,4+8+20) über Seinem verwüsteten Heiligtum, dass Er also wieder Seine volle Zustimmung an dem finden sollte, was dort geschah. Es ging Daniel also nicht in erster Linie um die Befreiung des Volkes aus der Gefangenschaft, sondern um ein Ende des Gerichtes und um Wiederherstellung. In gewisser Hinsicht hat es diese Wiederherstellung in der Wiederherstellung des Tempeldienstes unter Serubbabel und Esra auch gegeben, aber die Herrlichkeit Gottes ist nicht mehr in Seinen Tempel zurückgekehrt. Dies wird erst im 1000-jährigen Reich geschehen, wenn der Tempel nach Gottes Gedanken aufgerichtet werden wird.

Neige, mein Gott, dein Ohr und höre! Tu deine Augen auf und sieh die Verwüstungen und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist! Denn nicht um unserer Gerechtigkeiten willen legen wir unser Flehen vor dir nieder, sondern um deiner vielen Erbarmungen willen. Herr, höre! Herr, vergib! Herr, merke auf und handle; zögere nicht, um deiner selbst willen, mein Gott! Denn deine Stadt und dein Volk sind nach deinem Namen genannt“ (Vers 18+19)

Mit seinen eigenen Augen hatte Daniel diese tiefste Schmach Jerusalems gar nicht miterlebt und gesehen. Er selbst war bei der ersten Wegführung unter Nebukadnezar schon nach Babylon gekommen (2. Chr 36,5–7), als die Mauern Jerusalems und der Tempel noch standen; die Zerstörung Jerusalems fand erst ungefähr 20 Jahre später bei der dritten Wegführung statt (2. Chr 36,11–19). Ist es nicht erstaunlich, dass dieser inzwischen alt gewordene Mann dennoch diesen Zustand der Stadt und des Heiligtums so vor seinem geistlichen Auge hatte, obwohl er selbst diese tiefste Schmach der Stadt gar nicht gesehen hatte? Hier sehen wir, was ihn die ganzen Jahre hindurch bewegt hat, was sein Herz zutiefst beschäftigt hat. Und weil Gott diese Herzenshaltung und tiefen Empfindungen Daniels kannte, konnte er auch ungestraft so direkt und unverblümt Gott bitten, Sein Ohr zu neigen und Seine Augen aufzutun.

Müssten wir heute nicht vielmehr beten, dass der Herr endlich mal unsere Augen auftun möchte, damit wir die Verwüstungen Seines Heiligtums mal wirklich wahrnehmen; dass wir endlich mal sehen, in welchem Zustand wir wirklich sind? Möchte der Herr uns ein tiefes Empfinden dafür schenken, in welchem Zustand wir uns befinden!

Daniel kann von seinen Gerechtigkeiten sprechen, in Hes 14,14 wird das sogar von Gott bestätigt, aber das sollte nicht der Beweggrund zum Einschreiten Gottes sein. Er hatte ein tiefes Bewusstsein davon, dass er nur um des Herrn willen und um Seiner vielen Erbarmungen willen etwas erwarten und erbitten konnte.

Ähnlich wie Nehemia in Neh 1,11 setzt Daniel zumindest voraus, dass es außer ihm noch andere Treue gibt, wenn er sagt: „Wir legen unser Flehen vor dir nieder“. Das ist ein sehr wichtiger Grundsatz. Elia hatte die Gesinnung leider nicht offenbart, wie wir gesehen haben, er meinte, er sei der einzige. Daniel und Nehemia offenbaren hier eine Gesinnung der Demut und der Weite des Herzens, in diesen tiefen persönlichen Übungen zu glauben und zu hoffen, dass auch andere noch genauso empfinden. Wahrscheinlich haben sie beide keine weiteren Treuen gekannt, aber sie haben vorausgesetzt, dass es noch andere geben würde. Wir denken dabei an den Grundsatz aus 2. Tim 2,21+22, wo wir ermahnt werden, uns zu reinigen von den Gefäßen zur Unehre und nach Gerechtigkeit zu streben mit denen, die den Namen des Herrn anrufen aus reinem Herzen. Auch wir dürfen nicht davon ausgehen, dass wir die einzigen sind; wir dürfen davon ausgehen, dass es noch andere gibt, die den Namen des Herrn anrufen – ob wir sie kennen oder nicht. Dieser Gedanke macht uns demütig und macht unser Herz weit für die Gedanken Gottes!

Trotz aller Kühnheit des Glaubens bei Daniel legt Daniel jetzt in einer sehr schönen Haltung diese Sache vor Gott hin; er überlässt die Angelegenheit dem, bei dem sie am besten aufgehoben ist, weil er Seine vielen Erbarmungen kennt.

Was bedeutet es, dass Jerusalem und das Volk nach dem Namen Gottes genannt werden? Sowohl die Stadt als auch das Volk gehörten Gott. Gott hat gesagt, dass es Sein Volk sei (2. Mo 2,10; 5,1 u.a.), und dass es Sein Heiligtum sei, die Stadt Gottes (Ps 46,5 u.a.) worin Er wohnt. Und weil das Volk und die Stadt Ihm gehört, werden sie nach Seinem Namen genannt. Er hat das volle Anrecht auf dieses Volk, weil Er es erlöst hat durch das Passah-Lamm und aus Ägypten herausgeführt hat. Im Neuen Testament werden auch wir Gläubige der Haushaltung der Gnade Volk Gottes genannt (1. Pet 2,10; Tit 2,14; Apg 15,14).