Wir leben in einer Welt und in einer Zeit, die durch Misstrauen charakterisiert ist. Mehr und mehr müssen wir feststellen, dass auf allen Gebieten das gegenseitige Vertrauen verloren gegangen ist: sowohl bei den Völkern als auch bei den einzelnen Menschen. In der Gesellschaft, im Umgang mit Freunden und Glaubensgeschwistern, ja selbst in familiären Beziehungen findet sich Misstrauen, das jede Beziehung untergräbt. So sollte es aber nicht sein, vor allem nicht bei Kindern Gottes. Der Apostel Paulus ist, was Liebe und Vertrauen betrifft, ein nachahmenswertes Beispiel. Durch den Heiligen Geist geleitet, redete er von Vertrauen, doch er redete nicht nur davon – er zeigte Vertrauen im Umgang mit seinen Mitgläubigen. Sein Vertrauen wurde allerdings, wie wir sehen werden, wiederholt auf die Probe gestellt.

Paulus schreibt an die Philipper: „Ich bin darin guter Zuversicht, dass der, der ein gutes Werk in euch angefangen hat, es vollenden wird bis auf den Tag Jesu Christi“ (Phil 1,6). Damit drückte er sein Vertrauen, das er im Blick auf die Philipper hatte, Gott gegenüber aus. Widrige Umstände, wie Gefangenschaft und Leiden – selbst wenn sie ihm von solchen bereitet wurden, die als Gläubige galten, die aber seinen „Fesseln Trübsal zu erwecken gedachten“ (Phil 1,17) –, konnten sein Vertrauen zum Herrn und zu den Brüdern nicht erschüttern. Für ihn war der Unfehlbare, sein Herr und Heiland Jesus Christus, über alle Umstände weit erhaben. Paulus wusste: Was bei den Brüdern auch an Fehlern offenbar wurde – Christus war allem gewachsen und Er würde das angefangene gute Werk trotz aller Angriffe des Feindes vollenden und am Tag seiner Herrlichkeit im Triumph offenbaren. Hierin lag das Geheimnis des Vertrauens des Apostels Paulus. Er betete allezeit mit Freude und Danksagung für die Gläubigen.

Gewiss wurde der Apostel in seinem Vertrauen auf Gott von einer Stelle aus dem Alten Testament beflügelt: „In der Furcht des HERRN ist ein starkes Vertrauen, und seine Kinder haben eine Zuflucht“ (Spr 14,26). Die Furcht des HERRN oder das innige Verhältnis zu Gott ist die wahre Grundlage eines starken Vertrauens. Sie ist für uns Christen nicht eine knechtische Furcht vor Gott, sondern das Ergebnis eines gereinigten Gewissens. „Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang“ (Ps 111,10). Sie lehrt uns, vom Bösen zu weichen (Spr 3,7) und uns nicht auf Menschen zu verlassen (Phil 3,4; Ps 118,8.9). Der Glaube vertraut unerschütterlich auf den Herrn, weil er Ihn als Erretter kennt, der ihm den Sieg über die Welt gegeben hat. Das Wort Gottes ist ihm eine Leuchte auf seinem Weg (Ps 119,105). Er fürchtet sich davor, sich in etwas einzulassen, was den Herrn betrüben und verunehren könnte. Er dient den Gläubigen, die vom Herrn geliebt und teuer erkauft sind, mit Geduld und Hingabe, denn sie sind seine Brüder und Schwestern. In allen Lebenslagen sucht und findet der Glaube die Zuflucht in dem Herrn. Er zeigt sein starkes Vertrauen, indem er nicht das anschaut, was man sieht, sondern das, was man nicht sieht

Beachten wir, unter welch entmutigenden Umständen der Apostel den Gläubigen in Korinth diente. Er verzehrte sich im Dienst für den Herrn und die Gläubigen: „Ich will aber sehr gern alles verwenden und völlig verwendet werden für eure Seelen, wenn ich auch, je überreichlicher ich euch liebe, umso weniger geliebt werde“ (2. Kor 12,15). Welch eine Hingabe!

Hatten die Korinther dem Apostel nicht unrecht getan? Hatten sie nicht seine Apostelschaft bezweifelt? Hatten sie ihn nicht so sehr gereizt, dass er genötigt war, von sich selbst zu reden? Ja, sie misstrauten sogar seiner aufrichtigen Absicht, sie zu besuchen. Dennoch änderte der treue Apostel seine Einstellung ihnen gegenüber nicht im Geringsten. Im Gegenteil, er spricht sogar von seinem Vertrauen zu ihnen und zeigt es ihnen auch. Er nahm den Bericht des Titus mit Freude auf und fand darin Trost und Erquickung für sein Herz, das um die Korinther besorgt war (2. Kor 7,13). Wie war er mit Freuden bereit, das Werk der wiederherstellenden Gnade Gottes in ihnen anzuerkennen!

Der Apostel ermahnte nicht nur, sondern er lebte selbst ein derart „christliches Leben“, dass er ein anspornendes Vorbild war. „Die Liebe rechnet das Böse nicht zu“ oder „denkt nichts Böses“, „sie freut sich mit der Wahrheit“ (1. Kor 13,4–7). Der Apostel übte diese Liebe aus; sie leitete ihn, sein Vertrauen den Gläubigen gegenüber auszudrücken: „Und ebendies habe ich euch geschrieben ...; indem ich euch allen vertraue, dass meine Freude die von euch allen ist“ (2. Kor 2,3). So sah Paulus die Korinther, trotz ihres traurigen Verhaltens ihm gegenüber, „in Christus“. Nur die göttliche Natur erfreut sich in Gott und in allem, was von Ihm gewirkt ist. In diesem unerschütterlichen Vertrauen konnte Paulus ihnen „durch die Sanftmut und Milde des Christus“ dienen (2. Kor 10,1).

Wie konnten die Gläubigen in Korinth solchen Ermahnungen gegenüber gleichgültig bleiben? Paulus stellte ihnen den Herrn in seiner Sanftmut und Milde vor; dies sollte für sie eine Triebfeder sein, gute Früchte zu hervorzubringen. Es ist immer schwieriger, geistlich kranken Kindern Gottes zu dienen als geistlich gesunden. Es ist mehr Weisheit und Liebe nötig, um sie in unmittelbare Verbindung mit dem großen Arzt zu bringen, der allein helfen und heilen kann.
Auch der Apostel Johannes wollte gerne, dass er Anteil haben konnte an der Freude des Herrn über die Gläubigen. Die „Freude des Herrn“ ist: die Kinder Gottes „in der Wahrheit wandeln“ zu sehen (3. Joh 4). Wo man in der Wahrheit wandelt, genießt man die Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus sowie mit allen Gläubigen.

Eine Gefahr, das gegenseitige Vertrauen unter Kindern Gottes zu erschüttern, liegt darin, sich mit den Fehlern und Sünden anderer zu beschäftigen. Es fehlt an Selbstgericht, das für das gegenseitige Vertrauen unentbehrlich ist. Der Feind vollbringt sein verheerendes Werk dadurch, dass er die Schwachheiten und Fehler anderer durch Vergrößerungsgläser betrachten lässt. Es scheint dann hoffnungslos, dass das Vertrauen und die Gemeinschaft wiederhergestellt werden. Die Gebete werden dadurch verhindert; die Fürbitte erlahmt; Hass, Neid und Bosheit beginnen, die Herzen zu beherrschen und die Motive zu bestimmen.

Richtgeist ist Überheblichkeit, verderblicher Hochmut. Der Hochmut schaut mit Misstrauen auf andere herab, verurteilt leichtfertig den Bruder als untreu und ist schnell bereit, ihn in allem zu richten, weil man glaubt, überall Böses zu entdecken. Das ist nicht Liebe. Die Liebe achtet den anderen höher als sich selbst (Phil 2,3).

Was für ein Vorbild von Liebe und Vertrauen ist doch der Apostel Paulus! Sein Beispiel bewirkte in den anderen Gläubigen das gleiche Vertrauen: „Wir haben aber unseren Bruder mit ihnen gesandt, den wir oft in vielen Stücken erprobt haben als einen, der eifrig ist, nun aber noch viel eifriger durch das große Vertrauen zu euch“ (2. Kor 8,22).

Welche Wirkung hatte sein erster Brief an die Korinther unter der gnädigen Wirksamkeit des Heiligen Geistes? Welche Früchte waren unter den Gläubigen zu erkennen? Buße, Fleiß, Eifer, Hingabe usw. – alles Dinge, die den Apostel in seinem Vertrauen und in seiner Zuversicht ermunterten: „Ich freue mich, dass ich in Bezug auf euch in allem zuversichtlich bin“ (2. Kor 7,16). Er war durch den guten Bericht des Titus über die Korinther sehr erfreut und sein Vertrauen war nicht beschämt worden. Bereitwillig erkannte er das Werk der Gnade Gottes in ihnen an. Misstrauen, Selbstgerechtigkeit und Hochmut können dagegen bei den anderen nur Unaufrichtigkeit und Böses voraussetzen.

In seinem Brief an die Galater musste der Apostel mit Ernst Dinge tadeln und doch brachte er sein Vertrauen zu den Briefempfängern zum Ausdruck: „Ich habe Vertrauen zu euch im Herrn, dass ihr nicht anders gesinnt sein werdet; wer euch aber verwirrt, wird das Urteil tragen, wer er auch sei“ (Gal 5,10). Die Hindernisse, die Satan dem Vertrauen entgegenstellte, waren groß; dennoch konnte er die Gemeinschaft unter den Gläubigen nicht stören, denn das Vertrauen des Apostels zum Herrn und zu den Gläubigen blieb bestehen. Dies half sicher den Gläubigen, den Weg wiederzufinden, den viele verlassen hatten.

Auch wir haben das Vorrecht, in allen Lebensumständen aus der Fülle des Herrn zu nehmen: Gnade um Gnade. Diese Gnade bewirkt Unterordnung unter sein Wort und Gehorsam. Wollen wir nicht auch all die gemeinsamen Fehler des Volkes Gottes am Thron der Gnade bekennen und im Gebet für alle Heiligen ausharren?

An die Thessalonicher schreibt der Apostel: „Wir haben aber im Herrn das Vertrauen zu euch, dass ihr, was wir gebieten, sowohl tut als auch tun werdet“ (2. Thes 3,4). Der Herr bleibt treu! Er wird alle, die auf ihn achten, vor allem Bösen bewahren und in Liebe und Vertrauen befestigen. Darauf konnte Paulus immer wieder hinweisen. Es war der Weg, um die Gläubigen zu freudigem Gehorsam anzuspornen und sie willig zu machen, Liebe und Vertrauen zu erweisen. Möchten auch wir, so viel an uns ist, Liebe und Vertrauen zeigen (Eph 4,1–4; 1. Kor 1,10)!

Möge das Wort des treuen Apostels auch uns gelten können: „Da ich deinem Gehorsam vertraue, so habe ich dir geschrieben, und ich weiß, dass du auch mehr tun wirst, als ich sage“ (Phlm 21).

________________________________________
Aus: Die letzte Stunde, 6. Jahrgang, 1942, hrsg. von R. Müller-Kersting, Zürich-Höngg; S. 73–77, stark überbearbeitet