Einleitung zu Daniel 10 – 12

Die letzten drei Kapitel des Propheten Daniel gehören inhaltlich zusammen. Kapitel 10 ist eine Art Einleitung zu dem umfassenden Gesicht, das Daniel in Kapitel 11 erhält; es bereitet uns darauf vor und zeigt uns die Umstände, unter denen Daniel das Gesicht sah. Vers 1 von Kapitel 11 gehört dabei eigentlich noch zu Kapitel 10. Ab Vers 2 von Kapitel 11 beginnt dann der Engel damit, das Gesicht dem Daniel zu offenbaren. Nachdem zu Anfang noch von vier persischen Königen die Rede ist, kommt er dann direkt auf Alexander den Großen zu sprechen. Zwei seiner vier Nachfolger, die sogenannten Diadochen, die im Norden und im Süden Israels ihre Reiche hatten – Syrien und Ägypten – werden dann als erste König des Nordens (Syrien) und König des Südens (Ägypten) genannt. Ein Ausdruck, der uns dann noch öfter begegnen wird. Dabei bedeutet dieser Ausdruck dann nicht immer unbedingt dieselbe Person. König des Südens und König des Nordens sind Bezeichnungen für eine Gattung, so wie z.B. Pharao. Im Lauf der Jahre haben viele verschiedene Männer diesen Titel getragen.

Es ist außerordentlich wichtig zu bemerken, dass Kapitel 11 einen gewaltigen Unterbruch hat, und zwar nach Vers 35. Die ersten 35 Verse zeigen geschichtlich, wie die Königreiche vom Norden und Süden sich gegenseitig bekämpft haben. Aus Sicht von Daniel war das damals alles noch zukünftig, aber aus unserer heutigen Sicht haben sich die in diesen 35 Versen geschilderten Ereignisse längst ereignet und sind für uns Vergangenheit – obgleich wir prophetische Anwendungen daraus machen können.

Mit Vers 35 endet diese Sicht und ab Vers 36 kommt plötzlich der kommende König der Juden, der Antichrist, vor uns. Ab diesem Vers ist also alles, was gesagt wird, auch aus unserer heutigen Sicht noch zukünftig und beschreibt, was am Ende der Tage sein wird. Und in Kapitel 12 kommt dann etwas, was nur Israel betrifft: eine nationale Auferweckung. Und damit schließt die eigentliche Prophetie des Buches Daniel.

Daniel 10

„Im dritten Jahr Kores‘, des Königs von Persien, wurde Daniel, der Beltsazar genannt wird, eine Sache offenbart, und die Sache ist Wahrheit und betrifft eine große Mühsal; und er bekam Verständnis über das Gesicht.“ (Vers 1)

Vers 1 ist die Überschrift oder Einleitung für das Gesicht als solches, das ja erst in Kapitel 11 geschildert wird. Daniel empfing ein Gesicht und auch Verständnis darüber, aber das Gesicht selbst wird erst später berichtet. Dieses Verständnis ist die Folge davon, dass Daniel sich mit seinem Volk und dessen Versagen eins gemacht hatte. Sein Gebet und seine Beugung fand eine Antwort darin, dass Gott ihm dieses Gesicht und das Verständnis darüber gab (Vers 12; vgl. Dan 9,22+23). Diese Herzenshaltung ist eine Voraussetzung zum Verstehen der Gedanken Gottes.

Daniel wird hier noch mit dem Namen Beltsazar vorgestellt; das war der Name, der ihm in dem babylonischen Weltreich unter Nebukadnezar gegeben wurde, und dieses Reich war doch inzwischen abgelöst worden durch das medo-persische Weltreich. Man gewinnt den Eindruck, dass damit deutlich gemacht werden soll, dass wir es hier immer noch mit dem gleichen Daniel zu tun haben, wie wir ihn in Kapitel 1 vor uns hatten. Es ist immer noch die gleiche Person, von Anfang des Buches bis zum Ende.

Es wird besonders bestätigt, dass die Sache Wahrheit ist, die Daniel jetzt zu sehen bekommen soll. Gerade Daniel 11 ist so sehr angegriffen worden, weil sich die darin gemachten Vorhersagen bis zu Vers 35 wirklich minutiös erfüllt haben. Und auch weil sie bis zur fernen Zukunft des Reiches des Herrn auf dieser Erde gehen, bekräftigt Gott schon ganz am Anfang dieses Gesichtes dessen Wahrheit. Auch in der Offenbarung, wenn es um das Ende geht, wird dreimal dasselbe betont, dass die Sache wahr ist (Off 19,9; 21,5; 22,6). Gott besteht darauf, dass jeder weiß, dass das, was Er offenbart, Wahrheit ist.

Wir befinden uns hier als Ausgangspunkt des Ganzen im dritten Jahr des Königs Kores, und wir wissen aus den anderen nach-exilischen Büchern, dass dies die Zeitspanne ist, wo sich das aus der babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrte Volk der Juden wieder in Jerusalem befand. Die 70 Jahre der Gefangenschaft waren vorüber, und Gott hatte gezeigt, dass seine Propheten die Wahrheit gesprochen hatten (Jer 25,11+12; 29,10) und dass Er Sein Volk nicht aufgegeben hatte; dass die Geschichte dieses Volkes weitergehen würde – bis hin zu dem Augenblick, wo der Herr Jesus in Macht und Herrlichkeit erscheinen wird. Gott verwirklicht Seine Pläne mit Seinem irdischen Volk! Aber Er weist auch sofort darauf hin, dass es für dieses Volk noch eine große Mühsal bedeuten würde, bis dieses Ziel Gottes mit ihnen erreicht sein wird. Ausgehend von der Zeit Daniels bis zum Ende wird Mühsal für das Volk Gottes sein. Rückblickend auf diese Zeit der großen Drangsal wird in Jes 40,2 der gleiche Ausdruck benutzt, hier steht sie noch bevor.

„In jenen Tagen trauerte ich, Daniel, drei volle Wochen. Köstliche Speise aß ich nicht, und weder Fleisch noch Wein kam in meinen Mund; und ich salbte mich nicht, bis drei volle Wochen vorüber waren“ (Vers 2+3)

Daniel trauert drei volle Wochen und demütigt sich (Vers 12). Es wird nicht gesagt, warum er sich demütigt, aber so wie wir ihn kennengelernt haben, wird es wieder die Scham wegen der Abtrünnigkeit seines Volkes gewesen sein, und um Jerusalems willen, der Stadt der Väter, wird er geweint haben. Auch war ihm sehr wohl bewusst, dass der Erlass des Kores, dass die Juden wieder in das Land ihrer Väter zurückkehren durften, noch nicht die volle Befreiung für Israel bedeutete. Es scheint, dass er der einzige Mann in dieser Zeit war, der durch die Prophezeiung Gottes wusste, dass dies zwar eine vorübergehende Erleichterung war, aber dass es noch dauern würde, bis das wirkliche Reich Gottes kommen würde, in dem Christus herrschen wird und nicht fremde Herrscher.

Wir können auch an Esra 3,10–13 denken, wo von den zurückgekehrten Juden der Grund des Tempels gelegt wurde und die Jungen darüber jubelten und die Alten trauerten. War nicht die Haltung derjenigen, die weinten und trauerten, die geistlichere? Daniel fühlte mit den Alten seines Volkes. Nach dem 2.Weltkrieg hat man sehr viel von der Beugung gesprochen, gemeinsame Beugung der Brüder vor dem Herrn in Trauer über die vergangenen Jahre verbunden mit dem Wunsch, wieder den Weg zu gehen, den man aufgegeben hatte. Beschäftigt uns heute Beugung wirklich noch? Wir müssten persönlich mehr die Haltung Daniels haben! Das Verstehen der Prophetie muss bei uns Beugung und Demütigung im Blick auf unseren heutigen Zustand hervorrufen! Demütig zu wandeln mit unserem Gott ist das, was auch heute von uns gefordert ist (Micha 6,8). Wir müssen nicht ständig nur mit gesenktem Kopf umhergehen und nichts mehr tun; natürlich müssen wir unsere Aufgaben erfüllen und Daniel hat das auch getan, aber es muss Augenblicke geben, in denen wir diese Demütigung vor Gott zum Ausdruck bringen. Und dabei ist unsere Gesinnung wichtig: nicht im Vertrauen auf eigene Kraft! Demut als christliche Tugend wird nicht genügend gelehrt unter uns und deshalb haben wir sie auch nicht wirklich gelernt. Demut steht nicht hoch im Kurs unter uns, vielleicht machen wir auch deshalb so wenig Erfahrungen mit dem Herrn. „Gott widersteht dem Hochmütigen, den Demütigen gibt er Gnade“ (Spr 3,34; Jak 4,6; 1. Pet 5,5). Wir müssen Demut lernen, unser Herr nicht, Er war von Herzen demütig (Mt 11,29). Wir dürfen nie vergessen, dass unser Gott ein verzehrendes Feuer ist (Heb 12,29), und „wer kann weilen bei verzehrendem Feuer?“ (Jes 33,14). Wir können deshalb vielleicht drei Punkte zusammenfassen, die der Anlass zu der Trauer und Beugung Daniels gewesen sind:

  • das Versagen Israels in der Vergangenheit, was ja der Auslöser dafür war, dass sie unter diese vielen fremden Herrschaften geraten waren
  • der momentane schwache Zustand des Volkes
  • die leidensvolle Zukunft für den Überrest Israels

Von den Sorglosen in Zion wird gesagt, dass sie „Wein aus Schalen trinken und sich mit den besten Ölen salben und sich nicht grämen über die Wunde Josephs (Amos 6,6). Ganz anders die Reaktion Daniels; er verzichtete auf Wein, und er salbte sich nicht. Daniel war hier ungefähr 90 Jahre alt, und dieser alte Mann fastet drei volle Wochen lang! Im Alter von 15 Jahren hatte er den Speisen des Königs entsagt (Dan 1,8), und bis ins hohe Alter ist er dieser Haltung treu geblieben. Was für ein Vorbild für uns!