„Mehr als die Haare meines Hauptes sind derer, die ohne Ursache mich hassen; mächtig sind meine Vertilger, die ohne Grund mir feind sind; was ich nicht geraubt habe, muss ich alsdann erstatten“ (Ps 69,5).

Bei der Auslegung dieses Psalms ist höchste Sorgfalt geboten; denn es gibt Abschnitte, die ausschließlich auf unseren geliebten Herrn anwendbar sind, während andere Verse offensichtlich den gläubigen Überrest einschließen. Generell zeigt uns der Psalm jedoch den von den Händen der Menschen leidenden Messias, und deshalb finden wir hier nicht den Gedanken der Sühnung; die Konsequenz seiner Verwerfung und seines Todes ist das Gericht über seine Feinde. In Psalm 22 dagegen finden wir ihn unter der Hand Gottes leidend („In den Staub des Todes legst du mich“) und deshalb entströmen Sühnung und Gnade aus seinem Tod und ziehen immer weitere Kreise. Das sind die charakteristischen Kennzeichen dieser beiden Psalmen, doch sie haben unbedingt auch ihre Berührungspunkte. In beiden finden wir nämlich die Tätigkeit Satans, die sich in der offenen Feindschaft des Menschen zeigt.

Der oben zitierte Vers hat zwei Aspekte: den Hass der Feinde Christ, die versuchen, seine Vertilgung zu erreichen, und sein Handeln, das mit den Worten angedeutet wird: „Was ich nicht geraubt habe, muss ich alsdann erstatten.“ Die Frage ist, worauf sich diese Worte beziehen. Die Antwort findet sich, wie wir denken, in 3. Mose 5. In der Anordnung des Schuldopfers für Sünden, die als „Untreue gegen den Herrn“ beschrieben werden, auch wenn sie eigentlich dem Nächsten angetan wurden, lesen wir, dass derjenige, der die Untreue begangen hatte, „zurückerstatte das Geraubte, das er geraubt hat, … er soll es erstatten nach seiner vollen Summe und dessen Fünftel darüber hinzufügen; wem es gehört, dem soll er es geben am Tag seines Schuldopfers.“ So wurde für den Nächsten Ersatz geleistet, während für die Untreue gegen den Herrn ein passendes Opfer Sühnung tat.

Dieses Opfer erlangte (auch wenn es in diesem Psalm nicht gesehen wird) genau wie jedes andere Opfer im Tod Christi seine Erfüllung. Und in diesem Opfer sehen wir einen lehrreichen und schönen Kontrast. Aus Lukas 10 lernen wir, dass es Christus gefallen hat, Israels Nächster zu werden, und gegen ihn beging Israel „Untreue“. Gemäß 3. Mose 5 musste demnach Israel Ersatz leisten und das Opfer darbringen; doch was konnte Israel tun, als es auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho entblößt, verwundet und halbtot dalag. Israels Nächster sah es und hatte Mitleid mit ihm in seinem hilflosen Zustand und übernahm das, was eigentlich der Übertreter tun musste, obwohl er selbst derjenige war, gegen den gesündigt worden war.

So erstattete er das, was er nicht geraubt hatte, und wurde zusätzlich, wie wir wissen, das Schuldopfer. Mehr als die Haare seines Hauptes waren die, die ihn ohne Ursache hassten; mächtig waren seine Vertilger, die ihm ohne Grund feind waren; doch er nahm ihren Platz ein und opferte sich selbst als ihr Schuldopfer, statt von ihnen den Ersatz für ihre Untreue zu verlangen. Welche unaussprechliche Liebe und Gnade! Die vollen Ergebnisse der Erfüllung dieses Verses werden erst gesehen werden, wenn Israel wiederhergestellt und in die Segnungen des Reiches eingeführt sein wird.