Rudolf Brockhaus versucht in seinen Ausführungen zu zeigen, warum die Sendschreiben eine prophetische Dimension haben. Es handelt sich dabei um eine Entgegnung (niemand möge sich daran stören) auf eine Schrift von Bruder Nagel, der das in Frage stellte.

Bruder Nagel sagt auf Seite 33 seiner Schrift:

„Es gibt für die Auffassung, dass in den Sendschreiben ein prophetisches Bild von dem fortschreitenden Verfall der Kirche gezeichnet sei, keinerlei klaren Schriftbeweis. Ohne Zweifel ist in den Sendschreiben für alle Zeiten der christlichen Geschichte Lehre und Mahnung, Drohung und Verheißung enthalten. Aber die Annahme, dass jedes einzelne Sendschreiben einen bestimmt umgrenzten Abschnitt zukünftiger Geschichte vorbilde, entbehrt jeder zuverlässigen Grundlage. Es kann diese Annahme weder aus dem Text gefolgert werden, noch auch ist der Beweis für ihre Richtigkeit aus dem tatsächlichen Geschichtsverlauf zu erbringen. Man muss schon zu großen Künsteleien seine Zuflucht nehmen, um dergleichen beweisen zu wollen.“

Demgegenüber sei darauf hingewiesen, dass das Buch der Offenbarung von Anfang bis zu Ende prophetisch ist. „Glückselig der da liest und die da hören die Worte der Weissagung dieses Buches und bewahren, was in ihr geschrieben ist!“ So leuchtet die am Eingang des Buches stehende Überschrift dem Leser entgegen; und: „Ich bezeuge jedem, der die Worte der Weissagung dieses Buches hört: Wenn jemand usw.“, so schließt der Herr seine prophetischen Mitteilungen an die Versammlungen. Es genügt also keineswegs zu sagen, dass „in den Sendschreiben für alle Zeiten der christlichen Geschichte Lehre und Mahnung, Drohung und Verheißung enthalten sei“, denn das ist von allen neutestamentlichen Schriften wahr. Es muss mehr als das darin zu finden sein.

Zum Beweis des Gesagten gestatte man mir, zunächst nochmals einen Abschnitt aus der Schrift „Die Versammlung des lebendigen Gottes“ anzuführen. Es heißt dort auf S. 96–99:

„Dass es zur Zeit der Abfassung des Buches der Offenbarung sieben Versammlungen (Gemeinden) in der römischen Provinz Asien (einem Teil des jetzigen Kleinasien) gab, deren Zustand dem in den Sendschreiben geschilderten entsprach, unterliegt keinem Zweifel, wird auch wohl von niemand bestritten. Diese sieben Gemeinden haben geschichtlich bestanden. Aber ganz von selbst drängt sich dem aufmerksamen Leser der Briefe die Frage auf: Warum hat der Herr gerade diese außer Ephesus so wenig bekannten Gemeinden aus den vielen damals bestehenden ausgewählt? Warum gerade sieben? Die Zahl „sieben“ ist dem Bibelforscher bekannt als Ausdruck von irgend etwas Vollkommenem, Abgerundetem, in geistlichem Sinn. Dass sie gerade hier, in dem Buche der Offenbarung, bedeutungsvoll ist, liegt auf der Hand.

Aber mehr noch. Die sieben Sendschreiben stellen uns nach der Erklärung des Herrn selbst das, „was ist“, vor Augen. „Schreibe nun, was du gesehen hast (Kap. 1,9 ff), und was ist (Kap. 2 und 3), und was nach diesem geschehen wird“ (Kap. 4 ff). Dass diese Einteilung nicht willkürlich ist, beweist Kapitel 4,1. Dieselbe Stimme, welche im ersten Kapitel geredet hatte, ruft hier dem Propheten zu: „Komm hier herauf, und ich werde dir zeigen, was nach diesem geschehen muss“. Das, „was ist“, (was schon zu Lebzeiten des Johannes bestand) endet daher mit dem dritten Kapitel, und im vierten beginnt die Erzählung dessen, „was nach diesem (d. h. nach dem Inhalt des 2. und 3. Kapitels) geschehen muss“ – der Prophet wird von der Erde in den Himmel entrückt und sieht den Thron, von welchem aus die Gerichte über die Erde ergehen, und um den Thron her, in den Himmel entrückt, die Erlösten unter dem Bild der 24 Könige und Priester.

„Es gab also in jener Zeit sieben Versammlungen, deren innerer Zustand dem von dem Herrn entworfenen Bilde entsprach. Sie werden mit goldenen Leuchtern (Lichtträgern) verglichen. In ihrer Mitte wandelt der in richterlichem Gewand erscheinende Sohn des Menschen. Dass der Herr allezeit „als Segensquelle“ in der Versammlung ist und als Haupt des Leibes die Seinigen nährt und pflegt, ist zweifellos; aber hier wird Er nicht in diesem Charakter geschaut. Er erscheint nicht als der, welcher Öl auf die Lampen gießt, wenn es nötig wird, nicht als der gute Hirte der Schafe, oder als der, welcher die Füße der Seinigen wäscht oder den Menschen Gaben austeilt, sondern in seiner ernsten Würde als Richter. Aus seinem Mund geht ein scharfes, zweischneidiges Schwert hervor, und mit Augen, die wie eine Feuerflamme sind, sieht Er zu, ob die Leuchter ihrer Verantwortlichkeit entsprechen.

„Ist denn der Ausdruck „was ist“ auf die sieben örtlichen Gemeinden zu beschränken, an welche die Sendschreiben gerichtet wurden? Waren für sie allein die Mitteilungen des Herrn bestimmt? Oder müssen wir an die ganze christliche Kirche denken, wie sie damals auf Erden bestand? Die Zahl „sieben“ leitet unsere Gedanken, wie gesagt, auf etwas „Vollkommenes“. Jene sieben Gemeinden machten aber nur einen ganz kleinen Teil des gesamten christlichen Zeugnisses von damals aus. Zugleich werden die Ermahnungen, welche auf Grund des inneren Zustandes der Gemeinden ergehen, an alle gerichtet, welche ein Ohr haben zu hören: „Wer ein Ohr hat, höre was der Geist den Versammlungen sagt“.

„Wir möchten also wohl an die ganze Gemeinde des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung denken, wenn nicht ein wichtiger Punkt dagegen spräche. Jedes Sendschreiben schildert bekanntlich einen anderen Zustand, verschieden von den vorhergehenden oder nachfolgenden. Es ist deshalb kaum möglich, alle sieben auf den Gesamtzustand der damaligen Kirche anzuwenden. Alle sieben können nicht zu gleicher Zeit charakteristisch für diesen Gesamtzustand gewesen sein. Und was für jene ersten Tagen gilt, ist selbstverständlich auch wahr für alle späteren Zeiten. Man kann unmöglich sieben so völlig verschiedene, ja, einander entgegengesetzte Zustände zu irgendeinem gegebenen Zeitpunkt auf den allgemeinen Zustand der Kirche anwenden. Wenn das aber so ist, dann ergibt sich ganz von selbst der Gedanke, dass die Sendschreiben eine Reihenfolge von Zuständen beschreiben müssen, welche sich im Laufe der Jahrhunderte, während der ganzen Dauer des christlichen Haushalts, in der bekennenden Kirche zeigen würden, und die das Auge des Herrn voraussah.

„Damit wird dann auch die Zahl „sieben“ durchaus verständlich, ebenso die Auswahl der Gemeinden, nicht nach Alter, Größe, Bedeutung oder dergleichen, sondern nach den damals in ihrer Mitte herrschenden charakteristischen Zuständen. Die Geschichte der Kirche zieht in einem ergreifenden prophetischen Gemälde von dem ersten Beginn des Verfalls, dem Verlassen ihrer ersten Liebe (in Ephesus), bis zum Ausgespieenwerden aus dem Mund des Herrn (in Laodizea) an unserem Auge vorüber. Der Herr selbst beurteilt und richtet den Zustand, warnt, droht und gibt dem Überwinder Verheißungen. Er ist „der Erstgeborene“, der den ganzen Erdkreis richten wird (vgl. die späteren Kapitel der Offenbarung); aber sein Gericht beginnt beim Hause Gottes.

„Die Versammlung (Gemeinde) ist an die Stelle Israels getreten. Jerusalem war einst der Mittelpunkt oder Sitz des Zeugnisses Gottes. Von dort aus strahlte sein Licht über die Erde. Israel und Jerusalem haben aber ihrer Verantwortlichkeit als Lichtträger nicht entsprochen und sind deshalb beiseite gesetzt worden. An ihre Stelle ist das Christentum getreten. Die bekennende Kirche ist Gottes Leuchter oder Lichtträger geworden. Jerusalem, die Stadt, welche durch die Ermordung des Messias Gottes Zorngericht über sich gebracht hat, ist verschwunden, und die bekennende Kirche ist jetzt die einzige Zeugin für Gott in dieser Welt. Unter diesem Charakter und von diesem Gesichtspunkt aus wird die Kirche in der Offenbarung gesehen. Daher das Symbol der „sieben goldenen Leuchter“, in deren Mitte der Sohn des Menschen wandelt mit „Füßen gleich glänzendem Kupfer, als glühten sie im Ofen“ – wiederum ein ausdrucksvolles Bild des Gerichts (vgl. Dan 7,9.10).“

Wenn Bruder Nagel meint, es gebe für die in vorstehender Anführung entwickelte Auffassung keinerlei klaren Schriftbeweis, so ist das insofern wahr, als nirgendwo geschrieben steht: Die sieben Sendschreiben enthalten ein prophetisches Gemälde von der Geschichte der christlichen Kirche. Aber so ist es ganz selten mit den prophetischen Mitteilungen des Wortes Gottes. Nur hier und da gibt Gott eine bestimmte Erklärung der Prophezeiung. [Fußnote 17] In den meisten Fällen bleibt es dem geistlichen Verständnis des Lesers überlassen, den Sinn des Prophezeiten an der Hand anderer Mitteilungen und in Verbindung mit anderen ähnlichen Stellen zu erforschen. „Keine Weissagung der Schrift ist von eigener Auslegung“ (2. Pet 1,20).

In dem vorliegenden Fall nun kann für den mit der Weise des Geistes der Prophezeiung bekannten Bibelforscher kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass diese sieben Sendschreiben neben ihrer Anwendbarkeit auf die damalige Zeit und ihrer sittlichen Bedeutung für alle Zeiten (als mahnend, belehrend, drohend usw.) auch einen geschichtlichen Sinn haben müssen, und man braucht wahrlich nicht „zu großen Künsteleien seine Zuflucht zu nehmen“, um die Richtigkeit dieser Auslegung zu beweisen.

Es ist weiter oben gesagt worden, dass der Herr in Offenbarung 2 und 3 nicht gesehen wird als Haupt seines Leibes oder als unser barmherziger Hoherpriester, der uns vor Gott vertritt und mit unseren Schwachheiten Mitleid zu haben vermag, sondern dass Er als Richter inmitten der sieben goldenen Leuchter wandelt. Seinem durchdringenden Flammenauge entgeht nichts. Er findet zunächst, dass die Gemeinde ihre erste Liebe verlassen hat (Ephesus). Die Treue Gottes lässt deshalb Zeiten der Trübsal und Verfolgung kommen (Smyrna). Wenn diese aufhören und der Druck nachlässt, tritt Verweltlichung ein, und in weiterer Folge böse Lehre und Verderben (Pergamus und Thyatira). Nicht nur einzelne Lehrer treten auf und verführen die Jünger, sondern die Frau Isebel erscheint und wird die Mutter des Verderbens – inmitten der Kirche werden ihr Kinder geboren. Es wird ihr Zeit gegeben, Buße zu tun von ihrer geistlichen Hurerei, aber sie will nicht Buße tun, und der Herrn tröstet die Überwinder mit dem Hinweis auf die Herrlichkeit des Reiches und auf sein Kommen als Morgenstern .

Ist es wirklich „großen Künstelei“, „entbehrt es jeder zuverlässigen Grundlage“, wenn man in diesen Mitteilungen sowohl eine innere Aufeinanderfolge entdeckt, als auch den äußeren Entwicklungsgang der Kirche auf dieser Erde unterscheidet? Sind nicht dem Verlassen der ersten Liebe Tage ernster, schwerer Verfolgungen in 2. Jahrhundert gefolgt, denen sich dann die Verweltlichung der Kirche im dritten und vierten Jahrhundert, verbunden mit immer gewaltiger zunehmendem Verderben in Wandel und Lehre anschloss, bis zur völligen Entwicklung des Papsttums im Beginn und Verlauf des Mittelalters? Hat das Papsttum nicht geistliches Verderben mit weltlicher Macht und der Verfolgung der treuen Zeugen Gottes verbunden, genau so, wie einst das Weib Ahabs es getan hat?

Liegt das soweit ab, wie Bruder Nagel uns glauben machen möchte? Ich meine nicht. Und wie mit den vier ersten, so ist es auch mit den übrigen Sendschreiben; sie zeichnen in kurzen, kräftigen Zügen, dem geistlichen Auge leicht erkennbar, die Entwicklung der Dinge seit der Reformation bis in unsere Zeit, ja, bis zu dem Kommen des Herrn und zu der Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen soll. Aber ich möchte den Gegenstand hier nicht weiter verfolgen.