Eine alte, seltene, vergriffene Schrift aus dem Jahr 1911. Nach dem Französischen von Th. G. Zweite Auflage. Verlag von R. Brockhaus, Elberfeld.

Ich bin's! – Diese Worte, die einst aus dem Munde unseres teuren Heilandes hervorgingen und die vom Sturm hin- und hergeworfenen Jünger beruhigten, haben auch in späteren Tagen oft Ruhe und Frieden in die Herzen anderer Gläubiger gebracht, die von den Prüfungen und Leiden dieses  Lebens  zerschlagen oder dem Widerstande einer gottfeindlichen Welt ausgesetzt waren. Aber sollen die schönen Worte einer Seele diesen Segen bringen, so ist es notwendig, daß sie Jesum als ihren Heiland kennt; und ich brauche wohl kaum zu sagen, daß man diese Kenntnis nicht erlangt durch den menschlichen Verstand, sondern allein durch den Glauben, und zwar durch den Glauben des Herzens; wie geschrieben steht: „Mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit“. (Röm 10, 10.) Dieser Herzensglaube ergreift Christum und mit Ihm das ewige Leben. Denn wir lesen: „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben“; und: „Dies aber ist das ewige Leben, daß sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen“. Und weiter: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt Dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das Leben übergegangen“. (Joh 3, 36; 17,3; 5,24.) Der gläubige Leser versteht ohne Zweifel, warum ich so nachdrücklich auf der Tatsache bestehe, daß man, um sich die Worte des Heilandes aneignen zu können, die Gewißheit haben muß, Ihm anzugehören, Ihn wirklich zu kennen. In der bekennenden Christenheit gibt es bekanntlich eine große Anzahl von Seelen, die sich einbilden, Christen zu sein, trotzdem sie die Wiedergeburt nie an sich erfahren haben; und sie haben diese Meinung einfach deshalb, weil sie eine gewisse Kenntnis von den Wahrheiten des Evangeliums besitzen, gewisse Werke tun und hie und da auch religiöse Gefühle und fromme Regungen erfahren haben. Aber das Wort Gottes spricht im Blick auf diesen Punkt so bestimmt wie möglich; z. B.: „Es sei denn daß jemand aus Wasser und Geist geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen“. (Joh 3, 5–7.) Oder: „So viele Ihn (d. h. Christum) aber aufnahmen, denen gab Er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an Seinen Namen glauben“. (Joh 1, 12.) Nur diese sind wirklich Christen, und sie allein haben das Vorrecht, die Worte des Herrn: „Ich bin's“, auf sich anzuwenden und sich ihrer zu erfreuen.

Der einfache Menschenverstand sagt uns übrigens schon, daß sie nur den wahren Jüngern Jesu, den Schafen Seiner Herde, gelten können. Nehmen wir z. B. an, ein. Mann sei mehrere Tage von Hause entfernt gewesen und käme nun früher zurück, als man ihn erwartet hätte. In später Nachtstunde tritt er vor sein Haus und klopft laut an die Tür, um sich bemerkbar zu machen. Die erste Wirkung seines Klopfens ist Furcht; das ganze Haus, das so plötzlich aus dem ersten Schlafe geweckt wird, erschrickt. Ängstlich geht die Hausmutter an die Tür; aber ehe sie öffnet, fragt sie: „Wer ist da?“ Ihr Mann antwortet: „Ich bin's“! Die bekannte Stimme des geliebten Mannes vertreibt sofort alle Furcht, der Riegel wird eilig zurückgeschoben und die Tür öffnet sich. So ähnlich war es bei den Jüngern in jener Gewitternacht. Jesus war für sie ein bekannter und geliebter Herr; Seine Stimme erweckte in ihren Herzen Gefühle, die keine andere Stimme hätte hervorrufen können. Glückselig der Jünger in gegenwärtiger Zeit, der dasselbe erfährt in den Tagen der Drangsal, die ja keinem Gläubigen erspart bleiben! Denn der Herr hat gesagt: „In der Welt habt ihr Drangsal“; und Paulus kündigt uns an, „daß wir durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen müssen“. (Apstgsch. 14, 22.)

Die Trübsale sind ebenso verschieden wie zahlreich: aber Gott, unser Vater, bedient sich ihrer zu unserer geistlichen Erziehung, als Zuchtmittel. An dieser väterlichen Zucht hat jedes Kind Gottes teil, gemäß den Worten des Apostels: „Was ihr erduldet, ist zur Züchtigung: Gott handelt mit euch als mit Söhnen; denn wer ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Wenn ihr aber ohne Züchtigung seid, welcher alle teilhaftig geworden sind, so seid ihr denn Bastarde und nicht Söhne.“ (Heb 12, 7. 8.)

Zudem haben wir die schweren Zeiten erreicht, welche die letzten Tage charakterisieren, – Zeiten, wo alles schwierig wird, besonders der Weg des Gläubigen infolge des Zustandes der Christenheit. In der Tat sind heute die Menschen so, wie Gott es in 2. Tim 3, 1–5 angekündigt hat; sie waren schon so im Heidentum, aber für die Jetztzeit tritt der schwerwiegende Unterschied hinzu, daß die Menschen „eine Form der Gottseligkeit haben, deren Kraft aber verleugnen“.

Doch, meine lieben Freunde, mögen die Zeiten sich auch ändern, der Herr verändert sich nicht; Seine Stimme bleibt immer, wie einst für die Jünger auf dem bewegten Meere, eine bekannte Stimme, die ertönt, um uns zu beruhigen und zu ermutigen. Sie drang in das Ohr des Johannes, des geliebten Jüngers, als er auf der Insel Patmos erschrocken und zitternd zu den Füßen des Herrn niedergesunken war. „Fürchte dich nicht!“ sagte Jesus. „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige.“ (Offbg. 1, 17. 18.) Auch Paulus hörte sie, als er in Korinth „in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern“ tätig war. Der Herr sprach durch ein Gesicht in der Nacht zu ihm: „Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! Denn ich bin mit dir.“ (1. Kor 2, 3; Apstgsch. 18, 9. 10.) Und wir vernehmen heute dieselbe geliebte Stimme in dem Worte Gottes, welches uns inmitten alles Verfalls, aller Trübsale und Prüfungen bleibt, und aus dem wir den Gott kennen lernen, der uns allezeit „vermag aufzuerbauen und ein Erbe zu geben unter allen Geheiligten“. (Apstgsch. 20, 32.) Gepriesen sei Sein heiliger Name dafür!

Wie köstlich ist das Wort Gottes! Wenn der Feind seine Wut entfesselt und sich in dem Charakter eines „brüllenden Löwen“, als Verfolger der Heiligen, zeigt, so finden diese in dem Worte kräftige Ermutigungen, die sie stützen und aufrecht halten. Kommt Satan als die alte Schlange und sucht die Kinder Gottes durch seine Listen zu verführen, so ist es wieder das göttliche Wort, welches uns fähig macht, seine Fallstricke und Schlingen zu entdecken, samt den Gefahren, die von innen oder außen an uns herantreten. Und wenn der Feind die Kirche zu verderben und die Jünger des Herrn durch falsche Lehren irre zu leiten sucht, so ist es wieder dieses kostbare Wort, zu welchem wir unsere Zuflucht nehmen sollen. Doch noch einmal: Nur das Lamm kennt die Stimme des guten Hirten. Es weiß auch die Stimme der Fremden zu unterscheiden; aber zu welchem Zweck? Um vor ihnen zu fliehen. (Joh 10, 4. 5.)

Doch dazu muß Jesus Seinen Platz in unseren Herzen haben und unsere Neigungen beherrschen. Wie viele arme Seelen schwimmen mit dem großen Strome und werden „durch den Irrtum der Ruchlosen mit fortgerissen“ (2. Pet 3, 17), weil sie dem oder jenem in seiner Gemeinde angesehenen Menschen oder dieser Gemeinde selbst mehr Vertrauen und Liebe entgegenbringen als der Stimme des Herrn. Wenn das der Fall ist, so verdunkelt sich der Blick der Seele, und man weiß nicht mehr Schutz und Schirm zu suchen bei dem guten Hirten, dem wahren Aufseher unserer Seelen. (1. Pet 2, 25.)

Wohl ist es wahr, daß die Befehle und Anweisungen, welche das. Wort des Herrn uns gibt, manchmal sehr geheimnisvoll zu sein scheinen, besonders wenn sie unseren Gedanken entgegen sind, unsere Pläne durchkreuzen und unserem Geschmack nicht behagen; aber sie stellen dann nur unseren Glauben auf die Probe und zeigen, wie unsere Herzen in Bezug auf den Herrn stehen. So war es auch mit den Jüngern in den Umständen, welche uns der unserer Betrachtung zu Grunde liegende Schriftabschnitt beschreibt.

Doch bevor wir auf diese Umstände näher eingehen, möchte ich noch auf einige andere Punkte aufmerksam machen. Als der Herr die Zwölfe berief (Mk 3, 13 etc.), geschah es zu dem Zwecke, damit sie „bei Ihm seien“, und dann, damit Er „sie aussende zu predigen und Gewalt zu haben, die Krankheiten zu heilen und die Dämonen auszutreiben“. – In Mk 6, 7 etc. sehen wir weiter, daß Er sie zu zwei und zwei auf ihre erste Missionsreise, wie wir heutzutage sagen würden, aussandte. Im 30. Verse kehren sie zu Jesu zurück und erzählen Ihm, was sie getan und gelehrt hatten. Der Herr, voll zarter Liebe, fordert sie auf, sich mit Ihm an einen wüsten, abgelegenen Ort zurückzuziehen, um dort ein wenig auszuruhen. Sie folgen Seiner Aufforderung; aber als sie an den Ort gelangen, finden sie bereits eine große Volksmenge versammelt, die ihnen zuvorgekommen ist. Welch eine Enttäuschung für die Jünger! Denn diese Volksmenge, die wie Schafe ohne Hirten waren, beschäftigt sogleich den Herrn; Er war innerlich bewegt über sie. Die Jünger müssen sich wohl oder übel darein finden und warten, aber ihre Geduld ist bald erschöpft; und wer von uns versteht das nicht? Menschlich gesprochen war es sehr verzeihlich. Sie bitten Jesum, die Volksmenge fortzuschicken, und das aus zwei Gründen: es war schon spät, und der Ort war öde. Das waren für die Jünger, die nur an sich dachten, triftige Gründe; für den Herrn aber waren sie gerade von gegenteiliger Bedeutung, Sie bewogen Ihn erst recht, diejenigen, welche sich um Ihn versammelt hatten, nicht zu entlassen, sondern zu speisen; sie hätten ja, so urteilte Sein liebendes Herz, auf dem Wege verschmachten können. (S. Kap. 8, 3.) Zugleich aber wünschte Jesus, daß die Jünger von der Kraft Gebrauch machen möchten, die in Ihm gegenwärtig war für die Bedürfnisse des Volkes, und Er sagte deshalb zu ihnen: „Gebet ihr ihnen zu essen“. Ach! sie hatten gelehrt, Kranke geheilt, Teufel ausgetrieben, aber jetzt können sie sich nicht zu der Höhe der Gedanken Gottes erheben, noch aus der Gnadenquelle schöpfen, die sich ihnen in den Worten öffnet: „Gebet ihr ihnen zu essen“.

Und woher kam das? Einfach daher, weil sie nicht dieselben Gefühle und Gedanken betreffs der Volksmenge hatten wie der Herr. Man muß denken und fühlen wie Er, wenn man imstande sein will, zu handeln wie Er. Ohne Gemeinschaft im Denken und Fühlen gibt es keine Gemeinschaft im Handeln; das ist ein sehr wichtiger Punkt, an den wir uns immer wieder erinnern sollten. – Der Herr handelt dann den wirklichen Gefühlen Seines Herzens gemäß und speist die Volksmenge auf wunderbare Weise.

„Und alsbald nötigte Er Seine Jünger, in das Schiff zu steigen und an das jenseitige Ufer nach Bethsaida vorauszufahren, während Er die Volksmenge entläßt.“ (V. 45.) Der Herr mußte nötigen; denn diese Weisung mußte den Jüngern wunderbar vorkommen. Ohne Zweifel verstanden sie die Ursache derselben nicht. Warum wollte ihr Meister allein bleiben, um die Volksmenge zu entlassen? Und wenn Er nun lieber allein sein wollte, warum konnten sie nicht am Ufer auf Ihn warten? Und wie wollte Er ihnen folgen, wenn sie das Schiff wegnahmen? Solche und ähnliche Fragen konnten wohl in ihren Herzen aufsteigen. Vielleicht haben sie auch Einwendungen gemacht, aber schließlich mußte es ihnen genügen, daß die Weisung an sie erging, vor Ihm wegzufahren. So ist es immer mit den Christen. Sie müssen manches tun und durchmachen auf den Befehl ihres Herrn, ohne das Warum zu wissen. Ein willenloser und gehorsamer Jünger fragt aber auch gar nicht: „Warum soll ich dieses tun?“ oder: „Warum muß ich jenes durchmachen?“ sondern sagt mit dem Apostel: „Herr, was willst du, daß ich tun soll?“ Ein Heerführer, ein Schiffskapitän, ein Fabrikherr und dergl. geben oft Befehle, deren Ursachen und Zwecke ihre Untergebenen nicht verstehen, und doch werden sie sofort ausgeführt. Sollten wir, die Jünger des Herrn, nun murren, oder zaudern zu handeln, weil wir Jesu Weisungen nicht verstehen? Sollten wir uns den Vorwurf zuziehen: „Was geht es dich an? Folge du mir nach!“?

Aber nicht allein sind uns Ursache und Zweck eines Befehls oft dunkel, nein, sehr oft ist das, was wir tun sollen, unserem Willen entgegen, stößt unsere Pläne und Vorsätze um oder stimmt nicht mit unseren Wünschen und Neigungen überein. So war es, wie wir schon gesagt haben, bei den Jüngern. Sie wären lieber bei ihrem Meister geblieben und hätten mit Ihm die Begeisterung der Volksmenge genossen, die von dem Wunder der Speisung ganz hingerissen war (vergl. Joh 6, 14. 15), anstatt ohne Ihn in das Schiff zu steigen. Es schien ihnen gewiß so, als sollten sie einen Verlust erleiden; aber der Schein trügt: wären sie bei Ihm geblieben, so hätten sie sicherlich nicht das gelernt, was ihre zeitweilige Trennung von Ihm, nach Seinem Befehl, sie lehrte. In diesem Falle war also die Trennung von Ihm aus Gehorsam besser, als das Bleiben bei Ihm im Ungehorsam. Und das ist immer wahr und läßt sich auf viele Fälle in unserem christlichen Leben anwenden.

Wir finden im 45. und den folgenden Versen ein Bild des gegenwärtigen Zustandes der Dinge. Die von Jesu entlassene Volksmenge stellt Israel dar, das als Nation in der jetzigen Zeit verstoßen ist; und in der kleinen Schar der Jünger erblicken wir die Kirche, welche berufen ist, die einem sturmbewegten Meer gleichende Welt zu durchschreiten, während der Herr droben ist und sich für uns verwendet. (Vergl. Röm 8, 34; Heb 4, 14 etc.; 7, 25 etc.) Aber ach! wie leicht verlieren wir das Bewußtsein des unauflöslichen Bandes, das uns mit Christo verbindet, wie leicht vergessen wir Seine Liebe, von der nichts uns zu scheiden vermag!

Wir dürfen wohl annehmen, daß das Wetter heiter war, als die Jünger sich am Schlusse des Tages auf den Befehl Jesu einschifften; denn der Tag war schön gewesen, da die 5000, welche von den Broten gegessen, sich auf das grüne Gras gelagert hatten. Der Wind erhob sich erst, nachdem die Jünger von dem Ufer abgestoßen waren und das Schiff sich bereits mitten auf dem See befand. Sie hatten ohne Zweifel eine angenehme und leichte Überfahrt erwartet, und siehe da, Sturm und Mühsal erreichten sie. Ähnliches erlebt der Gläubige auch oft. Bei ruhigem Wetter beginnt er seinen Weg; eine Zeitlang schreitet er wie auf einer glatten Wiese dahin; aber auf den heitersten Tag folgt vielleicht die finsterste Gewitternacht. Ruhig und still liegt das Meer da, kein Lüftchen kräuselt seine krystallene Fläche; aber mit einem Male erhebt sich die Windsbraut und in kurzer Zeit wird die Flut durch den Sturm bis auf den Grund aufgewühlt. Wie oft sieht man Christen ein stilles, friedliches Leben genießen; man möchte sie fast beneiden. Aber siehe da, mit einem Schlage ist alles verändert. Krankheiten kommen, der Tod klopft an und nimmt ein geliebtes Wesen hinweg, oder irgend ein unvorhergesehenes Ereignis schneidet in einem Augenblick die teuersten Hoffnungen bis an die Wurzel ab, zerstört die liebsten Pläne oder raubt der Familie die nötigen Existenzmittel. So sind heiteres Wetter und Stille immer etwas Unsicheres und meist von geringer Dauer. Man muß stets auf ein Unwetter gefaßt sein, gerade so wie die Matrosen eines Schiffes in schwierigen Gewässern, die jeden Augenblick einen Sturm erwarten können und deshalb in steter Bereitschaft sind, der drohenden Gefahr zu begegnen, und alle Rettungsmittel klar halten müssen. Wie sehr sind diejenigen zu beklagen, welche das Meer des Lebens, das so oft vom Sturme bewegt wird, durchschiffen ohne jene lebendige Hoffnung, „welche wir als einen sicheren und festen Anker der Seele haben, der auch in das Innere des Vorhangs hineingeht, wohin Jesus als Vorläufer für uns eingegangen ist“! (Heb 6, 18–20.) Mit Jesu brauchen wir den schlimmsten Sturm nicht zu fürchten; ohne Ihn ist die tiefste Stille gefährlich. Betrachten wir die erschreckten Jünger in ihrem gebrechlichen Fahrzeug. Der Wind ist ihnen entgegen und wirft ihr Schifflein hin und her. Sie kämpfen gegen die Schwierigkeiten an und quälen sich mit Rudern. Die Nacht ist finster und die Gefahr dringend; denn „das Schiff war mitten auf dem See“. Und was noch schlimmer war, sie waren allein, Jesus war nicht bei ihnen.

Welch ein getreues Bild der Umstände, durch welche der Christ gehen muß, und die ihm oft zu einer schmerzlichen Prüfung werden! Dichter und dichter ballen sich die Wolken über seinem Haupte zusammen, die Winde sind ihm entgegen, und tiefe Finsternis hüllt ihn von allen Seiten ein. Wie viele Gefahren drohen ihm! Und dabei scheint Jesus so fern zu sein! Der Augenblick ist günstig für den Feind der Seelen, um seine feurigen Pfeile auf die bedrängte Seele abzuschießen; und er läßt diese Gelegenheit sicher nicht unbenutzt vorübergehen. Er sucht den Gläubigen durch Zweifel niederzudrücken, durch Unglauben zu erschüttern, ihn zu erschrecken, indem er seine Blicke auf sich selbst lenkt und ihn an seine Fehler erinnert, an seinen Kleinglauben oder an seine mangelhafte Frömmigkeit. Auch kann es sein, daß der Christ falschen und fremden Lehren ausgesetzt wird, ohne die nötige geistliche Fähigkeit zu besitzen, sie zu unterscheiden und zurückzuweisen. Ein anderes Mal wird er durch eine lange und schmerzhafte Krankheit geprüft, die ihn gar zu einem Gegenstand des Ekels für seine Umgebung macht (vergl. Hiob 19, 17–20), oder er verliert sein Hab und Gut und wird von stets wachsenden Sorgen und Ängsten gequält. Vielleicht verliert er seine langjährige Stellung und steht da ohne die Arbeit, die doch ihn und die Seinigen ernährt; oder er muß sich Beleidigungen und Schmähungen von seiten der Feinde gefallen lassen, oder, was noch schmerzlicher ist, die Gleichgültigkeit und Unbeständigkeit seiner Freunde erfahren. Wie viele Eltern seufzen auch über ihre Kinder! Sie müssen sehen, wie diese trotz aller Bitten und Warnungen den breiten Weg wählen, und wie sie ihre Liebe und Sorge mit Undankbarkeit und Auflehnung belohnen. Andere beweinen ihre Lieben, welche der Tod ihnen genommen, und nichts vermag die Lücke, die sie gelassen haben, auszufüllen. O wie viele finstere Wolken hängen oft über dem treuen Jünger, bis endlich ein Lichtstrahl sich durch das Dunkel Bahn bricht in sein Herz, ihn erfreut und still macht inmitten der Gefahren und Trübsale!

Vielleicht findet der Leser dieses Bild zu düster und meint, der Weg des Christen könne doch nicht so viele und große Schwierigkeiten aufweisen. Wenn ich, so überlegt er vielleicht, der Gegenstand solch zärtlicher und beständiger Liebe des Herrn Jesu bin, wenn er mein Heiland, mein Beschützer und Freund ist, wie können dann solche Trübsale an mich herantreten, solch schwere Schläge mich treffen? Ich antworte darauf: Die Jünger haben sich in Schwierigkeiten befunden, und doch war Jesus auf der Erde! Seine Gegenwart bewahrte sie nicht vor dem Sturm, und doch war Er nicht gleichgültig im Blick auf sie. Darum, mein lieber Leser, sei weder erstaunt noch niedergeschlagen, wenn es dir manchmal so scheint, als wärest du auf einem sturmgepeitschten Meere, dessen Wellen sich unter dem schweren Druck der widrigen Winde rund um dich her auftürmen. Wer könnte annehmen, daß das Meer immer still bliebe? Nein, der Weg des Christen zeichnet sich viel mehr durch Prüfungen aus, als durch ein von Leiden Verschontbleiben. Wir haben schon darauf hingewiesen, „daß wir durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen müssen“. (Apstgsch. 14, 22.) Der Herr sagt uns nirgendwo, daß uns kein Sturm und Unwetter begegnen würde, aber Er versichert uns Seiner zärtlichsten Teilnahme in der Prüfung und verheißt uns Hülfe und Befreiung, sobald der Zweck, den Er im Auge hat, erreicht ist. „Keine Versuchung hat euch ergriffen“, sagt der Apostel, „als nur eine menschliche; Gott aber ist treu, der nicht zulassen wird, daß ihr über euer Vermögen versucht werdet, sondern mit der Versuchung auch den Ausgang schaffen wird, so daß ihr sie ertragen könnt“. (1. Kor 10, 13.) Die Heiligen aller Zeiten sind geprüft worden und haben Stürme aushalten müssen. Der Herr Jesus selbst hat gesagt: „Alle deine Wogen und deine Wellen sind über mich hingegangen“, und: „mit allen deinen Wellen hast du mich niedergedrückt“. (Ps 42, 7; 88, 7.) Er mußte in allem den Brüdern gleich werden und „ist in allem versucht worden in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde“. (Heb 2, 17 etc.; 4, 15.) „Geliebte“, sagt Petrus, „laßt euch das Feuer der Verfolgung unter euch, das euch zur Versuchung eschieht, nicht befremden, als begegne euch etwas Fremdes.“ (1. Pet 4, 12.)

Man trifft zuweilen gottesfürchtige Leute, die wohl zugeben, daß fleischliche und weltliche Christen zu ihrer Warnung und Züchtigung von Prüfungen aller Art heimgesucht werden, aber sie können nicht gut verstehen, daß auch solche davon betroffen werden, die in ihrem Wandel geistlich und treu sind. Das ist ein Irrtum, von dem man nach kurzem Nachdenken zurückkommen muß. Betrachten wir nur Jesum, den in Seinem Gehorsam und in Seiner Abhängigkeit vollkommenen Menschen. Niemals ist Er von dem Pfade des Willens Seines, Vaters abgewichen, und doch sagt Er zu Seinen Aposteln: „Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen“. (Lk 22, 28.) Ja, von der Krippe bis zum Kreuze war Sein Weg mit Prüfungen und Leiden besät. Wie oft und mit welcher Heftigkeit ist der Sturm gegen Ihn losgebrochen, besonders in dem Augenblick, als Sein Gehorsam am Kreuze seinen Höhepunkt erreichte!

Paulus war ein hervorragender Apostel, ein dem Herrn völlig ergebener Diener; er konnte sagen: „Seid meine Nachahmer, gleichwie auch ich Christi“; aber auch er war Prüfungen und Drangsalen aller Art ausgesetzt, wie die folgenden Stellen es beweisen: 2. Kor 1, 3–10; 4, 7 etc.; 6, 4–10; 11, 23 etc.; ohne den Dorn zu rechnen, der ihm für das Fleisch gegeben war (2. Kor 12), damit er in der Demut erhalten bliebe. Johannes, der Jünger, den Jesus liebte, ist keineswegs von Trübsalen verschont geblieben, wie wir dies aus Offbg. 1, 9 ersehen. Und auch der Schriftabschnitt, mit welchem wir uns eben beschäftigen, beweist, daß der Sturm sich selbst dann gegen uns erheben kann, wenn wir in vollständigem Einklang mit dem Willen des Herrn handeln.

Die Jünger hatten sich nicht ohne Seinen Befehl eingeschifft, und trotzdem überfiel sie der Sturm. Als der Herr sie nötigte, in das Schiff zu steigen, wußte Er, daß der Wind sich erheben würde. Denn von Ihm wird gesagt: „Er spricht und bestellt einen Sturmwind, der hoch erhebt seine Wellen“. (Ps 107, 25.) Liebe Freunde, hüten wir uns deshalb wohl, den Erfolg als einen Beweis treuer Pflichterfüllung zu betrachten. Andererseits sind die Schwierigkeiten, denen wir auf unserem Wege begegnen, wenn wir uns vom Worte Gottes leiten lassen, keineswegs ein Beweis, daß wir uns getäuscht haben. Nein, Er, der Seine teuer Erkauften leitet, hat auch die Ereignisse in Seiner Hand, die großen und die kleinen, die, welche uns erfreuen, und die, welche uns betrüben und erschrecken. Es mag Sein Wille sein, daß der Sturm uns erreiche. Er kennt die Schwierigkeiten des Weges, den Er uns gehen heißt, im Voraus. Und der Glaube wendet sich niemals zurück. (Heb 11, 15.) Als der Wind ihnen entgegenblies, hätte in den Jüngern wohl der Wunsch wach werden können, an das Ufer zurückzukehren, das sie verlassen hatten, umsomehr als ihr Meister sich noch dort befand und der Wind ihnen in dieser Richtung günstig gewesen wäre. Aber Jesus hatte ihnen den Befehl gegeben, „an das jenseitige Ufer“ zu fahren, und so ruderten sie tapfer weiter, obwohl sie kaum vorwärts kamen. Sie waren nicht für den widrigen Wind verantwortlich, wohl aber dafür, daß sie ihrem Meister gehorchten und zur Ausführung Seines Befehls alle Anstrengungen machten.

So darf auch uns keine Schwierigkeit auch nur für einen Augenblick auf dem Wege des Gehorsams aufhalten. Unser Schifflein muß immer dem Befehle unseres Meisters gemäß seinen Kurs nehmen; das Steuerruder darf sich nicht verrücken, mögen auch die Wellen mit erschreckender Gewalt gegen uns anstürmen, ja, uns vielleicht für einen Augenblick zurückzudrängen scheinen. Wir kommen doch vorwärts, wenn wir nur mit Ausdauer gegen sie ankämpfen. Jesus sichert uns den Sieg zu, wenn wir treu bleiben. Es ist besser, alles zu verlieren, wenn es Sein Wille sein sollte, als durch ein Zurückweichen vor dem Sturm irgend einen zeitlichen Vorteil zu erringen. Es wäre selbst besser, im Sturme umzukommen, als sein Heil in einer Flucht zu suchen, die im Grunde nichts anderes wäre als Auflehnung gegen Gott; „denn wer irgend sein Leben erretten will, wird es verlieren; wer aber irgend sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden“. (Mt 16,25.)

Aber wo ist Jesus, während die Jünger gegen Wind und Wellen kämpfen? Hat Er sie vergessen? Nein; wie wäre das möglich? Allein mit Gott oben auf dem Berge, beschäftigt Er sich mit ihnen in Seinem Gebet; Er trägt sie auf Seinem Herzen, denn Er war nicht unbekannt mit ihrer Not, wie wir lesen: „Und als Er sie beim Rudern Not leiden sah“. Und du, mein lieber christlicher Leser, du stehst vielleicht auch gerade in einer schmerzlichen Prüfung und wirst vom Sturme hin- und hergeworfen. Die Anderen, selbst deine vertrautesten Freunde, wissen nichts davon; denn es gibt Kummer, der im Geheimen am Herzen nagt, Sorgen, die Anderen unbekannt sind, Schwierigkeiten, die man niemandem sagen kann, Lasten, die man allein tragen muß; aber je einsamer man ist, umso leichter ist es, den Herrn an dem teilnehmen zu lassen, was uns bedrückt. Ihm ist nichts verborgen; Er kennt die verstecktesten Schmerzen, die geheimsten Sorgen und Kümmernisse unseres Herzens, gerade so wie die Gefahren auf unserem Wege, von denen wir selbst vielleicht gar keine Ahnung haben: Er weiß alles.

Er kannte die Gefahr, in die Sein Jünger Petrus sich begab, als dieser, auf seine eigene Kraft bauend, seinem Meister folgen wollte, selbst wenn der Weg ins Gefängnis oder in den Tod führen würde. Und indem Er ihm seine törichte Selbstüberhebung vorhielt, sagte Er: „Ich aber habe für dich gebetet, auf daß dein Glaube nicht aufhöre“. (Lk 22, 31. 32.) Achten wir darauf, daß Jesus nicht sagt: „Ich werde für dich beten“, sondern: „Ich habe für dich gebetet“. Seine Fürbitte geht also unseren Gefahren voraus, den Stürmen, durch die wir hindurch müssen, oder den Trübsalen, die wir zu erleiden haben; denn es heißt in 1. Pet 1, 6: „Die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es nötig ist, betrübt seid durch mancherlei Versuchungen“.

Köstliche Wahrheit! O welch eine unendliche Gnade ist es, zu wissen, daß der Herr droben sich mit uns beschäftigt, damit die Gnade Gottes uns im gegebenen Augenblick zu Hülfe komme! (Heb 4, 14 etc.) Wahrlich, das erweckt Vertrauen in der Seele und gibt dem Herzen Freiheit, sich dem Gnadenthron zu nahen.

Mein Leser, bist du vielleicht gedrückt und niedergeschlagen? Dann fasse Vertrauen, der Herr denkt an dich und beschäftigt sich mit deinen Bedürfnissen. Er ist nicht wie Mose, dessen Hände schlaff wurden und herabsanken, was für den Augenblick Amalek, dem Feinde des Volkes Gottes, den Sieg gab. (Vergl. 2. Mose 17, 8 etc.) Es heißt von Christo: „Dieser aber, weil Er in Ewigkeit bleibt, hat ein unveränderliches Priestertum. Daher vermag Er auch völlig zu erretten, die durch Ihn Gott nahen, indem Er immerdar lebt, um sich für sie zu verwenden.“ (Heb 7, 24. 25.) Fasse darum nur Mut und habe Vertrauen! Der Sturm mag schrecklich sein, die Prüfung lang und schmerzlich, aber der Herr weiß es. Er sieht, wie du leidest und dich abmühst, gerade so wie Er die Jünger „beim Rudern Not leiden sah“: und du darfst überzeugt sein: in dem Augenblick, wo es nötig ist, wird Er eingreifen.

In Joh 6, 19 lesen wir: „Als sie nun etwa fünfundzwanzig oder dreißig Stadien gerudert hatten“, und in dem Bericht des Markus: „Um die vierte Nachtwache“. Lieber Leser! der Weg ist genau abgemessen, und die Tage und Stunden sind gezählt, „Ihr werdet Drangsal haben zehn Tage“, wird den Leidenden in Smyrna gesagt (Offbg. 2, 10), aber ihr werdet nicht über euer Vermögen versucht werden. Fünfunddreißig Stadien würde das Glaubensmaß der Jünger überstiegen haben; „um die vierte Nachtwache“ war der richtige Augenblick, sowohl für das Herz des Herrn als auch für den Glauben der Jünger.

Allerdings vermag nichts so sehr die Armut unseres geistlichen Zustandes, unseren Mangel an Glauben und Vertrauen zu offenbaren wie die Stürme, die entfesselten Elemente, die Prüfungen und Schwierigkeiten des Weges, und besonders solche, welche die empfindlichsten Stellen der natürlichen Neigungen unserer Herzen berühren. Das zeigt uns auch unsere Geschichte. Wenn die tiefe Dunkelheit der Nacht den Herrn nicht hinderte, Seine Jünger beim Rudern Not leiden zu sehen, könnte dann das tobende Meer ein Hindernis für Ihn sein? für Ihn, von dem es heißt: „Dich sahen die Wasser: sie bebten; ja, es erzitterten die Tiefen... Im Meere ist dein Weg, und deine Pfade in großen Wassern, und deine Fußstapfen sind nicht bekannt“? (Ps 77, 16. 19.) Nein, mein lieber Leser, die bewegten Fluten waren für Jesum kein Hindernis; Er konnte sich durch die schäumenden Wogen hindurch einen Weg bahnen, um Seinen in Not befindlichen, geliebten Jüngern zu helfen, und sie hätten ganz getrost sein können. Aber ach! sie waren viel zu sehr hingenommen von der Gefährlichkeit ihrer Lage und der Dauer ihres Kampfes gegen die tobenden Wellen; wahrscheinlich dachten sie auch wenig oder garnicht an die Liebe, die das Herz Jesu für sie erfüllte, noch auch an Seine Macht, der nichts zu widerstehen vermag. Wenn sie solche Gedanken gehabt hätten, würden sie Ihn gewiß nicht für „ein Gespenst“ gehalten haben. Nein, Sein wunderbares Eingreifen wäre ihnen ganz natürlich vorgekommen, so merkwürdig und unerwartet Sein Kommen auch war.

Lieber Leser! ist es bei uns nicht leider auch oft so? Wenn die Prüfung heiß wird und ihre Dauer alles Maß zu übersteigen scheint, so geht es uns wie dem Zacharias, dem Vater Johannes des Täufers. Er hatte kein Kind, weil sein Weib unfruchtbar war. Das war für ihn, einen Israeliten, eine schwere Prüfung, und er machte sie zum Gegenstand anhaltenden Gebets. (Vergl. Lk 1, 7. 13.) Aber siehe da, als Gott ihn nun erhörte, konnte er es nicht glauben, sondern blickte auf die Umstände, anstatt auf Gott. (V. 18.) Das hielt allerdings weder die Gnade Gottes, noch Seine barmherzigen Absichten im Blick auf Israel auf, aber Zacharias mußte die Folgen seines Unglaubens tragen: er wurde für eine Zeit stumm. Die Not der Jünger, ihr Geschrei, als sie Jesum auf dem Meere wandeln sahen, hielt den Herrn nicht zurück. Im Gegenteil, Er beeilte sich, sie zu beruhigen, indem Er ihnen zurief: „Seid gutes Mutes, ich bin’s; fürchtet euch nicht!“ So zerstreute Er durch Seine gnädigen und liebevollen Worte die Bestürzung, mit welcher Seine außergewöhnliche Erscheinung die Herzen der Jünger erfüllt hatte: und Er tat das, bevor Er den Wind und das Meer stillte. Sein Name sei in alle Ewigkeit dafür gepriesen, daß nichts Seine Gnade aufzuhalten und nichts uns von Seiner Liebe zu trennen vermag!

„Ich bin's;“ ja, das war Seine Stimme, das waren Seine Worte: „Seid, gutes Mutes, ich bin's; fürchtet euch nicht!“ Welch wohltuender Balsam für die, Herzen der Jünger, die Ihn nicht erkannt hatten, weil Er in so geheimnisvoller Weise erschienen war! Nein, es war kein Gespenst. Wie töricht ist der Mensch, wenn, er sich von seiner Einbildung und seinen augenblicklichen Eindrücken beherrschen läßt! Aber Jesus überließ Seine Jünger nicht länger ihren törichten Gedanken und der Gefahr der entfesselten Elemente. Seine sanfte Stimme, Seine liebreichen Worte beruhigen ihre Herzen, und Seine Gegenwart im Schiffe stillt den Wind und das Meer. „Und Er stieg zu ihnen in das Schiff, und der Wind legte sich.“ Welch ein plötzlicher Wechsel! Wie werden die armen Jünger erleichtert aufgeatmet haben, und wie werden ihre Herzen von den widersprechendsten Gefühlen erfüllt gewesen sein, von Freude und Trauer, von Dankbarkeit und Schmerz!

Aber Jesus war bei ihnen, sie hatten Seine Stimme vernommen: „Ich bin's; fürchtet euch nicht“. Ihre Herzen waren still geworden, sowohl im Blick auf die wirkliche Gefahr, als auch auf den Schrecken, den ihre törichte Einbildung ihnen eingejagt hatte. Es war kein Gespenst: es war Jesus, ihr Meister und Freund, ihr Beschützer und Heiland. In wie vielen Umständen hatten sie bereits Seine zärtliche Güte, Seine Liebe und Treue erfahren! Und doch kannten sie damals die Liebe Jesu noch nicht so, wie sie sie später kennen lernten, und wie wir sie heute kennen. Ja, wir kennen sie als eine Liebe, die Ihn nicht nur zu uns herabgeführt hat, um uns zu helfen und zu segnen, sondern die Ihn trieb, das Kreuz zu erdulden, die Ihn leiden und sterben ließ an unserer Statt als das göttliche Sühnopfer – eine Liebe, die Ihn dahin brachte, die schreckliche Strafe, die wir verdient hatten, auf sich zu nehmen, jenes Verlassensein von Gott, das für uns ewige Dauer gehabt haben würde. O wie finster waren jene drei Stunden, durch die Er am Kreuze ging, als Gott Sein Antlitz von Ihm abwandte, weil Er es auf sich genommen hatte, für uns zur Sünde gemacht zu werden. Er, der doch keine Sünde kannte! Und warum geschah das alles? Damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm. Welch eine Liebe offenbart uns der Schmerzensschrei, der Seinen Lippen am Ende jener feierlichen Stunden entfuhr: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“!

Auf diese Weise hat Jesus „die Reinigung der Sünden“ gemacht und, nachdem das herrliche Werk vollbracht war, sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe. Und dort ist Er „derselbe gestern und heute und in Ewigkeit“. (Heb 1, 3; 13, 8.) Und ob Er auch mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt ist, so hat Sein Herz sich doch nicht verändert. Er hört unser Bitten und Flehen, wie wir dies aus den Worten erkennen, die Er einst an Seinen demütigen Jünger Ananias richtete im Blick auf Saul von Tarsus. „Siehe, er betet“, sagte Er. Hat Er nicht auch das inbrünstige Flehen derer gehört, die im Hause der Maria zu Jerusalem versammelt waren und für Petrus beteten? Lieber Leser! Wie es damals war, so ist es heute noch; Er hört dich, ja, Er trägt dich auf dem Herzen.

Doch kehren wir zu unserem Text zurück. War die Prüfung für die Jünger vorüber, als Jesus zu ihnen in das Schiff gestiegen war und der Wind sich gelegt hatte? Ja, was die äußeren Umstände anging; aber es folgten noch einige Herzens- und Gewissensübungen, die zu allen Zeiten für die Erlösten des Herrn ebenso notwendig wie segensreich sind. Ach, wie sind wir so geneigt, auf Menschen und Umstände zu blicken und nach zweiten oder nebensächlichen Ursachen zu forschen in den Wegen, die Gott uns führt, und in den Dingen, die Er über uns kommen läßt, anstatt Ihn in allem zu sehen! Der eine meint:  „Mir ist zufällig dies oder das zugestoßen“; ein anderer: „Der oder der ist schuld daran“; ein dritter: „Wenn ich dies oder das nicht getan hätte“, oder auch: „Wenn ich nur vorsichtiger gewesen wäre“ u.s.w. Aber Jesus sagt uns: „Ich bin's“. Bin ich arm oder hülflos oder krank, oder in Trauer um einen geliebten Menschen, der mir genommen ist, oder in Sorge um mein Geschäft oder meine Familie, – welcher Art der Sturm auch sein, von welcher Seite, oder mit welcher Gewalt er auch wehen mag, der Herr sagt immer: „Ich bin's!“ Es mag sein, daß unser Leichtsinn, unser Unverstand oder unsere Anmaßung uns in prüfungsvolle Verhältnisse oder gar in eine Lage gebracht haben, die uns tief niederbeugt, und das anerkennen zu müssen, ist peinlich und demütigend; aber nichts geschieht ohne die weise Zulassung des Herrn und ohne Seine Leitung. Es ist wahr, daß die schärfsten Ruten diejenigen sind, die man sich selbst geschnitten hat, aber auch darin können wir die Weisheit des Herrn erkennen.

Viele Greise beklagen die Torheiten ihrer Jugend und möchten sie gern ungeschehen machen; aber der Herr gebraucht gerade das zu ihrer Erziehung und Belehrung. Wenn man die Dinge und Umstände unmittelbar aus der Hand des Herrn annimmt, so sieht sich alles sogleich ganz anders an, und man gewinnt Zeit; im entgegengesetzten Fall verliert man köstliche Segnungen. Ich habe immer so gern die Stelle lesen hören: „Daß man alle Gefangenen der Erde unter seinen Füßen zertrete, das Recht eines Mannes beuge vor dem Angesicht des Höchsten, einem Menschen unrecht tue in seiner Streitsache: sollte der Herr nicht darauf achten? Wer ist, der da sprach, und es geschah, ohne daß der Herr es geboten? Das Böse und das Gute, geht es nicht aus dem Munde des Höchsten hervor? Was beklagt sich der lebende Mensch? über seine Sünden beklage sich der Mann!“ (Klgl 3, 34–39; siehe auch Jes 45, 5–7; vergl. 1. Sam 3, 18 und 2. Sam 16, 10–14.)

In unserer Erzählung lesen wir, daß die Jünger „sehr über die Maßen bei sich selbst erstaunten und sich verwunderten“. Man wird vielleicht sagen: „Das war ganz natürlich“. Aber was der Heilige Geist hinzufügt, scheint uns doch auf eine andere Ursache aufmerksam zu machen; wir lesen: „Denn sie waren durch die Brote nicht verständig geworden, denn ihr Herz war verhärtet“, Die Art des Eingreifens des Herrn war ohne Zweifel auffallend, und es war Grund zum Verwundern vorhanden; aber wir dürfen nicht vergessen, daß die Jünger nicht die ersten Schritte auf dem Wege der Erfahrungen machten. Es war nicht das erste Mal, daß sie die Liebe und Macht ihres Herrn sich entfalten sahen. Es war nach der Erzählung unseres Evangelisten das elfte Wunder, das sich unter ihren Augen vollzog, ohne die in Kap. 1, 34; 3, 10 u. 11 zusammengefaßten mitzuzählen. Sie hatten gesehen, daß Jesus die Macht hatte, dem Winde zu gebieten und dem Meere zuzurufen: „Schweig, verstumme!“ Denn auf das Wort des Herrn „legte sich der Wind, und es ward eine große Stille“. (Kap. 4, 35–41.) Aber das Wunder, welches sie am meisten hätte verständig machen sollen, war das der Vermehrung der Brote. Da hätten sie sehen können, was der Heiland dem armen, sich selbst überlassenen Volke gegenüber war; sie hätten Sein von Mitleid bewegtes Herz sehen können, sowie Seine Macht, mit welcher Er die Speise desselben reichlich segnete und seine Armen mit Brot sättigte. (Ps 132, 15.) Aber die armen Jünger vergaßen von heute auf morgen die Wunder des Herrn, und so kam es, daß ihre Erziehung und ihr Glaube nicht gefördert wurden.

Im elften Kapitel des Evangeliums nach Johannes hören wir den Herrn zu Seinen Jüngern sagen: „Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen, daß ich nicht dort war, auf daß ihr glaubet“. Diese Worte gelten uns gerade so viel wie den Jüngern, mein lieber Leser. Wir sind in derselben Schule wie sie, und wir haben denselben Lehrer. Das geht deutlich aus der folgenden Stelle hervor: „Auch viele andere Zeichen hat nun zwar Jesus vor Seinen Jüngern getan, die nicht in diesem Buche geschrieben sind. Diese aber sind geschrieben, auf daß ihr glaubet, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und auf daß ihr glaubend Leben habet in Seinem Namen.“ (Joh 20, 30. 31.)

Und warum waren die Jünger durch das Wunder der Brote nicht verständig geworden? Und warum machen wir so wenig Fortschritte in der Erkenntnis des Herrn Jesu und Seiner alles Verständnis übersteigenden Liebe? Gott sagt uns doch: „Darum seid nicht töricht, sondern verständig“. (Eph 5, 17.) Der Schluß unserer Geschichte gibt uns Antwort auf diese Fragen. Sie lautet: „Denn ihr Herz war verhärtet“. Das Herz ist der Sitz der Gefühle und Zuneigungen, und die Gemeinschaft mit dem Herrn ist nicht Sache des Verstandes, sondern des Herzens. Es bedarf gar nicht vieler Eigenliebe, nicht vieler Selbstsucht, um jeden Fortschritt in der Erkenntnis des Herrn zu hemmen, ja, selbst uns zurückgehen zu lassen. Wir lernen das durch das Wort des Herrn: „Die Lampe des Leibes ist dein Auge; wenn dein Auge einfältig ist, so ist auch dein ganzer Leib licht; wenn es aber böse ist, so ist auch dein Leib finster. Siehe nun zu, daß das Licht, welches in dir ist, nicht Finsternis ist. Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und keinen finstern Teil hat, so wird er ganz licht sein, wie wenn die Lampe mit ihrem Strahle dich erleuchtete.“ (Lk 11, 34–36.) Das Auge der Jünger war nicht einfältig, als sie meinten, der Herr solle die verschmachtende Volksmenge fortschicken; ihr Herz war nicht zu der Liebe Gottes gerichtet. (2. Thes 3, 5.) Sind die unsrigen es immer? Ein kleiner finsterer Teil kann sich vergrößern und seinen Schatten über unser ganzes inneres Wesen werfen. Der Apostel Paulus gebraucht auch zwei auffallende Ausdrücke in seinen Gebeten für die gläubigen Epheser. In dem ersten, welches seinen Wunsch, daß sie erkennen möchten, zum Gegenstande hat, sagt er: „erleuchtet an den Augen eures Herzens“. Und in dem zweiten, in welchem er bittet, daß sie besitzen möchten, lesen wir: „auf daß Er euch gebe, nach dein Reichtum Seiner Herrlichkeit mit Kraft gestärkt zu werden durch Seinen Geist an dem inneren Menschen; daß der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne, indem ihr in Liebe gewurzelt und gegründet seid, auf daß ihr völlig zu erfassen vermöget mit allen Heiligen, welches die Breite und Länge und Tiefe und Höhe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, auf daß ihr erfüllt sein möget zu der ganzen Fülle Gottes“. (Eph 1, 18; 3, 16–19,) Die Beschäftigung mit sich selbst, wenn sie nicht Selbstgericht zum Zweck hat, verhärtet unsere Herzen, begrenzt unsere geistlichen Fähigkeiten und bringt uns immer mehr dahin, uns zum Mittelpunkt unserer Gedanken zu machen. Die Beschäftigung mit Gott, mit Seiner Liebe und Seinem Erbarmen gegen uns macht uns fähig, mit allen Heiligen den Bereich zu erfassen, wo Gottes Wesen, alles was Er ist, zur Darstellung kommt, sowie die Liebe Christi zu erkennen; wir bleiben dadurch empfindsam für Seine Interessen, Seine Herrlichkeit und das Wohl der Seinen, während wir zugleich mit Ausharren auf Seine selige Rückkehr warten.

Darum mußte der Herr Seine Jünger nötigen, an das jenseitige Ufer vorauszufahren. Seine Liebe erschöpft sich nie und ermüdet nie; wenn eine Seiner gnädigen Schickungen für uns unfruchtbar bleibt, wenn Er den Zweck, den Er sich zu Seiner Verherrlichung und uns zum Segen vorgesetzt hat, dadurch nicht erreicht, so wechselt Er mit Seiner Handlungsweise, denn Er ist ebenso reich an Mitteln wie groß an Macht. Oft aber muß der Herr, weil wir so unverständig und trägen Herzens sind zu glauben, dem Winde gebieten, sich zu erheben und unser gebrechliches Fahrzeug zu erschüttern. Dann wird der Weg rauh und die Umstände oft erschreckend; aber das Ende ist des Herrn, und die Ergebnisse gereichen uns nur umsomehr zum Nutzen. Wir lernen den Wert des Wortes „Ich bin's“ schätzen. Ja, Er ist immer bei uns, um uns die kostbare Lektion des Gehorsams, der Abhängigkeit und des Vertrauens zu lehren.Er gebe uns, aufmerksame und willige Jünger zu sein, die in den Fußstapfen ihres göttlichen Vorbildes wandeln!