Ein Abschnitt aus dem 28. Kapitel aus dem Propheten Jesaja hat schon manche Frage aufgeworfen. Wollen wir uns diese Verse (7–13) einmal etwas näher ansehen?

Und auch diese wanken vom Wein und taumeln von starkem Getränk: Priester und Prophet wanken von starkem Getränk, sind übermannt vom Wein, taumeln vom starken Getränk; sie wanken beim Gesicht, schwanken beim Rechtsprechen. Denn alle Tische sind voll Unflat und Gespei, dass kein Platz mehr ist (Vers 7–8).

Ab Vers 7 wendet sich der Prophet an das Zweistämmereich Juda (vgl. mit Vers 14, wo die Hauptstadt Jerusalem erwähnt wird). Er prangert das Verhalten der Priester und Propheten mit scharfen Worten an. Sie, die andere unterweisen sollten, feiern Orgien. Es geht bei ihnen zu wie bei der Flatrate-Sauferei in den Diskos von heute.

Wen soll er Erkenntnis lehren, und wem die Botschaft verständlich machen? Denen, die von der Milch entwöhnt, die von den Brüsten entfernt sind? (Vers  10).

Wen soll Gott Erkenntnis lehren, wenn die religiösen Führer des Volkes vernebelte Sinne haben? Soll er sich an die kleinen Kinder wenden, die gerade entwöhnt wurden? Wahrscheinlich wäre diese noch geistlich empfänglicher als diese Priester und Propheten.

Denn es ist Gebot auf Gebot, Gebot auf Gebot, Vorschrift auf Vorschrift, Vorschrift auf Vorschrift, hier ein wenig, da ein wenig! (Vers 11).

Viele Ausleger verstehen darunter, dass dies die spottenden und gleichzeitig lallenden Worte der betrunkenen Priester und Propheten seien. Dementsprechend heißt es in der Lutherbibel: „Zawlazaw zawlazaw, kawlakaw, kawlakaw, hier ein wenig, da ein wenig! [Die Worte, die das Lallen der Trunkenen nachahmen und nicht übersetzt werden können, sollen die Redeweise des Propheten verspotten.]“ Diese Deutung ist sicherlich nicht unmöglich. Aber mir mutet es etwas seltsam an, dass Gott die Worte von Betrunkenen in dieser Weise in sein Wort aufnehmen sollte.  Könnte man es nicht so verstehen: Das Wort des Herrn empfinden die religiösen Führer nur als eine drückende Last. Sie hören (wie Kinder) nur Gebote und der Sinn und die Schönheit des Wortes Gottes bleibt ihnen völlig verborgen; sie haben keine Erkenntnis. Die lautmalerische Wendung im Hebräischen mag schon eine versteckte Anspielung auf die Trunkenheit (und auf die zuvor erwähnten Kinder) sein, aber eben nicht ein direktes Zitat. Vers 13 bestätigt diesen Gedanken.

Ja, durch stammelnde Lippen und durch eine fremde Sprache wird er zu diesem Volk reden,   er, der zu ihnen sprach: Dies ist die Ruhe, schaffet Ruhe dem Ermüdeten; und dies die Erquickung! Aber sie wollten nicht hören (Vers 11–12)

Gott wird zu diesem Volk nun auf eine ganz andere Weise sprechen. Vorher redete er klar durch den Propheten und er sprach von Ruhe und Erquickung. Jetzt würde er eine fremde Macht, die Assyrer, in das Land senden: Sie müssten nun die fremden, unverständlichen Worte (unverständlich sind die Worte eines Betrunkenen auch) der Feinde und Bedrücker hören, was ihnen klarmacht, dass Gott sie verworfen hat. Das ist auch eine Sprache Gottes; so redet er jetzt zu ihnen!

Und so wird ihnen das Wort des HERRN sein: Gebot auf Gebot, Gebot auf Gebot, Vorschrift auf Vorschrift, Vorschrift auf Vorschrift, hier ein wenig, da ein wenig; damit sie hingehen und rücklings fallen und zerschmettert werden und verstrickt und gefangen werden (Vers 13).

Es wird ihnen weiterhin das Wort Gottes nur wie ermüdende Gebote erscheinen. Sie verstehen nicht, dass Gott sie doch zur Ruhe führen wollte. Sie haben die Erkenntnis nicht gewollt und jetzt verdunkelt Gott ihren Sinn, damit sie das nicht mehr erkennen können, was sie ohnehin nicht erkennen wollten. Gott tut das, damit sie fallen und gerichtet werden.

Vermerken möchte ich noch, dass der Apostel Paulus in 1. Korinther 14,21–22 aus Jesaja 28 zitiert (und zwar aus der griechischen Übersetzung des AT, der sog. Septuaginta): „In dem Gesetz steht geschrieben: ‚Ich will in anderen Sprachen und durch andere Lippen zu diesem Volk reden, und auch so werden sie nicht auf mich hören, spricht der Herr’“ (1. Korinther 14,21). Daher sind die Sprachen zu einem Zeichen, nicht den Glaubenden, sondern den Ungläubigen.“  Das Reden in Sprachen zu Anfang der Christenheit war ein Zeichen für die ungläubigen Juden (um denen es schon Jesaja ging). Dass die Juden in ihrem Land zur Zeit Jesajas die Assyrer reden hörten, war ein Zeichen des Gerichts. Dass die Juden in ihrem Land Menschen hörten, die die großen Taten Gottes in Sprachen verkündigten, die sie nicht gelernt hatten, war auch ein Zeichen des Gerichts: Israel war als Volk nicht mehr anerkannt und Gott wandte sich zu den Nationen. Gott reizte auf diese Weise sein Volk zur Eifersucht (Römer 10,19). Aber auch damit hat der gute Gott Gutes im Sinn: Er wollte die Juden zu den geöffneten Schleusen der Gnade führen! Das führt uns allerdings auf ein anderes, weitläufiges Gebiet, das wir in diesem Rahmen nicht weiter erforschen können.