Um in die Schönheit dieses Psalms eindringen zu können, ist es wichtig, die Struktur zu erkennen. Der erste Vers zeigt uns das Thema des Psalms – die Segnungen dessen, der im Schutz (o. im Verborgenen o. Schirm) des Höchsten sitzt. Im zweiten Vers hören wir die Stimme Jesu, der diesen Platz verborgener Gemeinschaft mit Gott einnimmt. Das wissen wir aus Hebräer 2,13, wo der Apostel Paulus die Worte „auf ihn will ich vertrauen“ als Worte Christi zitiert. Haben wir dann in Vers 3 bis 8 nicht das Zeugnis des Heiligen Geistes über die Segnungen für den, der in diesem Schirm sitzt? In den folgenden Versen 9 bis 13 hören wir die Stimme eines gottesfürchtigen Menschen, der den HERRN „meine Zuflucht“ nennt, und der Zeugnis ablegt von der Herrlichkeit Jesu. Schließlich endet der Psalm in den Versen 14 bis 16 mit dem Zeugnis des HERRN über die Segnungen die das Teil dessen sind, der im Verborgenen sitzt und dessen Liebe Gott gehört.

Verse 1–2: Was müssen wir unter „im Verborgenen sitzen” verstehen, womit doch solche Segnungen verbunden sind, wie es jede Stimme dieses Psalms bezeugt? Redet es nicht – neutestamentlich gesprochen – von dem mit göttlichen Personen gelebten inneren Leben der verborgenen Gemeinschaft? Ist es nicht dieses Leben, von dem der Herr spricht mit den Worten „Wenn ich dich nicht wasche, hast du kein Teil mit mir“, und später „Bleibet in mir“?  Stellt uns der Apostel Johannes nicht genau dieses verborgene Leben vor, wenn er schreibt: „unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus“ (Joh 13,8; 15,4–7; 1. Joh 1,3)? Ein Teil mit Christus zu haben und in Ihm zu bleiben bedeutet, in Gemeinschaft mit Ihm zu leben, da, wo Er ist. Solch ein Leben zu leben ist das „Sitzen im Verborgenen.“

Der Psalm spricht nicht von dem äußeren Leben vor Menschen, sondern von dem inneren Leben im Verborgenen vor Gott. Der Psalm spricht auch nicht von gelegentlicher Gemeinschaft, sondern von einer dauerhaften Erfahrung der Seele, denn er spricht von dem der „sitzt im Verborgenen.“ Wir wissen, dass es nur einen Menschen gab, der in dieser ununterbrochenen Gemeinschaft mit Gott lebte – der Mensch Christus Jesus, der, als Er auf der Erde war, von sich reden konnte als von dem „Sohn des Menschen, der im Himmel ist“ (Joh 3,13). Er ging Seinen Weg auf der Erde, aber Er lebte im Himmel. Und obwohl die Erfahrungen dieses Psalms in ihrer ganzen Fülle nur auf Christus zutreffen, sind sie doch ein vollkommenes Beispiel für den Gläubigen.

Das äußere Leben Christi auf der Erde, gekennzeichnet durch vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Vater, Gnade gegenüber Sündern, Treue im Zeugnis, Heiligkeit im Wandel, verbunden mit Sanftmut, Demut, Freundlichkeit und Liebe, war der Ausfluss Seines inneren Lebens in Gemeinschaft mit Seinem Vater. Bei dem geistlichsten Gläubigen wird dieses Leben nur unvollkommen gelebt, aber Er lebte es in absoluter Vollkommenheit. Müssen wir nicht zugeben, dass wir oft zu sehr um unser äußeres Leben vor den Menschen besorgt sind, während wir unser verborgenes Leben, von dem nur Gott etwas kennt, vernachlässigen? Führt nicht der Herr selbst den ganzen Ruin der unter Verantwortung stehenden Kirche darauf zurück, dass sie versäumt hat, dieses innere Leben zu leben? In der Versammlung in Ephesus musste der Herr, bei allem, was Er anerkennen konnte in ihrem äußeren Eifer und ihrer Ablehnung des Bösen, doch sagen: „Du bist gefallen.“ Dieser Fall ist auf das Verlassen der ersten Liebe zurückzuführen. Sie hatten aufgehört, dieses verborgene Leben der Gemeinschaft mit Christus zu leben.

In den Zusagen an den Überwinder inmitten des Verfalls der Kirche wird uns Christus als der Baum des Lebens und als das verborgene Manna vorgestellt. Der Baum des Lebens zeigt uns Christus in der himmlischen Heimat – den Menschen in der Herrlichkeit – als den Gegenstand unser Seelen. Bei dem verborgenen Manna denken wir an Christus in Seinem Weg auf der Erde – der demütige Mensch als ein Beispiel für uns. Stellt Paulus uns nicht den Baum des Lebens vor, wenn er schreibt: „hinschauend auf Jesus“ der „sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes“? Und unmittelbar danach erinnert er uns an Christus als das verborgene Manna, indem er sagt: „Betrachtet den, der so großen Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet hat“ (Heb 12,2–3).

In diesem Psalm werden wir eingeladen, Christus als das verborgene Manna zu betrachten – als den Einen, der als Fremder durch diese Welt ging, inmitten von Versuchungen und Gefahren, in ununterbrochener Gemeinschaft mit Gott, der so seine „Zuflucht“ und „Burg“ in Gott fand – eine Zuflucht vor jedem Sturm und ein Schutz vor jedem Feind.

Verse 3–8: Wenn wir dann fortfahren in der Betrachtung der Segnungen für den, der in der verborgenen Gemeinschaft mit Gott lebt, wie sie hier durch den Geist entfaltet werden, dann lernen wir:

Erstens, dass ein solcher errettet wird „von der Schlinge des Vogelstellers und von der verderblichen Pest.” Ist die Schlinge nicht ein Bild von Bösem, das unter einem schönen Gewand verborgen ist? Der Apostel Paulus warnt uns vor der Verführung durch „überredende Worte“ (Kol 2,4), und sagt uns, dass in der bekennenden Christenheit einige im Fallstrick des Teufels gefangen werden (2. Tim 2,26). Auch Petrus warnt uns davor, dass unter den Heiligen einige gefunden werden, die heimlich verderbliche Sekten neben einführen werden (2. Pet 2,1). War es nicht eine Schlinge, die dem Herrn gelegt wurde, als böse Menschen versuchten, Ihn in Seiner Rede zu fangen und mit Schmeichelei zu Ihm kamen und sagten: „Lehrer, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und den Weg Gottes in Wahrheit lehrst und dich um niemand kümmerst“? War es nicht eine verderbliche Pest, als die Sadduzäer versuchten, zu argumentieren es gebe keine Auferstehung? In Übereinstimmung mit dem verborgenen Leben, das uns in diesem Psalm vorgestellt wird, beschreibt uns Petrus das verborgene Leben in Gottseligkeit als ein Bewahrungsmittel vor Schlingen und verderblicher Pest (vgl. 2. Pet 1,3; 3,11). Vielleicht denken wir, wir könnten den Schlingen und Irrlehren durch unsere eigene Intelligenz und Erkenntnis der Wahrheit entgehen. Aber wie bedeutend unsere Erkenntnis und unsere Gaben auch sein mögen, wenn wir nicht in verborgener Gemeinschaft sind – nicht in Christus bleiben – dann gibt es keine Schlinge, durch die wir nicht zu Fall kommen können. Bei den Korinthern sehen wir, dass ihre ganze Erkenntnis nicht ausreichte, sie vor der verderblichen Irrlehre, die die Auferstehung leugnete, zu bewahren.

Zweitens wird der, der in verborgener Gemeinschaft seinen Weg geht, durch das Wort Gottes vor jedem Angriff des Feindes bewahrt bleiben. Von ihm kann gesagt werden: „Seine Wahrheit ist Schild und Tartsche.” War das nicht auch bei dem Herrn so, als Er jeder Versuchung Satans mit den Worten begegnete, „es steht geschrieben“? Mit den Worten eines anderen Psalms sagt der Herr: „Ich habe mich durch das Wort deiner Lippen bewahrt vor den Wegen des Gewalttätigen“ (Ps 17,4). Hüten wir uns vor dem Versuch, den Attacken des Teufels mit menschlichen Argumenten zu begegnen. Irrtümern kann man nur mit der Wahrheit begegnen. Aber um die Wahrheit richtig zu gebrauchen, müssen wir in verborgener Gemeinschaft leben.

Drittens wird von dem, der in verborgener Gemeinschaft lebt, gesagt: „Du wirst dich nicht fürchten.“ Wir leben in einer Welt der Schrecken in der Nacht und der Gefahren am Tag. Eine Welt, in der es heimliches Böses und verwüstende Zerstörung gibt. Obwohl wir mit diesen Dingen von jeder Seite konfrontiert werden – wie der Text sagt „an deiner Seite“ und „an deiner Rechten“ – werden wir uns doch nicht fürchten, wenn wir in verborgener Gemeinschaft leben. Wir werden in der Prüfung bewahrt werden und zu gegebener Zeit das regierungsmäßige Gericht Gottes über die Gesetzlosen erleben.

Verse 9–13: Im Weiteren werden wir durch das Zeugnis eines gottesfürchtigen Mannes daran erinnert, dass der, der sich in verborgener Gemeinschaft aufhält, der den Herrn, den Höchsten zu seiner Wohnung setzt, seinen Weg durch diese Welt mit Geleitschutz von Engeln gehen und alles Böse überwinden wird. Auf jeder Etappe des Weges des Herrn dürfen wir die dienenden Engel sehen. Ein Engel verkündete einfachen Hirten Seine Geburt und eine Menge der himmlischen Heerscharen vereinigte sich zu Seinem Lob (Lk 2,8–14). In der Wüste, als Er von Satan versucht wurde, dienten Ihm die Engel (Mk 1,13). Im ringenden Kampf in Gethsemane erschien Ihm ein Engel vom Himmel, der Ihn stärkte (Lk 22,43). An Seinem Grab wachte der Engel des Herrn (Mt 28,2). Und in der letzten Szene, am Ende Seines Weges auf der Erde, als Er in den Himmel aufgenommen wurde, standen zwei Engel dabei (Apg 1,10). Auch für das Volk des Herrn gilt, dass Engel ausgesandt sind zum Dienst um derer willen, die die Seligkeit ererben sollen. Aber können wir nicht sagen, dass besonders der, der dem Beispiel des Herrn folgt und in verborgener Gemeinschaft mit Christus lebt, das Bewusstsein des göttlichen Schutzes haben wird und der Macht des Teufels widerstehen wird, sei es, als brüllendem Löwen, der umhergeht und sucht, wen er verschlinge (1. Pet 5,9), sei es als listiger Schlange (2. Kor 11,3) oder als verfolgendem Drachen (Off 12,3)? Wir lernen daher durch das vollkommene Beispiel Christi, dass, wenn wir in ständiger Gemeinschaft mit Gott durch diese Welt mit ihren Gefahren und Schrecken gehen, das Böse dieser Erde uns nicht überwältigen wird, die Heerscharen des Himmels über uns wachen werden und die Mächte der Hölle von uns niedergetreten werden.

Verse 14–16: Schließlich haben wir das Vorrecht, das Zeugnis Gottes selbst über Den zu hören, der in dieser Welt ein Leben der ununterbrochenen Gemeinschaft aus Liebe zu Gott lebte. In Christus hat Gott endlich einen Menschen in Wüstenumständen gefunden, von dem Er sagen kann: „Er hat Wonne an mir“; „Er kennt meinen Namen“; „Er wird mich anrufen.“ An diesem vollkommenen Menschen kann Gott seine Freude finden, und auf Seine Vollkommenheiten hat Gott eine vollkommene Antwort, wenn Er sagt: „Ich werde“ Ihn segnen. Wenn Gott sagt, „Ich werde“, wer könnte da widersprechen? Und so hören wir, dass Gott von Christus sagt:

  • „Ich werde Ihn erretten“ von jeder Schlinge;
  • „Ich werde Ihn in Sicherheit setzen“, über jede Gewalt;
  • „Ich werde Ihm antworten“, wenn Er mich anruft;
  • „Ich werde bei Ihm sein“ in Schwierigkeiten;
  • „Ich werde Ihn befreien und Ihn verherrlichen“;
  • „Ich werde Ihn sättigen mit Länge des Lebens“ in der Herrlichkeit
  • „Ich werde Ihn schauen lassen meine Rettung“ im kommenden Reich.

Das ist der Segen, der von einem „Sitzen im Verborgenen“ und damit von einem inneren Leben der Gemeinschaft ausfließt. Wenn wir dem vollkommenen Beispiel des Herrn, vorgebildet in diesem Psalm, folgen wollen, müssen wir bereit sein, unsere Füße in Seine Hände zu legen, damit alles das in unseren Gedanken und Worten, unserem Wandel und unseren Wegen, was die Gemeinschaft hindert, gerichtet und durch die Waschung mit Wasser durch das Wort abgewaschen werden kann.

Möchten wir auf Seine Stimme hören, die sagt: „Bleibet in Mir”, und mit den Worten der Jünger antworten: „Bleibe bei uns, denn es ist gegen Abend, und der Tag hat sich schon geneigt.” Werden wir nicht, wenn wir Ihm die Tür unserer Herzen öffnen, etwas von der Herrlichkeit Seiner Worte erfahren, „Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür auftut, zu dem werde ich eingehen und das Abendbrot mit ihm essen, und er mit mir“ (Off 3,20)? Wird uns das nicht in die Herrlichkeit führen, im Verborgenen zu sitzen?

[Übersetzt von Marco Leßmann aus Scripture Truth. Deutsche Erstveröffentlichung]