In den ersten siebzehn Jahren seines Lebens wuchs Joseph unter der Fürsorge seines Vaters Jakob auf. In schöner Entsprechung dazu wird der betagte Vater in den letzten siebzehn Jahren seines Lebens der Gegenstand der zarten Fürsorge seines Sohnes (1. Mose 47,28). Am Ende dieses Lebensabschnitts erreichen wir die letzte und hellste Station des ereignisreichen Lebenswegs Jakobs: die Stille der Stunden seines Sterbens, die im glänzenden Gegensatz zu seinem stürmischen Leben, voller krummer und eigenwilliger Wege, steht. In diesen heiligen und erhabenen Augenblicken wird Joseph gerufen und zusammen mit seinen Söhnen besonders bevorzugt.

Jakob – ein fleischlicher Mann – ist durch Alter und Krankheit geschwächt. Die Welt, an der er so hartnäckig gehangen hatte, enteilt seinen Blicken, seine Augen sind schwer vor Alter (Vers 10). Aber als die Stärke des Fleisches geschwächt  und der natürliche Blick getrübt ist – als alle irdischen Dinge sich immer schneller aus seiner Reichweite entfernen –, da erhebt er sich über den Verlust aller irdischer Freuden und findet in Gott seine einzige Stütze und unerschöpfliche Quelle. Deshalb gehen seine Gedanken zurück zu diesem großartigen Augenblick am Anfang seiner Wanderschaft, als Gott der Allmächtige ihm in Lus im Land Kanaan erschien und ihn dort segnete und seinen Nachkommen durch ein bedingungsloses Versprechen das Land zum ewigen Besitztum gab. Die vergeblichen Betrügereien, die armseligen Winkelzüge, die hinterhältigen Pläne, die seinen Weg so oft geprägt hatten, sind vorbei, waren vergebens; und statt einer vagen Hoffnung ruht er jetzt in der bedingungslosen Zusage des Gottes, mit dem er auch seine Reise begonnen hatte (Verse 3 und 4).

Weil es also einen Segen auf der Grundlage von Zusagen gibt, die den Nachkommen Jakobs zugesichert wurden, kann Jakob einen Segen für die Söhne Josephs beanspruchen. Jakob sagt: „Sie sollen mein sein.“ Er beansprucht sie als seine Nachkommen und demnach als Erben seines Erbteils (Verse 5 und 6).

Dann kommt er zurück auf seine eigene Geschichte und stellt sein irdisches Los der herrlichen Zukunft der Söhne Josephs gegenüber (Vers 7). Er sieht, wie sich vor ihnen und ihren Nachkommen ein großes Erbteil im Land ausdehnt, aber für ihn selbst hatte jede irdische Freude im Land Kanaan aufgehört, als seine geliebte Frau starb. Rahel war der Gegenstand seiner Liebe gewesen. Rahel war der besondere Gegenstand seiner Fürsorge am Jabbok gewesen. Rahels Söhne liebte er mehr als alle seine Söhne. Seine Liebe ließ ihn nach Rahels Tod auf ihrem Grab ein Denkmal aufstellen, um ihren Namen in ständiger Erinnerung zu bewahren. Für Rahel hatte er gelitten, geschuftet und gelebt, und ihr Grab verschloss für Jakob alle irdischen Freuden. Es ist, als ob er zu Joseph sagte: „Deine beiden Söhne haben eine herrliche irdische Perspektive vor sich, aber meine ist begraben im Grab Rahels.“ Aber der Glaube des sterbenden Patriarchen blickt über das Ende aller irdischen Freuden hinaus; und der Mann, der davon sprach, dass er in den Scheol hinabfahren muss, sieht jetzt – als seine Füße den Rand des Scheols erreicht haben – über den Tod und die Verwesung hinaus, denn wenn er von Rahels Grab „auf dem Weg nach Ephrat“ spricht, fügt er bezeichnenderweise hinzu: „… das ist Bethlehem.“ Genau der Ort, der die irdischen Freuden und natürlichen Zuneigungen im Leben Jakobs beendete, ist der Platz, woher der Eine kommen wird, der immerwährenden Segen für die Nachkommen Jakobs bringen würde. „Und du, Bethlehem, Ephrata, zu klein, um unter den Tausenden von Juda zu sein, aus dir wird mir hervorkommen, der Herrscher über Israel sein soll; und seine Ausgänge sind von der Urzeit, von den Tagen der Ewigkeit her“ (Micha 5,1). Jemand hat gesagt: „Das Grab der irdischen Hoffnungen Jakobs war der Geburtsort seiner himmlischen Hoffnung. Ephrat und Bethlehem waren ein und derselbe Ort. Tod und Auferstehung treffen sich im Ratschluss Gottes und in der Erfahrung Seines Volkes. So sicher, wie Ephrat uns den Tod bringt, so sicher wird es auch ein Bethlehem für uns werden.“

Bis hierhin hatte Jakob gesprochen, aber von jetzt an redet er als Israel. Jakob, der Mann des Fleisches, hatte sich die Vergangenheit in Erinnerung gerufen und im Tod das Ende aller seiner irdischen Hoffnungen gesehen. Jetzt, als Israel (Kämpfer Gottes), wird er die Gedanken Gottes verkünden. Als Jakob hatte er gesehen, wie der Tod die Pläne der Menschen zunichte macht. Als Israel sieht er über den Tod hinaus und entfaltet die Absichten Gottes (Verse 8–11). Doch die Augen Israels waren schwer vor Alter, sodass er nicht sehen konnte (Vers 10). Wo himmlische Dinge sich ihm öffnen, müssen ihm irdische Dinge entschwinden. Und so kommt es, dass er nicht länger an die Leiden auf dem Weg denkt, sondern an die Güte Gottes, die ihn nie verlassen hat. Er erkennt an, dass Gott es besser mit ihm gemacht hat, als er je dachte. Er sagt: „Ich hatte nicht gedacht, dein Angesicht wiederzusehen, und siehe, Gott hat mich sogar deinen Samen sehen lassen!“

Erfüllt von der Güte Gottes, verschwinden Joseph und seine Söhne für einen Moment aus seinen Gedanken und in der Gegenwart Gottes betet er an. Er hat den höchsten Augenblick seines geistlichen Lebens erreicht – er ist ein Anbeter. Aus der Bemerkung des Heiligen Geistes in Hebräer 11 lernen wir, dass das der krönende Abschluss des Glaubens im Leben Jakobs war. „Durch Glauben“, lesen wir, „segnete Jakob sterbend einen jeden der Söhne Josephs und betete an über der Spitze seines Stabes.“ Das Ränkeschmieden, das Überlisten, die Selbstsucht und die Unabhängigkeit, die seinen Weg so oft gekennzeichnet hatten, sind vorüber, und am Ende ist Jakob gekennzeichnet von Glauben, Abhängigkeit und Anbetung (Vers 12).

Das Ergebnis ist wunderbar. Als Anbeter in der Gegenwart Gottes lernt er die Gedanken Gottes kennen. Er handelt nicht länger nach dem Willen des Fleisches, sondern nach dem Befehl Gottes. Er legte seine Hände absichtlich über Kreuz, die Rechte auf den Jüngeren und die Linke auf den Älteren (Verse 13 und 14). Dann segnet Jakob Joseph, doch er tut das, indem er Josephs Söhne segnet, denn der Segen, den er ausspricht, ist für „die Knaben.“ Er spricht von Gott entsprechend seiner Erfahrungen mit Gott. Es ist „der Gott, der mich geweidet hat, seitdem ich bin bis auf diesen Tag, der Engel, der mich erlöst hat von allem Übel“, in dessen Hände er die Knaben befiehlt (Verse 15 und 16). Joseph, der sich von seinen natürlichen Gedanken leiten ließ und die Souveränität Gottes, der immer entsprechend seiner Absichten segnet, nicht bedenkt, protestiert dagegen, dass Jakob dem Jüngeren die Vorrangstellung gibt. Jakob lässt sich jedoch von den natürlichen Wünschen Josephs nicht beirren. Er ist sich voll bewusst, was er tut. Er sagt: „Ich weiß es, mein Sohn, ich weiß es.“ Er handelt nicht nur in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes, er tut das auch „absichtlich.“ Seine geistliche Einsicht war nie klarer als zu dem Zeitpunkt, an dem seine natürlichen Augen schwer vor Alter wurden. Ein anderer hat gesagt: „Es gab keinen, der eine klarere Sicht hatte als Joseph, aber der sterbende Jakob hatte einen festeren und vollständigeren Blick für die Zukunft als die meisten bekannten Deuter von Träumen und Gesichten seit Beginn der Welt.“

In 1. Mose 49 wenden wir uns von der privaten Begegnung von Jakob und seinem Sohn Joseph ab und sehen die letzten Augenblicke des Lebens Jakobs, zu denen alle Söhne zusammengerufen werden, obwohl wir auch hier finden werden, dass Joseph einen bevorzugten Platz bekommt. Die zwölf Söhne Jakobs waren die Keimzelle des Volkes Israel, und daher benutzt Jakob, unter der Leitung Gottes, die verschiedenen Charaktere, um einen prophetischen Überblick über die moralische Geschichte des Volkes zu geben. Er zeigt ihnen Gottes Absicht, Israel durch Christus zu segnen, wobei der Schwerpunkt mehr auf dem Zustand der Nation liegt, der dem Eintreten in den Segen unter der Herrschaft Christi vorausgeht.

Die ersten drei Söhne stellen durch ihre Charaktereigenschaften das moralische Versagen des Volkes Israel als Nation dar, das gekennzeichnet ist durch Verdorbenheit (Ruben) und Gewalt (Simeon und Levi). Die Nation als solche wird verworfen. Gott wird nicht in ihre Versammlung kommen oder seine Ehre mit solchen verbinden, die durch Verdorbenheit und Gewalt gekennzeichnet sind. Durch solche Mittel werden die Absichten Gottes nicht zustande gebracht (Verse 3–7).

Die Erfüllung der Absichten Gottes ist verbunden mit Juda, denn aus Juda wird der König, der das Zepter führt, und der Richter, der das Gesetz gibt, aufstehen und ihm werden sich die Völker anschließen (Verse 8–12).

Der König, der aus Juda aufsteht, wird jedoch verworfen. Deshalb kommt das Volk für eine Zeit unter die Macht der Nationen, dargestellt in Sebulon und Issaschar. Diese zwei Söhne zeigen, wie die Nation durch das Streben nach Kommerz unter den Einfluss der Welt kommt und um der Bequemlichkeit willen der Welt willig ihren Tribut zollt (Verse 13–15).

In Dan sehen wir, dass das Volk durch diesen Stamm zu Fall kommt, wie ein rücklings fallender Reiter. Dan ist ein Instrument der Macht Satans und veranlasst den Abfall der Nation. Doch im dunkelsten Moment ihrer Geschichte – wenn die Masse der Macht Satans anheimfällt – wird es einen Überrest geben, der auf den Herrn blickt und auf Seine Rettung wartet (Verse 16–18).

Wenn der Überrest zum Herrn aufblickt und auf Rettung wartet, dann ist der Zeitpunkt der Befreiung gekommen, daher sehen wir in Gad die herrliche Tatsache, dass der gottesfürchtige Überrest, trotzdem er zunächst überwältigt wird und durch große Leiden gehen muss, doch am Ende überwinden wird. Überfluss an Segen für die Nation wird folgen, wie es die „königlichen Leckerbissen“ bei Aser deutlich machen (Verse 19–20).

Dann wird die befreite Nation in Lob ausbrechen, wie wir es in Naphtali sehen, die losgelassene Hirschkuh, und der, der schöne Worte gibt (Vers 21).

Das führt uns zwangsläufig zu Joseph, dem wunderschönen Bild von Christus, durch den der ganze Segen eingeführt wird. So wie er in seiner Geschichte Christus in Seiner Vorherrschaft darstellt, wählt der sterbende Jakob ihn in seinen letzten Worten dazu aus, Christus persönlich darzustellen. Christus ist der fruchtbare Zweig. Der HERR hatte Frucht bei Israel gesucht und hatte festgestellt, dass die Nation nichts als ein unfruchtbarer Weinstock war. Aber in Christus gibt es Frucht für Gott und Segen für die Menschen. Nicht nur für die „am Quell“, was von einem bevorzugten Ort spricht, dem Land Israel, sondern Segen, der über die Mauer sprießt, zu den weit entfernten Nationen. Aber der, durch den der Segen kommt, wurde einst gereizt durch die Bogenschützen, die auf Ihn schossen und Ihn hassten. Er war der von Seinen Brüdern Verworfene. Aber der von den Seinen Verworfene wird gestärkt durch den Mächtigen Jakobs, und „von dort“ ist der Hirte, der Stein Israels. „Von dort“ – von dem Ort der Schwachheit – ist Er erhöht worden auf einen Platz der Stärke. Vom Ort des Todes, an dem Er „beschossen“ wurde, wird Er aus dem Tod wiedergebracht (wie Joseph aus der Grube gebracht wurde), um der „große Hirte der Schafe“ zu sein (Hebräer 13,20). Und „der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden“ (1. Petrus 2,7).

Der verworfene, aber erhöhte Christus wird zur Quelle eines Segens, der alle bisher bekannten Segnungen weit übersteigt, denn Er wird segnen mit den „Segnungen des Himmels droben“ zusätzlich zu den „Segnungen der Tiefe, die unten liegt.“ Segnungen, die alles weit übertreffen, was das Volk in der Vergangenheit genossen hat. Die Segnungen werden über das Land hinaus bis zur „Grenze der ewigen Hügel“ gehen. Diese grenzenlose Segnung, die die Erde mit Segen erfüllen wird, wird zur Herrlichkeit und Erhöhung des einst verworfenen Christus beitragen – eine Krone der Herrlichkeit auf dem Haupt dessen, der damals der Abgesonderte unter Seinen Brüdern war (Verse 22–26).

Schließlich sehen wir in Benjamin Christus vor uns als den siegreichen König der Könige, der Sein Volk befreit, Seine Feinde vernichtet und die Früchte Seines Sieges mit Seinem Volk teilt (Vers 27).

[Übersetzt von Marco Leßmann]