Als Gott durch Mose am Sinai das Heilige Gesetz gab, konnte Israel nicht vor Gott stehen. Mose selbst sagte: „Ich bin voll Furcht und Zittern“ (Heb 12,21). Viele Jahrhunderte später erlebte der Apostel Paulus, dass ihn das Gesetz unter das Todesurteil brachte, denn er sagte: „Als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf; ich aber starb“ (Röm 7,9). Dem gegenüber stehen seine Worte über „die Gnade, in der wir stehen“ (Röm 5,2). Auf der Grundlage des Gesetzes kann nie jemand vor Gott stehen – jeder bricht zusammen und fällt hin.

Umso mehr freuen wir uns über die nachdrückliche Aussage des Paulus: „Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“ (Röm 6,14), und es ist hilfreich, zu sehen, dass der Apostel Petrus, obwohl er nicht mit der Darlegung dieses Themas betraut war wie Paulus, doch diese Tatsache durch Schlussfolgerung bekräftigt. Das sehen wir, wenn wir 1. Petrus 2,9 mit 2. Mose 19,5–6 vergleichen. Wir erkennen eine starke Ähnlichkeit, denn die Ausdrücke „königliches Priestertum“, „heilige Nation“ und „Volk zum Besitztum“ kommen fast wörtlich auch in 2. Mose vor.

Andererseits gibt es aber auch einen entscheidenden Unterschied. In 2. Mose beginnt Gott mit einem „Wenn.“ „Wenn ihr fleißig auf meine Stimme hören … werdet“, doch sie hörten nie auf Seine Stimme und waren daher auch nie das, was für sie vorgesehen war. In 1. Petrus fehlt das „Wenn“ und wir lesen stattdessen: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht.“ Die Christen, an die Petrus schrieb, waren genau das, was die Israeliten als Nation nicht waren. Was auf der Grundlage des Gesetzes nie erreicht wurde, wurde auf der Grundlage der Gnade erreicht. Wie denn? Sein erstes Kapitel zeigt es uns: Sie waren „auserwählt nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters“, „erlöst … mit dem kostbaren Blut Christi“ und „wiedergeboren … durch das lebendige und bleibende Wort Gottes“, und das alles durch die Wirksamkeit des Geistes Gottes. Das war „die wahre Gnade Gottes“, in der sie standen, wie Petrus ihnen im letzten Kapitel schreibt.

Hier finden wir also einen bemerkenswerten Gegensatz zwischen Gesetz und Gnade. Die Nation, der das Gesetz gegeben wurde, war kein auserwähltes Geschlecht, sondern vielmehr „ein verkehrtes und verdrehtes Geschlecht“ und „ein Geschlecht voll Verkehrtheit … Kinder, in denen keine Treue ist“, wie Mose zugeben musste (5. Mo 32,5+20). Das Gesetz wurde als Prüfstein gegeben und es offenbarte das Böse, das in ihnen war. Es konnte nicht das Leben geben, das sie benötigten, wie wir im Galaterbrief lesen. Gnade gibt dieses Leben und fordert uns dann auf, dieses Leben auch so auszuleben, dass es Gott gefällt und Ihn verherrlicht.

Als solche, die in der Gnade stehen, sind wir freigemacht, und in dieser Freiheit sollen wir feststehen und uns „nicht wiederum unter einem Joch der Knechtschaft halten“ lassen (Gal 5,1). Aber lasst uns darauf achten, dass wir diese Freiheit nicht in Ausschweifung verkehren. In einem Brief, der mir kürzlich in die Hände fiel, war von solchen die Rede, die meinten: „Ich bin Christ, also nicht mehr unter Gesetz, und kann daher tun, was ich möchte“, und die dann Dinge tun, die weder ihrem Herrn noch ihrem Glauben Ehre machen. Die Aussage stimmt nicht.

Es ist wahr, dass wir nicht mehr unter dem Gesetz Moses sind, weder als das Mittel zu unserer Rechtfertigung noch als unsere Lebensregel, aber es ist nicht wahr, dass wir unter überhaupt keinem Gesetz sind, denn es gibt zwei Schriftstellen, die diese Vorstellung klar widerlegen. In beiden Stellen sagt uns der Apostel Paulus, was sein eigenes Leben beherrschte. Er schrieb, dass er „nicht ohne Gesetz vor Gott ist, sondern Christus gesetzmäßig unterworfen“ (1. Kor 9,21) und: „Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2). Dadurch veranschaulicht er seine Aussage in Römer 7,4. Der Christ ist jetzt durch den Heiligen Geist mit dem auferstandenen Christus verbunden, und das damit eingeführte Gesetz (oder die Steuerung) ist von weit höherem Rang als alles, was durch das Gesetz Moses eingeführt worden war.

Daher finden wir in vielen Schriften des Neuen Testaments, und besonders in den Schriften des Apostels Johannes, klare Gebote unseres Herrn. Sie sind nicht deshalb gegeben, damit wir durch das Halten der Gebote für uns selbst eine Stellung der Gerechtigkeit vor Gott erwerben können. Wir haben diese gerechte Stellung als ein Ergebnis des Werkes Christi für uns, und die Gebote sind uns gegeben, um uns Seinen Willen für uns klar zu zeigen. Die Art und Weise wie wir sie befolgen – oder nicht befolgen – beeinflusst nicht unsere Stellung vor Gott, sondern sie beeinflusst den Zustand unserer geistlichen Gesundheit und unserer geistlichen Kraft.

Die meisten von uns wissen, was es bedeutet, Zeiten der geistlichen Lethargie oder Niedergeschlagenheit oder Verzagtheit zu haben. Sollten wir uns in solchen Zeiten nicht fragen: Habe ich mich über ein Gebot meines Herrn hinweggesetzt? Es gibt Themen, die aufkommen, und Fragen, die uns begegnen, für die wir in der Schrift keine klaren Gebote unseres Herrn finden, und dann ist es eine Sache geistlicher Übung, die Schriften zu untersuchen, um zu schließen und zu erkennen, was seine Gedanken für uns sein könnten. Aber andererseits haben wir auch viele klare Gebote, die wir nur einfach befolgen müssen, weil wir „Christus gesetzmäßig unterworfen“ sind. Wer sie nicht befolgt, verursacht geistliche Probleme und sogar geistliche Katastrophen.

Wir sind in der Tat vom Gesetz freigemacht, wie uns der Apostel gezeigt hat, aber nur weil wir „eines anderen geworden“ sind, der uns nicht durch Gewalt oder Strafe, sondern durch Liebe regiert, und das aufrichtige Herz findet seinen Frieden und seine Freude in der glücklichen Unterwerfung unter Ihn.

Über den bekannten Missionar C. T. Studd wird eine bemerkenswerte Begebenheit berichtet. In jungen Jahren, als er die Cambridge University verlassen hatte, bevor er nach China ging, erregte ein Lichtschein unter seiner Schlafzimmertür zu ungewöhnlich früher Stunde die Aufmerksamkeit seines Gastgebers. Als dieser anklopfte und nachsah, fand er ihn sinnend über seiner Bibel. Auf seine Nachfrage antwortete Studd: „Ach, ich habe gerade gelesen, dass der Herr sagte: ‚Wenn ihr mich liebt, so haltet meine Gebote.’ Ich liebe Ihn doch, und ich versuche jetzt, alle Seine Gebote herauszusuchen, um festzustellen, ob ich sie alle halte.“ Die meisten von uns haben von seinem außergewöhnlichen Leben der Hingabe gehört, das daraus folgte.

Wie schön wäre es, wenn sich die jungen Christen unserer Tage den Geboten des Herrn ebenso stellen würden, wie er es tat. Und wie schön, wenn wir älteren Christen es genauso täten.

[Übersetzt von Marco Leßmann]