Wenn wir uns diesen Psalm durchlesen, hören wir den Ausdruck der Trauer der Gefangenen, nachdem Jerusalem in die Hand Nebukadnezars gefallen ist. Darüber hinaus erkennen wir jedoch auch die Bedrängnis des Überrests unter der Hand des großen Widersachers in der Endzeit.

Es ist ebenfalls bemerkenswert zu beobachten, wie die Gefangenen Babylons ihre Trauer in Worte kleiden, die zu den Juden passen, die auf die Ankunft des Messias und seines Reiches warten. Das ist der Fall, weil es sich um ein und dasselbe Zeitalter handelt. Die Zeiten der Nationen begannen mit der Gefangenschaft und werden nicht eher zu Ende sein, als bis der Thron Davids durch die Hand des Messias zu neuem Leben erwacht sein wird. Die Gedanken eines gerechten Juden sind in ihrem Zeitalter, wenn ich das einmal so ausdrücken darf, stets gleich. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn wir uns die Kirchengeschichte anschauen. Der Apostel Paulus sah bestimmte Missstände „in späteren Zeiten“ (1. Tim 4,1) und „letzten Tagen“ (2. Tim 3,1) voraus, stellte sie jedoch Timotheus in einer Weise vor, als ob sie schon gekommen wären. In einem gewissen Sinn waren sie auch schon gekommen, weil derselbe Geist bereits wirksam war. Das christliche Zeitalter behält also ebenso wie das jüdische seinen bestimmten Charakter vom Anfang bis zum Ende bei.

Der vor uns liegende Psalm gewährt uns meines Erachtens einen Blick auf den Schrei des Überrests in der Stunde ihrer tiefsten Verzweiflung unter dem Druck des Tieres aus Offenbarung 13, nachdem die beiden Zeugen umgebracht worden sind (Off 11). Wir können darin den mitleidenden Ruf des bewahrten Überrests sehen, nachdem seine Brüder den Märtyrertod erleiden mussten (V. 3). Der Herr betrachtet diese beiden Arten der Übriggebliebenen bzw. die zwei unterschiedlichen Schicksale desselben Überrests in seiner großen prophetischen Rede in Matthäus 24. Die Offenbarung Johannes’ geht, wie ich glaube, von derselben Unterscheidung aus, wenn sie auf die bewahrten bzw. die getöteten Treuen Israels in der Endzeit eingeht.

Betrachten wir jetzt ihr Verhalten etwas näher: Sie bekennen ihre Sünde, vertrauen auf Barmherzigkeit, flehen die Herrlichkeit des Namens Gottes an, stellen Gott ihren Unmut und ihre Trauer vor sowie die Untreue und Unterdrückung des Feindes und machen ihre Rache zu der Rache Gottes – kurz: ihre Umstände zu den Seinen.

Ich möchte noch auf einen Unterschied hinweisen, der mich berührt hat. Die Psalmisten oder Propheten sprechen so wie in diesem Psalm von ihren Ungerechtigkeiten und Sünden, wenn sie die Ursache der gegenwärtigen Verwerfung Israels vorstellen. Dagegen spricht der Apostel in demselben Zusammenhang davon, dass Israel sich nicht der Gerechtigkeit Gottes unterwerfen wollte (Röm 9 – 10). Wie gut können wir diesen Unterschied verstehen.