Niemand kann heute sagen: Herr Jesus! als nur im Heiligen Geist (1. Kor 12,3). Dem sterbenden Räuber mussten vom Geist Gottes die Augen geöffnet werden, damit er in dem dorngekrönten Mann in der Mitte den Herrn der Herrlichkeit erkannte. Die Fürsten dieser Welt erkannten den Herrn der Herrlichkeit nicht, wohl aber der Räuber. Er sagte: „Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem Reich kommst.“ Jesus ist nicht mehr am Kreuz, aber Er ist immer noch von der Welt verworfen, und nur durch den Heiligen Geist kann man erkennen und bekennen, dass Er Herr ist.

Was meinen wir, wenn wir sagen, dass Er Herr ist? Es bedeutet erstens absolute Autorität und zweitens gütige Herrschaft. Wer Herr ist, übt absolute Autorität aus, und sein Wille ist seinen Untergebenen Gesetz; doch zur gleichen Zeit übt er diese Autorität gütig aus, zum Wohl seiner Untergebenen, sonst wäre er kein Herr sondern eher ein Tyrann. Wir sprechen von gottgemäßer Herrschaft, wie sie bei dem Herrn Jesus gesehen werden kann, und wie sie im Vorbild in der Geschichte Josephs vorgestellt wird.

Als die Geschicklichkeit und Kraft der Hände Josephs ihn bis an die Spitze gebracht hatten und die Geschicke seiner Brüder und von ganz Ägypten in ihnen lagen (siehe Artikel: „Absolute Herrschaft”), kam das zarte Mitgefühl seines Herzens zum Vorschein, ausgedrückt durch seine Tränen. In 1. Mose 39 bis 41 sind die Hände Josephs vorherrschend, in Kapitel 42 bis 50 seine Tränen. In diesen letzteren Kapiteln wird uns nicht weniger als acht Mal berichtet, dass Joseph weinte (1. Mo 42,24; 43,30; 45,2+14+15; 46,29; 50,1+17).

Es ist nicht von ungefähr, dass in seinen jüngeren Jahren nichts davon erwähnt wird, dass er weinte. Wir hätten sein Weinen sehr gut verstehen können, wenn wir an das Meer der Leiden und Not denken, durch dass er ging. Das hätte ihn sehr wohl zum Weinen bringen können. Seine hartherzigen Brüder mussten sogar bekennen, dass sie seine Seelenangst gesehen hatten, als er zu ihnen flehte, doch sie hatten nicht gehört (1. Mo 42,21). Sie sahen seine Seelenangst, aber es wird nie berichtet, dass sie seine Tränen sahen.

Wie erinnert uns das an jenen Ausdruck in Jesaja 53: „die Mühsal seiner Seele” – der Seele des vollkommenen Knechtes des Herrn, der, wenn Er auch auf der Erde der Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut war, doch jetzt „erhoben und erhöht“ und „sehr hoch“ ist. In den Tagen Seines Leidenswegs auf der Erde weinte Er, aber nicht über sich selbst. Auf Seinem Weg zur Kreuzigung wurde Er von anderen beweint und beklagt, aber Er sagte: „Weint nicht über mich, weint über euch.“

Joseph weinte in den Tagen seiner Herrlichkeit und Macht, als er in Strenge mit seinen Brüdern handelte. Doch es war eine geschickte Strenge, die er ihnen gegenüber übte, weil sie zum Ziel hatte, dass die Brüder ihre Sünde eingestehen und zur Demut und zum Selbstgericht und Bekenntnis gebracht würden. Dieses innere Werk an ihren Herzen war absolut notwendig. Sie nur mit Korn zu beladen, ihre Herzen dabei aber unberührt zu lassen, wäre ihr Unglück gewesen. Ihre Mägen wären gefüllt worden, aber ihre Herzen wären unerreicht und unverändert geblieben. Das war nicht die Weise Josephs. Er hatte nun die absolute Herrschaft, doch seine Macht gebrauchte er nicht zu ihrer Vernichtung, sondern zu ihrem Wohl, sowohl geistlich als auch körperlich.

Joseph weinte zum ersten Mal, als er das erste Erwachen des Gewissens und des Selbstgerichts bei seinen Brüdern wahrnahm. Als sie zueinander sprachen, wussten sie weder, dass dieser prächtige Herrscher Ägyptens Joseph war, noch dass er ihre Sprache verstand. „Fürwahr, wir sind schuldig wegen unseres Bruders“, hörte er sie sagen. Joseph „wandte sich von ihnen ab und weinte.“ Es waren Tränen der Liebe und Dankbarkeit, denn er sah, dass sein Handeln erste Wirkungen zeigte und in ihren Herzen Fragen über die Vergangenheit aufwarf, die unbedingt aufgeworfen werden mussten, bevor seine Brüder in seiner Gegenwart glücklich sein konnten.

Zum zweiten Mal weinte Joseph, als sein leiblicher Bruder Benjamin auftauchte. Die Tränen entsprangen dem Bewusstsein der Beziehung. Diese Beziehung war Benjamin zwar bis dahin völlig unbekannt, doch Joseph kannte sie und war unbeschreiblich bewegt. Wir lesen: „Und Joseph eilte (denn sein Innerstes wurde erregt über seinen Bruder) und suchte einen Ort, um zu weinen, und er ging in das innere Gemach und weinte daselbst.“ Noch hatte das Werk der Einsicht und Buße in seinen Brüdern nicht die Tiefe erreicht, die die Offenbarung dieser Beziehung erforderte, und so wusch er „sein Angesicht und kam heraus und bezwang sich.“ Er übte sich in Ausharren bei seinem Umgang mit ihnen.

Wir leben in der Zeit, die durch das „Ausharren des Christus” gekennzeichnet ist (2. Thes 3,5). Er ist hoch erhoben, und als Herr über alle ist Er reich für alle, die zu Ihm rufen, seien es Juden oder Heiden. Seine Brüder nach dem Fleisch, die Juden, sind jedoch noch im Unglauben und sich Seiner Herrlichkeit nicht bewusst. Gewiss, auch sein Innerstes ist über sie erregt, und etwas davon finden wir in dem Apostel Paulus widergespiegelt (Röm 9,1–5). Doch die Zeit der Offenbarung Seiner Liebe und der Anerkennung der bestehenden Beziehung ist noch nicht gekommen. Zuvor muss ein tiefes Werk der Einsicht und des Selbstgerichts stattfinden.

Die nächsten drei Gelegenheiten, bei denen Joseph weint, finden wir in 1. Mose 45. Am Schluss von Kapitel 44 haben wir Judas bewegende Rede im Interesse Benjamins. Sie offenbarte eine große Veränderung in der Gesinnung der Brüder. Der alte Hass gegen Joseph war verflogen und an seine Stelle war eine aufrichtige Sorge um Benjamin getreten; die frühere Gleichgültigkeit gegenüber den Empfindungen ihres Vaters Jakob hatte sich in äußerste Besorgnis für ihn verwandelt; statt eines Geistes, der bereit war, Joseph kaltblütig zu opfern, sehen wir, dass Juda bereit ist, sich selbst zu opfern! Die Züchtigung Gottes hatte bereits eine tiefe Wirkung gezeigt, und der Augenblick war gekommen, wo die Liebe Josephs ihre Mauern durchbrechen und sich zeigen konnte.

„Da konnte Joseph sich nicht mehr bezwingen … Und er erhob seine Stimme mit Weinen … Und er fiel seinem Bruder Benjamin um den Hals und weinte … Und er küsste alle seine Brüder und weinte an ihnen.“ Hier haben wir den vollen und ungehinderten Ausdruck der Liebe Josephs, und daraufhin erreicht die Buße seiner Brüder die angemessene Tiefe: „Und seine Brüder konnten ihm nicht antworten, denn sie waren bestürzt.“ So wird es auch in der Zukunft sein. Das vorbereitende Handeln Gottes mit den Kindern Israel wird in ihren Herzen ein gewisses Maß an Einsicht hervorbringen, aber erst wenn sie, nach Sacharja 12,10, auf den „blicken, den sie durchbohrt haben“, werden sie „wehklagen gleich der Wehklage über den Eingeborenen, und bitterlich … leidtragen, wie man bitterlich über den Erstgeborenen leidträgt.“ Dann wird „der Geist der Gnade und des Flehens“ über sie ausgegossen. Doch was werden erst die Empfindungen Dessen sein, den sie durchbohrt haben?

In 1. Mose 45 lesen wir nicht viel von den Tränen der Brüder Josephs. „Benjamin weinte an seinem Hals“, lesen wir in Vers 14, aber das ist alles. Und dabei hatte Benjamin von allen am wenigsten Grund zu weinen, denn an ihrer Sünde war er kaum beteiligt. Nein, das Herrliche ist nicht die Buße der Brüder sondern die großherzige Liebe Josephs. Er war ihr Retter, denn er sagt: „Gott hat mich vor euch her gesandt, um euch einen Überrest zu setzen auf Erden und euch am Leben zu erhalten für eine große Errettung.“ Er war auch Herr, denn er fügt hinzu: „Und er hat mich zum Vater des Pharao gemacht und zum Herrn seines ganzen Hauses und zum Herrscher über das ganze Land Ägypten.“

Joseph war Herr. Seine Herrschaft über dieses große Gebiet war absolut. Seine Träume hatten sich bewahrheitet. Die anderen Garben verneigten sich vor seiner Garbe. Sonne, Mond und elf Sterne verneigten sich vor ihm. Seine Brüder hatten gesagt: „Lasst uns ihn … in eine der Gruben werfen, … und wir werden sehen, was aus seinen Träumen wird.“ Nun sahen sie es!

Doch wenn ihm jetzt solche Macht zur Verfügung stand, welchen Gebrauch machte er davon? Er sagte zu seinem Vater und zu seinen Brüdern mitsamt ihren Haushalten: „Kommt zu mir; und ich will euch das Beste des Landes Ägypten geben, und ihr sollt das Fett des Landes essen.“ Als der Erhöhte wurde er ihnen zum Segensbringer.

„Kommt her zu mir … und ich will euch Ruhe geben”, sagte der Herr Jesus, und diese Ruhe liegt, wie der Kontext zeigt, in der Erkenntnis des Vaters und seiner Liebe und Ratschlüsse. Sie steht unseren Herzen heute zur Verfügung. Bald wird Er der müden Erde Ruhe bringen, wenn die unvermeidbaren Gerichte Gottes ausgeführt sind. Er wird die Erde mit Ruhe und Frieden füllen, wenn die Erkenntnis Gottes die Erde bedecken wird, wie die Wasser das Meer bedecken. Dann wird er Seinem Volk den Segen der Erde des Tausendjährigen Reiches austeilen, so wie Er heute den Seinen den Segen des Himmels austeilt.

Unser Anspruch auf die himmlischen Dinge, mit denen uns das Evangelium bekannt macht, ist sicher und unanfechtbar. Er ruht auf Seinem Sühnungsblut. Doch wir brauchen nicht nur einen unanfechtbaren Anspruch, sondern müssen auch die Güter unseres Reichtums in Besitz nehmen. Sie sollen uns durch den Glauben und das Werk des Geistes Gottes schon heute zu unserem Genuss sein.

Nach 1. Mose 45 lesen wir noch dreimal, dass Joseph weinte. Einmal, als er seinem betagten Vater begegnete, einmal beim Tod seines Vaters und schließlich nach dem Tod seines Vaters, als seine Brüder offenbarten, dass sie die Fülle seiner Gnade und Freundlichkeit ihnen gegenüber immer noch nicht begriffen hatten. Es wurde offenbar, dass sie seine Gunst die ganze Zeit mit einem „vielleicht“ in ihren Herzen entgegen genommen hatten. Sie sagten: „Wenn nun Joseph uns anfeindete und uns gar all das Böse vergelten würde, das wir ihm angetan haben!“ Deshalb auch ihre Botschaft an ihn, als wollten sie sein unwilliges Herz durch die Erinnerung an die Wünsche ihres Vaters für sie umstimmen. Oberflächlich schien ihre Gesinnung demütig zu sein, doch in Wirklichkeit war es Unglaube – nicht in Bezug auf seine absolute Herrschaft, sondern vielmehr in Bezug auf die Gütigkeit seiner Herrschaft, als ob seine Freundlichkeit nur eine Maske gewesen wäre, die er trug, um seinem betagten Vater zu gefallen. Das tat Joseph in der Seele weh, „und Joseph weinte, als sie zu ihm redeten.“

Doch seine Einstellung ihnen gegenüber änderte sich angesichts solchen Unglaubens nicht. Er antwortete: „Fürchtet euch nicht; ich werde euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete zu ihrem Herzen.“ Die Gütigkeit seiner Herrschaft war Realität, ob sie darauf vertrauten, oder nicht. Ihre Kleingläubigkeit veränderte in keiner Weise seine Großherzigkeit.

Hudson Taylor zitierte einmal vor einer großen Zuhörerschaft die bekannten Zeilen von Miss Havergal: „Wer Ihm völlig traut, erlebt Ihn völlig treu.”

Dann machte er eine kurze Pause und fügte ruhig hinzu: „Ja, und es gibt eine Sache, die sogar noch wunderbarer ist, als das: wer Ihm nicht völlig traut, erlebt Ihn völlig treu.“

Viele von uns sind wie die Brüder Josephs und ruhen nicht voll und ganz in Seiner Liebe und Treue, doch Er ist uns gegenüber genauso vollkommen treu, wie er es den wenigen Herzen gegenüber ist, die Ihm mit unerschütterlicher Zuversicht vertrauen.

Göttliche Liebe ist wie eine Quelle, die in einer heißen Ebene empor sprudelt, weil ihr Ursprung in entfernten Bergen mit ihrem ewigen Schnee liegt. In der heftigsten Trockenheit bleibt sie unverändert und quillt genauso hervor wie immer.

Die Liebe Gottes, die in Christus zum Ausdruck gekommen ist, strömt auf uns herab, doch ihre Quelle ist nicht in uns, sondern in Gott selbst.

Wie frei kann ein Herz sein, das im Bewusstsein dieser Tatsache lebt!

[Übersetzt von Marco Leßmann]