Das Leben des Apostels Paulus hatte viele bemerkenswerte Geschehnisse aufzuweisen. Immer wieder hatte er Krisenzeiten und Augenblicke der Prüfung zu durchleben, sodass man, wenn man sein Leben betrachtet, wie es in seinen Briefen und in der Apostelgeschichte geschildert wird, denken könnte, dass es von Anfang bis Ende eine Abfolge großer Dinge war.

Ein solcher Eindruck wäre aber kaum richtig. In 1. Korinther 4 finden wir ihn in einer besonders prüfenden Schwierigkeit, die ihn anscheinend während seiner ganzen Dienstzeit als Apostel auf Schritt und Tritt begleitete – und doch tat er es als „das Geringste“ ab.

Bei der Schwierigkeit handelte es sich um etwas, das viele Diener des Herrn heute erleben müssen. Und wir sind fast ausnahmslos versucht, es als etwas sehr Großes anzusehen, denn naturgemäß gibt es kaum etwas, das uns so tief verletzt wie Kritik und kaum etwas, an dem wir so sehr kleben wie an unserem Ruf.

Der Zustand in Korinth war schlimm, als der erste Brief geschrieben wurde. Neben anderen Übeln war Parteilichkeit hoch im Kurs und Kritik an dem Apostel und an anderen Dienern weit verbreitet. Die Führer der Parteiungen in der Versammlung waren augenscheinlich lokale Männer oder judaisierende Lehrer von auswärts, wie man aus 1. Korinther 4,6 entnehmen kann, wo Paulus seinen Namen und den von Apollos gebraucht. Paulus übertrug damit Verhaltensweisen auf sich selbst, die sich eigentlich auf andere bezogen. Mit wahrer christlicher Feinheit vermied er deshalb die Nennung der Namen derer, die in jener Versammlung zu Führern der verschiedenen Schulen geworden waren und wünschte, dass die Korinther an ihnen lernten, „nicht über das hinaus [zu denken], was geschrieben ist, damit ihr euch nicht aufbläht für den einen, wider den anderen.“ Denn genauso wie sie die örtlichen Gaben hofierten und Meinungen als etwas Wichtiges aufblähten, schauten sie auf Gaben von außerhalb herab, mit der Neigung, sie zu kritisieren und sich sogar über apostolische Autorität hinwegzusetzen.

Diese Dinge waren, was ihre Wirkung auf die Versammlung in Korinth angeht, in der Tat schlimm genug; doch das Kritisieren und Beurteilen Seiner eigenen Person tat der Apostel als „das Geringste“ ab.

Wir wollen den Abschnitt kurz untersuchen, mit dem Wunsch und Gebet, dass wir dadurch mehr dahin kommen, diese heilige Einschätzung des Geistes des Apostels zu teilen.

Vers 1 stellt den wahren Charakter der Apostel und ihrer Mitarbeiter vor. Sie waren keine „Männer von Namen“ im intellektuellen Bereich, die sich mit bewundernden Hörern und Nachfolgern umgaben. Vielmehr sagten sie: „So rühme sich denn niemand der Menschen“ (1. Kor 3,21), und sie selbst waren nur „Diener Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes.“ Das Wort, das hier mit „Diener“ wiedergegeben ist, meint einen offiziell beauftragten Diener, jemanden, der von einem Herrn Autorität erhalten hat.

Vers 2 betont die besondere Eigenschaft, die ein Verwalter benötigt. Er muss dem gegenüber treu sein, der ihm seinen Platz und seine Autorität verliehen hat. Seine vorrangige Aufgabe ist es, seinem Herrn und dessen Interessen zu dienen, gleichgültig ob er damit anderen gefällt, oder nicht.

In Vers 3 antwortet der Apostel, der wirklich ein treuer Verwalter der Geheimnisse Gottes war, kühn seinen Kritikern. „Mir aber ist es das Geringste, dass ich von euch oder von einem menschlichen Tag beurteilt werde.“ In 1. Korinther 3,13 hatte er uns gesagt, dass „das Werk eines jeden offenbar werden“ wird, „denn der Tag wird es klar machen.“ Dort geht es um den Tag, an dem Gottes Beurteilung gehört werden wird. Aber hier ist es ein menschlicher Tag, an dem menschliche Meinungen danach verlangen, gehört zu werden, und die sind völlig zu Ungunsten von Paulus und denen, die ihm gleichgesinnt sind. Die Meinung des menschlichen Tages war etwas Geringes für Paulus. Er drückt es sogar noch stärker aus: „das Geringste.“ 

Aber war es nicht etwas ernstes, wenn der Apostel auch von den Korinthern beurteilt wurde? Sollte ein Gläubiger, ja sogar ein Apostel, nicht tief beunruhigt sein, wenn er so von seinen Mitgeschwistern beurteilt wird?

„Mir aber ist es das Geringste, dass ich von euch … beurteilt werde“ – „von euch“, wer war das? Leider müssen wir sagen: es waren Gläubige, zu denen das gesagt werden musste. „Ich … konnte nicht zu euch reden als zu Geistlichen, sondern als zu Fleischlichen“ (1. Kor 3,1). Es waren fleischliche Gläubige, und das Urteil und die Kritik eines fleischlichen Gläubigen gleichen allzu sehr dem Urteil eines „menschlichen Tages“, das keinen wirklichen Wert hat. Das ganze ließ den Apostel in seinem eigenen Urteil ziemlich unbeeindruckt. Wie die nachfolgenden Verse zeigen, war er in seinem Geist nicht im Geringsten dadurch verärgert. Keine Spur von Verdruss spiegelt sich in seinen Worten wieder.

Bevor wir zu den nächsten Versen weitergehen, wollen wir einen Moment abschweifen, um eine ausgleichende Betrachtung anzustellen.

Es sollte niemand aus dem soeben Gesagten schlussfolgern, dass ein Diener Christi, und sei er noch so belehrt und hingegeben, sich als über jede Kritik erhaben betrachten und sich jeder vorgebrachten Beschwerde verschließen darf. Im Gegenteil. Die Meinung eines fleischlichen oder weltlich gesinnten Gläubigen hat offensichtlich nur wenig oder gar keinen Wert, aber die Meinung eines gottesfürchtigen und gereiften Gläubigen soll sehr wohl hoch geachtet werden. In Galater 2,2 gibt uns der Apostel Paulus selbst ein Beispiel dafür. Er war der Apostel der Nationen und hatte das Evangelium und die Belehrungen darüber, wie er es verkündigen sollte, durch direkte Offenbarung des Herrn erhalten, und doch war er sich nicht zu gut, sich „im Besonderen“ mit solchen zu beraten, die als geistliche Männer in Jerusalem angesehen waren, damit er nicht, wie er sagt, vergeblich lief oder gelaufen wäre.

Wenn der Diener Christi also in demütiger Gesinnung andere geistlicher einschätzt als sich selbst, tut er eindeutig gut daran, ihren Rat anzunehmen, ihr geistliches Urteil sorgfältig zu erwägen oder sogar ihrer Kritik zuzuhören und abzuwägen. Doch auch dann darf er sich nicht in letzter Instanz von ihrer Meinung leiten lassen, sondern vom Wort Gottes. Der Abschnitt in Apostelgeschichte 21,18–30 ist eine Warnung in diese Richtung.

Als Zusammenfassung unseres Kapitels finden wir in Vers 4 das Geheimnis der Erhabenheit des Apostels über bloße menschliche Beurteilung. Am Ende von Vers 3 sagt er, dass er sich noch nicht einmal damit beschäftigte, sich selbst zu beurteilen. Damit wollte er uns nicht zu verstehen geben, dass er nicht im Selbstgericht lebte, sondern vielmehr, dass er sogar in seinen eigenen Gedanken nicht den Versuch machte, sein Leben oder Verhalten zu untersuchen und zu beurteilen. Tatsache war, dass er sagen konnte: „Ich bin mir selbst nichts bewusst, aber dadurch bin ich nicht gerechtfertigt. Der mich aber beurteilt, ist der Herr.“ Hier sehen wir, was Paulus so wunderbar über alle Furcht vor menschlichen Meinungen erhob. Er lebte so selbstverständlich im Licht des Richterstuhls Christi, dass ihm kein anderer Richterstuhl Angst machen konnte.

Dieser Abschnitt spricht also in einer vierfachen Weise von Beurteilung:

1.      Die Beurteilung eines „menschlichen Tages“, d.h. der öffentlichen Meinung der Welt.

2.      Die Beurteilung von Gläubigen, die in einem fleischlichen Zustand sind. Sie ist nicht viel mehr wert als das Urteil eines menschlichen Tages.

3.      Das Urteil, was ein Diener Gottes über sich selbst fällt. Dies ist auf keinen Fall unfehlbar, obwohl der, der es fällt, sich aufs ernsteste bemühen mag, bei der Durchführung dieser Selbstprüfung innerlich einen objektiven und unparteiischen Standpunkt einzunehmen, und sich keiner Sache bewusst ist, die nicht mit dem Herrn, dem er dient, in Übereinstimmung ist. Die Tatsache, dass er sich keiner falschen Sache bewusst ist, beweist nicht, dass er richtig liegt.

4.      Die Beurteilung des Herrn, die immer vollkommen und endgültig ist.

Der fünfte Vers unseres Kapitels beginnt mit einem belehrenden Wort zu diesem Thema: „So urteilt nicht etwas vor der Zeit, bis der Herr kommt.“ Wenn wir versucht sind, harte Aussagen über einander zu machen, oder ein Machtwort im Hinblick auf Dinge im Leben oder Dienst anderer Leute zu sprechen, die nicht dem offenbarten Wort, sondern eher einer geistlichen Beurteilung unterliegen, dann wollen wir uns daran erinnern, dass wir damit „vor der Zeit“ sind. Die Zeit wird da sein, wenn der Herr kommt, denn wenn Er kommt, wird Er „das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Ratschläge der Herzen offenbaren.“

Wie herzerforschend sind diese Worte! Es gibt einerseits verborgene Dinge der Finsternis; und wenn wir uns jetzt auf den Richterstuhl setzen, äußern wir unser Urteil ohne alle Fakten zu kennen und unfähig diese Fakten ans Licht zu bringen. Andererseits gibt es die Ratschläge des Herzens – die Ratschläge des Innersten dessen, den wir zu kritisieren suchen, jene verborgenen Beweggründe und Motive, die wir nicht sehen können, und – das sollte nie vergessen werden – die verborgenen Beweggründe und Motive unserer eigenen Herzen – desjenigen, der in diesem Fall der Kritiker ist.

Wenn die Zeit gekommen ist, wird eine angemessene Untersuchung des Lebens und Dienstes jedes Gläubigen durchgeführt werden. Der Herr wird sie durchführen und in Seiner Gegenwart wird alles Verborgene und jeder Ratschlag ans Licht kommen. Das Urteil das gesprochen wird, ist dann unter Berücksichtigung aller Fakten, die für diesen Fall von Bedeutung sind, gefällt worden „und dann“, heißt es in Vers 5 weiter, „wird einem jeden sein Lob werden von Gott.“ Der Gedanke ist nicht, dass jeder Mensch irgendwie gelobt werden wird, sondern, dass jeder, dem Lob zuerkannt wird, dieses Lob von Gott bekommen wird.

Die Korinther kritisierten und tadelten Paulus. Andererseits erkannten sie andere Führer an und überschütteten solche mit Lob, die sie als Mittelpunkte ihrer Meinungsschulen bevorzugten. Solche Parteiungen werden sehr schnell zu Gesellschaften gegenseitiger Bewunderung, das ist bis heute so. Wie erbärmlich gering war das Ganze doch – und ist es noch! Fleischliche Gläubige heben andere Gläubige in den Himmel, die möglicherweise noch fleischlicher sind als sie selbst!

Der Apostel stellt uns „den Tag” vor. Er spricht von der kommenden „Zeit“, mit dem Herrn auf dem Richterstuhl, von Seiner Gegenwart, vor der nichts verborgen ist und von dem Lob von Gott, das als Einziges der Mühe wert ist. Sagen unsere Herzen dazu nicht: „Amen“?

Zwei sehr wichtige Grundsätze, die, wenn sie praktisch verwirklicht werden, sehr gesund sind, kommen in all diesem zum Vorschein:

1. Solche, die versucht sind, zu kritisieren und zu tadeln, müssen daran denken, dass sie weder alle Fakten eines Falls, noch die Motive des Herzens kennen – ganz sicher nicht im Herzen dessen, den sie kritisieren, und nur unvollkommen in ihrem eigenen Herzen –, daher ist es weiser, Rat anzubieten, als ein Urteil zu äußern.

2. Derjenige, der kritisiert wird, mag sich keiner falschen Sache in sich selbst oder seinen Wegen bewusst sein, und doch muss er daran denken, dass das kein unfehlbares Kriterium für die Richtigkeit seines Weges ist. Der Herr wird ihn an jenem Tag beurteilen, und in der Zwischenzeit sollte er in der Gegenwart anderer einen Geist der Demut pflegen.

Zum Schluss wollen wir noch einmal betonen, dass es hierbei nicht um Dinge geht, über die der Wille Gottes in der Schrift offenbart ist, sondern lediglich um Dinge, die der Herzensübung und geistlichen Beurteilung des einzelnen Gläubigen oder Dieners Gottes überlassen sind. Bei allem, was die Schrift sagt, haben wir nur eins zu tun: zu gehorchen.

[Übersetzung: Marco Leßmann]