In Galiläa wirkte Jesus viele Wunder. Angesichts dieser Entfaltung göttlicher Gnade hatten die Pharisäer und Schriftgelehrten nichts anderes zu tun, als dem Herrn vorzuhalten, dass Seine Jünger sich vor dem Essen nicht die Hände wuschen (Mt 14,34 – 15,9). Er zeigte daraufhin, dass der Mensch nicht durch äußere Dinge, sondern durch sein eigenes Herz verunreinigt wird. Dieses Herz ist voller Sünde. Gottes Herz jedoch voller Gnade. Das zeigt die Heilung der Tochter der syro-phönizischen Frau auf eindrucksvolle Weise.

Jesus zog sich aus Galiläa zurück und ging in die Gegenden von Tyrus und Sidon. Soweit wir wissen, war der Herr Jesus nie weiter im Norden als bei dieser Gelegenheit. Von dem, was Er dort gewirkt hat, wird uns nur die Heilung dieses einen Mädchens berichtet. Zeigt uns das nicht, dass der Herr Jesus bereit war, allein für dieses Mädchen und ihre Mutter einen weiten Weg auf sich zu nehmen? Wir dürfen uns gerade in schwierigen Situationen daran erinnern, dass der Herr ein liebendes Interesse an jedem Einzelnen hat.

Die Frau begegnet Jesus

Dem Heiland wurde auch in dieser Gegend, die zu Phönizien gehörte (was einen Teil von Syrien war), ein Haus geöffnet (Mk 7,24). Er wollte, dass niemand  erfahre, dass Er dort sei. Doch schnell machte es die Runde, dass Jesus, den viele kannten (vgl. Mk 3,8), gekommen war. Die Kunde von Ihm drang auch sogleich zu einer namentlich nicht genannten kananäischen Frau, die aus Syro-Phönizien stammte und in der griechischen Sprache und Kultur verwurzelt war. Diese Frau hatte eine junge Tochter, die von einem unreinen Geist gequält wurde (Mk 7,26).

Die Frau ließ ihre Tochter zurück, um Jesus zu begegnen. Als sie Ihn traf, hatte Er das Haus bereits verlassen und war vielleicht schon wieder unterwegs nach Galiläa. Sie fiel ehrfurchtsvoll vor Ihm nieder und schrie verzweifelt: „Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter ist schlimm besessen“ (Mt 15,22). Sie sagte nicht: „Erbarme dich meiner Tochter“ oder „Erbarme dich unser“ (vgl. Mk 9,22). Nein, sie machte die Not ihrer Tochter zu ihrer eigenen und bat deshalb um Erbarmen für sich selbst.

Liegt dir die Sorge um ein Kind – oder um eine andere geliebte Person – bleischwer auf dem Herzen? Ist das Leid anderer dein eigenes geworden? Dann rufe zu dem Herrn, dass Er sich deiner erbarmen möge.

Die Frau bekommt keine Antwort

Wie reagierte der Herr auf den Hilferuf der Frau, die zu Seinen Füßen lag? Er antwortete ihr nicht ein einziges Wort (Mt 15,23)! Warum war Er so hart? An ihrem Anliegen kann es nicht gelegen haben, denn der Herr ging umher, wohl tuend und alle heilend, die vom Teufel überwältigt waren. Das Problem war die Anrede „Sohn Davids“. Anderen wurde zwar geholfen, die ihn so ansprachen (vgl. z.B. Mt 9,27; Mt 20,30–31); doch da gab es einen entscheidenden Unterschied: das waren Juden. Und nur die Juden haben eine Verbindung zu dem Sohn Davids, der der König Israels ist. Das hatte diese Frau noch nicht verstanden. Als Kanaaniterin hatte sie kein Anrecht an dem Messias Israels. Höchstens Anrecht auf Gericht. Denn Gott hatte Seinem Volk die Ausrottung der Kanaaniter geboten (5. Mo 20,17). Und wenn der Messias herrschen wird, werden keine Kanaaniter in Gottes Haus sein (Sach 14,21).

Es schien so, als habe Jesus diese Frau abgewiesen. In Wahrheit hatte Er sie unterwiesen. Sie sollte ihren Platz als Heidin verstehen und einnehmen.

Wenn der Herr auf unsere Bitten nicht reagiert, dann will er uns wichtige Lektionen erteilen. Eine davon ist, dass wir Ausharren im Gebet lernen (Lk 18,1). Wir wollen darum uns und Ihm keine Ruhe gönnen, bis Er zur Ehre Seines Namens gehandelt hat (vgl. Jes 62,6–7).

Die Frau hört, zu wem Jesus gesandt ist

Die Frau gab nicht auf, sondern folgte dem Herrn und Seinen Jüngern schreiend nach (Mt 15,23). Die Jünger baten ihren Meister, die lästige Ruferin zu entlassen. Einige Zeit vorher hatten sie denselben Wunsch geäußert, als sie nicht wussten, was sie mit den hungrigen Menschenmengen machen sollten (Mt 14,15). Doch Er wollte die Volksmengen nicht entlassen. Weder bei dieser Gelegenheit noch bei einer späteren (Mt 15,32). Und Er wollte auch diese Frau, die an Seine Barmherzigkeit appelliert hatte, nicht entlassen. So jemand schickt der Herr nicht ohne Segen weg. Er konnte aber nicht auf sie eingehen, weil sie Ihm auf einer falschen Grundlage begegnet war. Jesus erklärte Seinen Jüngern, warum Er nicht half, und sagte: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“ (Mt 15,24).

Die Frau wird diese Worte gehört haben und es war ihr klar, dass sie nicht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel zählte. Aber ließ sie das Wort „verloren“ nicht aufhorchen? Wenn die Schafe des Hauses Israel verloren waren, dann waren sie auf Gnade, auf unverdiente Gunst, angewiesen. Gab es auf dieser  Basis nicht auch Hoffnung für eine Verlorene aus den Heiden? Die Frau hatte Hoffnung und darum lief sie an Jesus und Seinen Jüngern vorbei, fiel Ihm erneut zu Füßen und rief: „Herr, hilf mir“ (Mt 15,25). Das „Sohn Davids“ lässt sie weg. Schnell hat sie verstanden!

Die Frau wird mit einem Hund verglichen

Nachdem sie Ihn so angeredet hat, spricht der Herr Jesus mit ihr: „Lass zuerst die Kinder gesättigt werden, denn es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen“ (Mk 7,27). Was Er mit diesem Gleichnis sagen will, ist klar: Die Kinder sind ein Bild der Israeliten, denen Gottes besonderer Segen gehört. Die Heiden werden durch die Hunde repräsentiert, die keine Anrechte auf das haben, was den Israeliten zusteht. Sie sind Fremdlinge betreffs der Bündnisse und der Verheißung.

Es ist nun nicht schön, wenn man den Hunden das Brot gibt, das für die Kinder vorgesehen ist. Hunde und Kinder muss man voneinander unterscheiden. Das erwählte Volk Israel und die anderen Nationen auch. Eine wichtige Lektion für die syro-phönizische Frau!

Eine Feinheit, die nur Markus berichtet, wollen wir nicht übersehen. Der Herr sprach davon, dass die Kinder zuerst gesättigt werden sollten. Das bedeutet, dass es später für die Hunde vielleicht etwas geben konnte. Aber dieser Zeitpunkt war noch nicht gekommen, als die kananäische Frau vor Ihm im Staub lag. Die Kinder aßen noch – Gott hatte sein Volk noch nicht beiseite gestellt und sich zu den Nationen gewandt.

Die Frau stützt sich auf die Gnade

Die Frau kam aus einer „falschen“ Nation und sie kam zum falschen Zeitpunkt. Was hatte sie noch zu hoffen? Es ist einfach großartig, wie sie jetzt reagierte. Sie wandte sich nicht im Zorn ab wie Naaman, der meinte, nicht genügend beachtet worden zu sein (2. Kön 5,11). Nein, sie sagt demütig und vertrauensvoll: „Ja, Herr; und doch fressen die Hunde unter dem Tisch von den Brotkrumen der Kinder“ (Mk 7,28).

Sie sagt mit anderen Worten: „Ja, Hunde haben kein Anrecht auf das Brot der Kinder, so wie ich als Heidin keinen Anspruch auf den Segen habe, den der Messias Seinem Volk austeilt. Aber wenn der Hund ein paar heruntergefallene Brotkrumen aufleckt, gewähren ihm das die Leute. Und ich glaube, dass in Deinem Herzen mindestens so viel Gnade ist.“

Die Frau, die die ganze Zeit schon ihre Bedürftigkeit gefühlt hatte, ist durch das Verhalten und die Worte Jesu einen entscheidenden Schritt weiter gekommen: Sie erkannte nun ihre Unwürdigkeit. Willig akzeptierte sie darum auch den wenig schmeichelhaften Vergleich mit einem Hund und trat damit gewissermaßen in die Fußstapfen Mephiboseths (vgl. 2. Sam 9,8). Sie will nichts fordern, nichts beanspruchen. Sie nimmt ihren Platz ein, als jemand, der nur um Gnade betteln kann.

Auch wir wollen in jeder Situation völlig auf die Gnade hoffen (vgl. 1. Pet 1,13). Wenn wir das tun, werden wir nicht leer ausgehen, sondern wie diese Frau reichen Segen empfangen. Wer auf Gnade hofft, bekommt sie auch.

Die Frau empfängt das Erbetene

Als der Herr die Worte der Frau hörte, anerkannte Er öffentlich ihren großen Glauben und sicherte ihr zu, dass der Dämon bereits aus ihrer Tochter gefahren sei (Mt 15,27; Mk 7,29). 

Interessanterweise sagt die Schrift nur von zwei Personen, dass sie einen großen Glauben hatten. Dass sind diese Frau und der Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5–13; Lk 17,1–10). Beide waren Heiden. Beide waren demütig. Beide stützten sich vertrauensvoll auf Seine Gnade. Und beide waren auch mit einem Wort des Herrn zufrieden und baten nicht darum, dass Er persönlich käme, um zu heilen. Sie vertrauten schlicht und kühn auf die Macht Seines gesprochenen Wortes. So manifestiert sich großer Glaube!

Die Frau ging nach Hause. Sicher in freudiger Erwartung und nicht von Zweifeln geplagt, ob alles gut geworden war. Als sie zu Hause ankam, wälzte sich die Tochter auch nicht gequält auf dem Boden, sondern lag geheilt und friedevoll im Bett. Bald würde sie aufstehen und – sicher voller Dankbarkeit – ein ganz anderes Leben führen.

Zusammenfassung

Diese Begebenheit zeigt prägnant, dass Christus ein Diener der Beschneidung war um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheißung der Väter zu bestätigen (Röm 15,8). Aber so wie Paulus unmittelbar danach in Römer 15 von der Begnadigung der Nationen spricht (V. 9), so stellt auch unsere Geschichte die unumschränkte Gnade Gottes nachhaltig vor.

Gott hatte Abraham und seinen Nachkommen Verheißungen, die Beschneidung und das Gesetz gegeben. Das alles ließ sich auf eine Nation beschränken. Die Gnade aber kann nicht beschränkt werden. Sie ist in dem Herrn Jesus heilbringend für alle Menschen erschienen. Natürlich war erst nach dem Tod und der Auferstehung Jesu der Zeitpunkt gekommen, den Nationen die Gnade zu verkünden. Aber diese heidnische Frau, die ihre eigene Unwürdigkeit sah, schmeckte im Voraus die Gnade, die wir heute im Vollmaß kennen und genießen dürfen. Ob wir wohl dankbar genug dafür sind, dass Gott sich zu den Nationen gewandt hat?

Beeindrucken kann uns immer wieder der Glaube der syro-phönizischen Frau. Wie beharrlich sie der Glaube machte! Sie ließ sich nicht durch das Schweigen Jesu irritieren, nicht durch die Worte der Jünger und die entsprechende Antwort des Herrn, und auch nicht durch das, was der Meister ihr sagte. Die Frau erinnert in ihrer Zielstrebigkeit an den Patriarchen Jakob, der zu dem Mann sagte, der mit ihm kämpfte: „Ich lasse dich nicht los, es denn, du segnest mich“ (1. Mo 32,29). Wollen wir uns nicht auch so an den Herrn klammen und bitten, dass Er uns Seine Gnade gewährt?