Die Lehre der Schrift von der Auserwählung bringt so manche Schwierigkeiten mit sich, wenn sie in einer intellektuellen Weise verstanden wird. Oberflächlich betrachtet, steht sie in ständigem Konflikt mit der ebenfalls schriftgemäßen Lehre der Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott. Große Meinungsschulen haben sich in der Vergangenheit um beide Lehren gebildet und heftige Auseinandersetzungen wurden geführt. Heute sind diese Debatten abgeflaut, doch es gibt immer noch viele, die zwar nicht so weit gehen, von der einen Seite völlig eingenommen zu sein und die andere völlig abzulehnen, sondern beide anerkennen, die aber beträchtliche Schwierigkeiten haben, beides in verständlicher Weise miteinander zu verbinden.

Römer 9, 10 und 11 sind die neutestamentlichen Kapitel, die dieses wichtige Thema behandeln. Der Apostel Paulus hält fest, dass Gott es in diesem Zeitalter, nachdem Er Israel als Nation beiseitegesetzt hat, für gut befand, die Gnade auf die Nationen auszudehnen. Er fährt dann fort, zu zeigen, dass Gott einheitlich in auswählender Gnade gehandelt hat; dass Israel selbst schon lange als Nation zerstört worden wäre, wenn Gott nach der Sünde mit dem goldenen Kalb nicht gewählt hätte, barmherzig zu sein, und dass sie sogar ihre ursprüngliche Existenz als Volk dieser gleichen Auswahl zu verdanken hatten. Sie waren in Isaak erwählt worden, nicht in Ismael, in Jakob und nicht in Esau (Röm 9,7–13).

Indem also der Apostel die Wahrheit der Auserwählung entfaltet, führt er uns zurück zum ersten Buch Mose, zu dem Sohn und dem Enkel Abrahams. In diesen beiden Männern wird uns der Grundsatz vorgestellt. Ein Vergleich der Kapitel in 1. Mose mit den Versen in Römer 9 wirft sehr viel Licht auf unseren Gegenstand.

Sowohl historisch als auch moralisch ist Isaak der Erste. Der Apostel zitiert 1. Mose 21,12: „In Isaak wird dir ein Same genannt werden“, und sein inspirierter Kommentar dazu ist: „Das ist: Nicht die Kinder des Fleisches, diese sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden als Same gerechnet.“ Das Fleisch kann gar nichts hervorbringen, außer Fleisch. Das hat schon der Herr selbst klargemacht (Joh 3,6) und Sein Tod war die völlige Beiseitesetzung und Verurteilung des Fleisches, sein richterliches Ende. Gott kannte das Wesen des Fleisches von Anfang an. Er wusste, dass es eine verdorbene Quelle war und daher nur Verdorbenes hervorbringen konnte. Deshalb tat Er Ismael, das Kind des Fleisches, weg, und Seine Auswahl ruhte auf Isaak, dem Kind der Verheißung, dem Sohn, dessen Ursprung in der Auferweckungskraft Gottes lag, wie Seine Verheißung früherer Jahre zeigt.

Die erste Illustration der Auserwählung lehrt uns also, dass Gott das auserwählt, was aus Ihm selbst ist, und das schließt das Wegtun dessen ein, was nicht aus Ihm selbst, sondern aus dem Menschen, aus dem Willen des Menschen oder der Energie des Menschen ist. Lehrmäßig finden wir das, was uns betrifft, in den Worten: „Kinder Gottes …, die nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh 1,12.13).

Das ist alles noch offensichtlich und einfach zu verstehen. Die Schwierigkeit kommt erst, wenn wir bedenken, dass die Gläubigen genauso aus dem Fleisch sind wie andere. Wir sind nur deshalb „aus Gott“, weil wir „aus Gott geboren“ sind, und die Auserwählung Gottes geschah lange vor unserer Neugeburt. Anders gesagt: Wir sind nicht von Gott auserwählt, weil wir aus Gott geboren sind, sondern wir sind aus Gott geboren, weil wir auserwählt sind.

Dies führt uns dazu, zu bemerken, wie treffend die inspirierte Schrift uns Isaak in erster Linie als Vorbild auf Christus vorstellt und erst in zweiter Linie als Bild von uns selbst. Der Herr Jesus war der eigentliche Sohn der Verheißung, und so wie Isaak durch die Erweckung eines schon erstorbenen Leibes geboren wurde, kam auch Er nicht entsprechend der Gesetze der Natur in diese Welt, sondern entsprechend der Handlung des Heiligen Geistes und der „Kraft des Höchsten“ (Lk 1,35). Die Jungfrau Maria war das erwählte Gefäß für das wunderbare Eintreten des Einen, dessen Ausgänge von den Tagen der Ewigkeit her sind, in das menschliche Leben – ein Leben, das in uns so total verdorben ist, in Ihm jedoch so vollkommen fleckenlos und heilig. Deshalb wird Er prophetisch mit den Worten begrüßt: „Siehe, mein Knecht, den ich stütze, mein Auserwählter, an welchem meine Seele Wohlgefallen hat“ (Jes 42,1). Hier ist wahrhaftig Einer auserwählt, weil Gott das erwählt, was aus Ihm selbst ist.

Der erste Mensch, Adam, und sein Geschlecht sind wie Ismael – gefallen, wild, ungezähmt und unzähmbar. Der zweite Mensch, der letzte Adam, ist der Auserwählte Gottes aufgrund Seiner eigenen wesenhaften Vollkommenheiten, doch auch wir, die wir Sein Geschlecht sind, die wir in Ihm sind, sind Auserwählte Gottes. In Kolosser 3,12–14 werden wir aufgefordert, als Auserwählte Gottes, als Heilige und Geliebte alle jene schönen Charakterzüge anzuziehen, die in vollem Maß und in vollkommener Harmonie in Christus selbst zu sehen waren, der in unvergleichlichem Maß der „Auserwählte Gottes“ und der „Heilige und Geliebte“ ist.

So viel zu Isaak. Der Apostel wendet sich dann in Römer 9 Jakob zu und stellt die besonderen Merkmale seines Falles vor. Esau und er waren beide Kinder einer Mutter und bei der gleichen Geburt zur Welt gekommen, denn sie waren Zwillinge, wobei Esau zunächst, der Natur nach, den ersten Platz hatte. Erneut setzt Gott jedoch den Ersten beiseite und erwählt den Zweiten, indem Er sagt: „Der Größere wird dem Kleineren dienen“ (Röm 9,12). Den inspirierten Kommentar hierzu finden wir in dem vorhergehenden Vers: „Selbst als die Kinder noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten, (damit der Vorsatz Gottes nach Auswahl bestände, nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden).“ Hier wird uns also gezeigt, dass Gott erwählt aufgrund dessen, was Er in sich selbst ist, und nicht aufgrund dessen, was die Menschen sein mögen und was in ihren Werken zum Ausdruck kommt.

Das bringt uns sofort in die Gegenwart dieses unergründlichen Geheimnisses, das jeder göttlichen Wahrheit zugrunde liegt. Wo wir uns auch hinwenden,  ob zu der materiellen Schöpfung mit allen ihren unlösbaren Rätseln oder zu der Frage rund um die Existenz Satans und der Sünde und deren Eintritt in diese Welt oder zu der Ausübung des souveränen Willens Gottes und Seiner Auswahl, die jetzt vor uns steht, letztlich landen wir mit unseren Fragen bei den Tatsachen, die uns so eindrücklich am Ende dieser drei Kapitel im Römerbrief vorgestellt werden. In Gottes Weisheit und Erkenntnis liegt eine Tiefe von Reichtümern, die immer jenseits der Erforschbarkeit der Geschöpfe liegen muss, und seien sie noch so hochgestellt. Seine Gerichte müssen unausforschlich und seine Wege unausspürbar für uns bleiben (vgl. Röm 11,33–36). Dort müssen wir innehalten und in der Gewissheit ruhen, dass, weil Er gut ist, auch alle Seine Vorkehrungen und Auserwählungen gut sein müssen. „Du bist gut und guttätig“, sagt der Gläubige des Alten Testaments (Ps 119,68).

Dass Gott Jakob auserwählt und folglich Esau übergangen hat, machte noch etwas anderes deutlich, nämlich, dass sich die Weisheit und Richtigkeit der Auswahl Gottes immer in der späteren Geschichte offenbart. Seine Auserwählung rechtfertigt sich also immer selbst in ihren Ergebnissen. Bevor Esau und Jakob geboren waren, hatte Gott gesagt: „Der Größere wird dem Kleineren dienen.“ Tausend Jahre nach ihrem Lebensende wurde es bestätigt: „Den Jakob habe ich geliebt, aber den Esau habe ich gehasst“ (Mal 1,2–3; Röm 9,13).

Wenn diese Auswahl uns in den frühen Jahren ihres Lebens überlassen worden wäre, hätten wir wahrscheinlich übereinstimmend Esau ausgewählt. Seine äußerlichen Charakterzüge hätten uns beeindruckt. Ohne Zweifel wird der Durchschnittsungläubige immer Esau dem Jakob vorziehen, sowohl während ihres Lebens als auch tausend Jahre später. Aber nicht so das Kind Gottes. Es erkennt in Jakob, obwohl er nach außen hin viele Fehler hatte, das, was von Gott war, die Frucht des Wirkens Gottes, und was daher lieblich und liebenswert war. Gottes Wahl ist nicht „aus Werken“, das heißt aus menschlichen Werken, sondern „aus dem Berufenden“, das heißt aus Seinem Werk. Gottes Auserwählung und Gottes Wirken gehen Hand in Hand. Warum sie in eine bestimmte Richtung und nicht in eine andere gehen, übersteigt unseren beschränkten Verstand. Selbst wenn Er sich herabließe, uns Seine Beweggründe mitzuteilen, wären wir nicht in der Lage, sie zu verstehen – und deshalb glauben wir es einfach.

Aber einer Sache können wir gewiss sein: Gottes Auswahl ist immer eine „Wahl der Gnade“ (Röm 11,5). Dass Gott zum Gericht auserwählt, ist eine Idee, die menschlichen Überlegungen entspringt – und das bei einem Thema, das unseren Verstand so vollständig übersteigt; nie wird so etwas in der Schrift gesagt. Die Schrift stellt uns vor, dass alle total verloren sind und keiner von sich aus gerettet werden kann und dass es Gott gefiel mit einigen Barmherzigkeit zu üben und in ihnen mit Leben spendender Kraft zu wirken.

Obwohl Gott nicht zum Gericht auserwählt, verhärtet Er doch manchmal die Herzen eigenwilliger Rebellen. Er mag sogar einen solchen nehmen und „erwecken“ (Röm 9,17), das heißt ihn auf einen Platz der Bekanntheit und des Ruhmes erheben wie den Pharao in 2. Mose, um an ihm ein Exempel zu statuieren und Seine Macht und Seinen Ruhm der ganzen Erde zu verkünden. Auch das tut Er nicht nur um Seines Namens willen, sondern auch zum Segen für die Menschen. Es war Vernichtung für den Pharao, aber es war Errettung für Rahab und ihr Haus, die von der mächtigen Hand Gottes gehört hatten, und zweifellos war es auch noch für viele andere zur Errettung. Der Pharao war eines von jenen „Gefäßen des Zornes, die zubereitet sind zum Verderben“ – es heißt nicht, dass Gott sie zubereitet hat, sie hatten sich selbst durch ihre Sünde und Rebellion zubereitet; es gab aber auch „Gefäße der Begnadigung, die er zur Herrlichkeit zuvor bereitet hat“ (Röm 9,22.23). Hier sagt die Schrift, dass Gott der Urheber ist und der, der wirkt. Sie waren durch Sein Werk Gefäße der Begnadigung geworden.

Tatsache ist, und wir wollen uns glücklich davor beugen, dass Gott das Recht hat, zu tun, was Ihm gefällt; und was Ihm gefällt, das wird Er tun. Menschen mögen Widerstand leisten, und Gott wird richten. Er mag hier und da das Herz eines Widersachers verhärten, bis er sich vor allen zum Narren macht, wie der Pharao es tat, und Gott wird sich dann angesichts der Torheit des Menschen verherrlichen; aber Seine Auserwählung ist immer eine Auserwählung der Gnade und zum Segen; sie ist der Ausdruck Seiner Barmherzigkeit, die so eindrucksvoll im letzten Teil von Römer 11 vorgestellt wird, direkt vor dem Lobpreis, der das Kapitel abschließt.

Die Schwierigkeiten, die dieses Thema reichlich umgeben, verschwinden, wenn wir beginnen, die Wahrheit völlig anzuerkennen, dass der Mensch eine total verlorene Kreatur ist und nicht in der Lage, sich selbst zu retten. In Römer 3,10.11 wird das Wort „keiner“ dreimal wiederholt. „Da ist kein Gerechter.“ Dann gäbe es aber immer noch Hoffnung, wenn man seinen Zustand nur erkennt. „Da ist keiner, der verständig sei.“ Wenn das so ist, bleibt doch die vage Hoffnung, dass man sich Gott irgendwie zuwendet und so zum Verständnis gelangt. Noch einmal: „Da ist keiner, der Gott suche.“ Dann ist, was den Menschen betrifft, jede Hoffnung dahin!

Gestehen wir das wirklich ein und erkennen die Kraft dieser Worte und was sie beinhalten? Wenn ja, werden wir sofort erkennen, dass es keine Hoffnung gibt, außer in der auserwählenden Barmherzigkeit Gottes. Es wird nie einen Schritt hin zu Gott und Seinen Segnungen geben, außer als Frucht Seines eigenen Wirkens.

Das Gleichnis in Lukas 14 macht das deutlich. Das Mahl war reichlich zubereitet. Es ist ein Bild von der Bereitstellung der Gnade als Ergebnis des Werkes Christi. Es wäre jedoch, was die Geladenen betrifft, alles vergeblich gewesen, wenn nicht die Bemühungen des „Knechtes“ gewesen wären, ein Bild vom Heiligen Geist. Jede Seele, die schließlich das Mahl genoss, war nur aufgrund des Wirkens des Knechtes anwesend. Christi Werk stellt die Segnung bereit, aber niemand kann sie schmecken, es sei denn, man kommt unter das souveräne Wirken des Geistes Gottes; und dieser handelt in Harmonie mit dem Vorsatz Gottes und der Wahl der Gnade.

Wir wollen Gott danken, dass auch wir Gegenstände der auserwählenden Barmherzigkeit Gottes sind, die sich erstmals vor so langer Zeit bei Isaak und Jakob gezeigt hat.

[Übersetzt von Marco Leßmann]