Unser praktisches Christenleben kann in zwei Kapitel aufgeteilt werden: „Empfangen” und „Geben”. Wir beginnen, indem wir mit leeren Händen als bedürftige Empfänger Seiner Gnade zu dem Heiland kommen. Doch auch wenn das unsere anfängliche Haltung ist, ist es nicht das einzige, was den Christen sein Leben lang prägen sollte. Wir sollten auch das Geben nicht vergessen.

Schon oft habe ich in den vergangenen Jahren die Frage gehört: „Warum machen wir so wenig Fortschritte in unserem geistlichen Leben?” Geben die oben genannten Stellen nicht eine Antwort auf diese Frage? Sie zeigen uns, dass ein wichtiger Grund für unseren mangelnden Fortschritt darin liegt, dass wir nicht geben. Wir gleichen zu sehr dem Toten Meer, wo ständig Wasser hineinläuft, aber nie etwas hinausfließt.

Lasst uns zunächst bedenken, dass das Geben kein Thema der Wohltätigkeit ist. In dem Abschnitt aus dem Alten Testament, der in 2. Korinther 9,9 zitiert wird, lesen wir: „Er hat ausgestreut, er hat den Armen gegeben; seine Gerechtigkeit [nicht seine Wohltätigkeit] bleibt in Ewigkeit.“ Dieser Vers zeigt deutlich, dass das Geben für einen Christen nicht bloße Wohltätigkeit ist, sondern ganz einfach Gerechtigkeit. Gott hat uns mit so vielem überschüttet, dass es nur gerecht ist, wenn wir Segen an andere weitergeben. Auch in Vers 10 spricht der Apostel nicht von den Früchten ihrer Güte oder Wohltätigkeit oder Großherzigkeit, sondern von den Früchten ihrer Gerechtigkeit. Wir müssen lernen, das Geben als etwas zu betrachten, das wir zu tun schuldig sind. Wenn wir es vernachlässigen, vernachlässigen wir etwas, das die Schrift klar als Gerechtigkeit bezeichnet.

Wenn man das achte und neunte Kapitel des zweiten Korintherbriefes in ihrem Kontext betrachtet, geht es hier um Geld. Unter den Gläubigen aus den Nationen war bekannt geworden, dass die Gläubigen aus Judäa in großer Not waren. Eine Hungersnot hatte diesen Teil der Erde heimgesucht, wie es vorhergesagt war (vgl. Apg 11,28–28). Der Apostel ruft die Gläubigen aus den Nationen, die soviel geistlichen Segen durch den Dienst solcher empfangen hatten, die von Geburt Juden waren, dazu auf, die Not leidenden Brüder in Judäa vorübergehend zu unterstützen. Zwei ganze Kapitel widmen sich diesem Thema. Doch der Grundsatz kann auf vieles andere angewendet werden.

Die mazedonischen Christen, zu denen auch die Philipper gehörten, waren leuchtende Beispiele für christliches Geben geworden, und der Apostel benutzt dieses Beispiel, um die  Korinther zum Handeln zu bewegen. Die Korinther hatten auffällige Gaben, doch das machte sie nicht zu besseren Christen. Die Philipper, von denen wir nicht so bemerkenswerte Dinge hören in Blick auf das Predigen und das Reden in Sprachen, waren aber offensichtlich Leute, die sich in der Erprobung bewährten. Dem Brief nach zu urteilen, der an sie geschrieben wurde, stand es gut um die Versammlung, aber von außen gab es Verfolgungen. Den Korinthern musste Paulus gleichsam sagen: „Ich möchte, dass ihr aufhört, euch sinnlos zu zanken, den einen gegen den anderen aufzustellen, und eure Lehrer, Hirten und Evangelisten zu Häuptern von Parteiungen zu machen.“ Den Philippern dagegen sagt er gleichsam: „Ich möchte euch ermutigen, gemeinsam mit einem Herzen für den Glauben an das Evangelium zu kämpfen und euren Feinden kühn entgegen zu treten, weil ihr wisst, dass gerade die Tatsache, dass es eure Feinde sind, bedeutet, dass sie letztendlich vernichtet und ihr gerechtfertigt werdet.“ Es waren also Christen, die zwar verfolgt wurden und nur wenig irdische Güter besaßen, die aber ein tiefes Verständnis über die ewigen Dinge hatten, und das führte sie dazu, in dem Genuss der Liebe des Vaters, und der Gnade des Heilands und der Gegenwart des Geistes und in der Erwartung des bevorstehenden Kommens des Herrn ihr Geld in erstaunlicher Weise in die Sammlung einzulegen. Der Apostel sagt: „Über Vermögen waren sie aus eigenem Antrieb willig.“ Niemand musste sie erinnern. Sie baten Paulus mit vielem Zureden, die Gabe anzunehmen. Es war als ob Paulus zu ihnen sagte: „Meine lieben Brüder, ich meine, ihr gebt wirklich zu viel. Seid ihr bereit, das alles zu geben?“ Doch die Philipper bestanden darauf und bedrängten ihn, die Gabe anzunehmen. Sie taten es „nicht wie wir hofften“, das heißt sie taten weit mehr, als Paulus gehofft hatte.

Es heißt: „Sie gaben sich selbst zuerst dem Herrn und uns durch Gottes Willen.“ Das ist eine sehr wichtige Sache: sich selbst dem Herrn zu geben – das gibt es wirklich, sonst stände es nicht in der Heiligen Schrift. Du magst fragen: „Wie?“ Durch die echte und aufrichtige Anerkennung des Anspruchs, den der Herr an dich hat. Diesen Anspruch hat Er sich erworben und es ist wichtig, das anzuerkennen. Wenn ich bekenne, dem Herrn zu gehören, führt das zwangsläufig alles andere mit sich. Seht, die Philipper gaben nicht ein Zehntel ihres Einkommens und behielten die restlichen neun Zehntel für sich. Sie sagten noch nicht einmal: „Ich will neunzig Prozent geben“, sondern: „Ich will mich selbst dem Herrn geben. Ich bin Sein Sklave. Ich unterstehe Seiner Führung.” Dann folgt daraus, dass auch alles, was ich besitze, dem Herrn gehört. Hier finden wir den wahren Ausgangspunkt. „Sie gaben sich selbst zuerst dem Herrn und uns durch Gottes Willen.“ Sie anerkannten, ganz dem Herrn zur Verfügung zu stehen, und deshalb standen auch ihr Geld, ihre Zeit, ihre Fähigkeiten und ihre Gaben dem Herrn zur Verfügung.

Ich wünsche, dass wir uns alle selbst prüfen, ob wir die Dinge auch so sehen. Du sagst vielleicht: „Wie komme ich dahin, die Dinge so zu sehen?“ In Kapitel 8 gibt es dazu einen bekannten Vers: „Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, dass er, da er reich war, um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich würdet.“ Dieser wunderbare Vers, der wie ein Diamant funkelt, ist umgeben von auf den ersten Blick langweiligen und uninteressanten Dingen. Diese zwei Kapitel beschäftigen sich mit einem irdischen Thema, das wir manchmal gerne vergessen.

„Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus.“ Das scheint mir ein gewaltiger Hebel zu sein. Es ist enorm, was man in mechanischen Bereichen mit einem Hebel bewirken kann; so auch in der Gnade. Es täte uns allen gut, viel über die Gnade unseres Herrn Jesus Christus nachzudenken.

„Da er reich war.” Wann war Er reich? Nicht als Er unter den Menschen diente. Nicht als Er in der Stille Nazareths aufwuchs. Nicht als Er in Bethlehem geboren wurde und in der Krippe gewickelt wurde. Wann war Er reich? Um das zu beantworten, müssen wir zurückgehen bis zu den Tiefen der Gottheit. „Dass er, da er reich war, um euretwillen arm wurde.“ So wie es unmöglich ist, die Größe Seines Reichtums zu ermessen, so ist es auch unmöglich, die Tiefe Seiner Armut zu ermessen. Und Er wurde arm, damit wir durch Seine Armut mit unendlichen Segnungen reich gemacht würden. Wir lesen wunderbare Aussagen in der Bibel, aber erkennen oft ihre wunderbare Bedeutung nicht. Doch in der Kraft dieser Dinge können wir uns selbst dem Herrn geben. Kein Wunder, dass der Apostel am Ende des nächsten Kapitels sagt: „Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!“

Das haben wir empfangen. Nun sollen wir Geber sein. Des Wohltuns und Mitteilens vergesst nicht – das heißt, anderen etwas von dem zu geben, was du hast, einem armen Bruder etwas Geld mitzuteilen, einem Niedergeschlagenen etwas Ermunterung, einem Sünde etwas vom Evangelium. An solchen Opfer hat Gott Wohlgefallen. Haben wir das vergessen? Ich glaube ja. Du fragst vielleicht: „Inwiefern?” Eine Sache ist, glaube ich, dass wir Christen in Europa und Amerika unter der Fülle an Brot und an Übersättigung leiden. Wenn man mal ins Ausland geht, scheinen einem die Dinge klar zu werden. Auf unsere begünstigten Länder schauen Christen anderer Länder fast mit Ehrfurcht. In ihren Augen sind es wunderbare Orte, von denen so viele Missionare ausgegangen sind, aber wenn wir an den aktuellen religiösen Zustand unserer Länder denken, mit ihren vielen Sondergruppen, die sich gegenseitig bekriegen, kann man sich nur schämen! Man fragt sich: „Was ist mit uns los?“ Ich glaube wirklich, dass wir zu sehr an das Empfangen gedacht haben und zu wenig an das Geben. 

Bedenke: Wie du gibst, wirst du auch ernten. Der Apostel scheint den Korinthern sagen zu wollen: „Ihr habt schön über die große Sammlung gesprochen, die ihr machen wollt, und während die Philipper es einfach gemacht haben, seit ihr immer noch in der Entscheidungsphase. Ich hielt es für weise, einige Brüder vorauszuschicken. Meint ihr nicht, die Sache sollte langsam mal konkret werden?“ Der Apostel sandte einige Brüder, damit alles vorbereitet wäre. Er sagt: „Ich möchte, dass es als Segen bereit ist, nicht als Habsucht. Ich möchte nicht zu euch kommen und euch das Geld aus euren Taschen ziehen. Ich möchte, dass ihr es freudig und freigebig dem Herrn gebt. Wenn ihr segensreich sät, werden ihr auch segensreich ernten.“ Das bedeutet nicht, dass einer, der ein Pfund in den Sammelkasten tut, unbedingt fünf Pfund dafür erntet, oder dass er überhaupt ein Pfund erntet. Es bedeutet, dass, wenn wir bereit sind, uns selbst für die Wohlfahrt des Volkes Gottes, für das Fortschreiten des Werkes Gottes, für den Dienst Gottes zu opfern, Gott auch bereit ist, uns in unseren Seelen Segen ernten zu lassen.

Eine große Zahl von Christen leidet heute geistlich gesehen Hunger. Sie besuchen Zusammenkünfte, hören schöne Auslegungen der Schrift, nehmen an Wortbetrachtungen teil, und wenn sie nach Hause gehen, verflüchtigt sich alles. Wie die Luftspiegelung in der Wüste verschwinden ihre Eindrücke, und so vergeht ein Jahr nach dem anderen, ohne Wachstum. Ich glaube das ist so, weil sie in diesem Punkt nicht geübt sind. „Wer sparsam sät, wird sparsam ernten.“ Wer einen knauserigen Geist hat, wer weder Herz noch Hand öffnet, wird nur wenig ernten. Gott berücksichtigt immer, was ein Mensch hat, nicht das, was er nicht hat. Aber wenn er etwas gibt, wird sein Säen auch eine Ernte nach sich ziehen.

Ich hoffe zu Gott, dass sich bei uns allen ein reiches Säen findet. Wir sind umgeben von so vielen Vorzügen, die in anderen Ländern unbekannt sind. Was würden sie nicht alles darum geben, dass einer von uns dorthin gehen würde in die Länder finstersten Heidentums oder Katholizismus. Ich meine, dass jemand für Christus dorthin geht und das Wenige, was er hat, für Ihn gebraucht. Wenn wir daran denken, was das Evangelium ist und welche Fülle es beinhaltet, und wenn wir die erschreckende Not sehen, dann sollte jeder von uns auf den Knien vor Gott liegen und sich daran erinnern, dass der Christ nicht nur ein Empfänger der himmlischen Gaben ist, sondern auch der Übermittler dieser Gaben. Er ist nicht nur  Empfänger, sondern auch Geber.

[Übersetzt von Marco Leßmann]