2. Der Auftrag Hesekiels (2)

Die Rückkehr nach Tel-Abib: 3,12–15

In Kapitel 1 haben wir gesehen, dass sich Hesekiel am Fluss Kebar inmitten der Weggeführten befunden hatte, wo sich ihm Gott in einer Erscheinung gezeigt hatte (Hes 1,1.3). Nach dem Erhalt seiner Berufung in Kapitel 3 wird er wenig später durch den Geist aufgehoben und in die Nähe desselben Flusses Kebar gebracht (3,14.15). Obwohl der Prophet also buchstäblich nach wie vor in Babylonien wohnte, wurde er im Geist ins Land Israel gebracht, um dort den „Sturmwind … von Norden her“ (Hes 1,4) zu sehen, der symbolisch für die Ankunft der babylonischen Armeen steht. Seine Berufung zum Dienst erhielt der Prophet dort, wo die Herrlichkeit des HERRN ihre Wohnung hatte (Jerusalem, Hes 1,12), d. h. an dem Ort, den Gott erwählt hatte, um dort seinen Namen wohnen zu lassen [Fußnote 1]. Etwas später wird er noch einmal im Geist nach Jerusalem gebracht, um dort das „Bild der Eifersucht“ (Hes 8,3) der Menschen Judas zu sehen.

Nachdem er diese außergewöhnliche Erscheinung erhalten hat, muss Hesekiel schließlich ins Exil nach Babylonien zurück. Zweifellos wird ihm diese Rückkehr schwergefallen sein; doch sollte sein Auftrag im Land seiner Feinde ausgeführt werden. Es ist nicht ganz einfach, die Erbitterung in Vers 14 zu erklären. Vielleicht waren es die Widerspenstigen des Volkes, gegen welche der HERR ihn gesandt hatte und die selbst nicht auf solch einen wunderbaren Gott hören würden. Etwas später würde der Herr in Markus 3,5 auf die Juden „mit Zorn“ blicken, „betrübt über die Verstocktheit ihres Herzens“.

Hesekiel braucht sieben Tage, um wieder im Geist die Herrlichkeit des Herrn anzuschauen. Auch wir sollten nicht sofort Gelegenheiten suchen, andere an dem teilhaben zu lassen, was uns selbst noch Verständnisschwierigkeiten bereitet, oder danach zu trachten, anderen vorschnell von tiefen Erfahrungen, die wir mit dem Herrn machen, zu erzählen. Lassen wir im Gegenteil dem Heiligen Geist mehr Raum, um uns in die Tiefen der Botschaft zu führen, die uns Gott gibt.

Durch eine übernatürliche Art und Weise wird der Prophet mitten unter die Weggeführten gebracht, von denen sich die meisten bereits von der Herrlichkeit Gottes entfernt hatten, um dort über die Erscheinung und Berufung, die er erhalten hatte, nachzudenken (V. 15). Heute halten wir uns ebenfalls inmitten von Menschen auf, die den Retter nicht kennen und welche „die Herrlichkeit Gottes nicht erreichen“ (Röm 3,23). Folglich kommen auch wir in Berührung mit ihren Schwierigkeiten, verstehen ihre wahren Bedürfnisse und sind so in der Lage, ihnen das „Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes“ (1. Tim 1,11) zu bringen. Außerdem lernen wir an dieser Stelle, wie wir die uns von Gott anvertraute Botschaft weitergeben sollen: Wird uns ein bestimmter Aspekt der Herrlichkeit des HERRN gezeigt, bedeutet das nicht etwa, dass wir uns über andere stellen sollten. Vielmehr ist eine demütige Haltung angebracht, dich sich sowohl unserem Nächsten als auch Gott gegenüber zeigt (Hes 1,28b). Dem Vorbild des Apostels Paulus folgend und in Unterwerfung unter Christus wird sich solch ein Botschafter auf denselben Boden seiner Zuhörer stellen, welche umso empfänglicher werden, je weniger sich der Redende über sie erhebt. Dasselbe gilt auch für solche, die sich inmitten einer verfallenen Kirche unter Gläubigen bewegen.

Die Verantwortlichkeit des Propheten: V. 16–21

Nach Verlauf einer Woche zeigt Gott Hesekiel, wie groß und schwerwiegend seine Verantwortung ist. Diese Ermahnung ist umso ernster, als sie fast wörtlich am Anfang des 33. Kapitels wiederholt wird. In den Versen 18–21 werden dabei vier Fälle skizziert, von denen jeweils zwei den Gottlosen (V. 18.19) und zwei den Gerechten betreffen (V. 20.-21). Für jeden zeigt Gott nacheinander Folgendes auf:

  • Zuerst geht es um die Haltung des um das Böse Wissenden: wenn er seinem Auftrag nicht nachkommt und seine Warnung nicht ausspricht (V. 18.20), obwohl er dazu verpflichtet ist (V. 19.21).
  • Dann geht es um die Haltung des Zuhörers [Fußnote 2], der entweder gehorchen oder ablehnen kann.
  • Die Konsequenzen für den Zuhörer, die sich nach seinem Verhalten richten: Gehorcht er, wird er leben (V. 21), lehnt er ab, wird sein Blut von ihm gefordert (V. 18.20).
  • Die Konsequenzen für den Prediger, die von seiner Treue abhängen, das Zeugnis Gottes weiterzugeben, und nicht etwa von den Resultaten seiner Warnung, welche in den Händen Gottes bleiben. Schweigt er, wird er zur Verantwortung gezogen und trägt die Schuld am Tod des Gottlosen, was in den Worten zum Ausdruck kommt: „Aber sein Blut werde ich von deiner Hand fordern“ (vgl. 1. Mo 9,5).

Die gleiche Verantwortlichkeit des nachlässigen Boten finden wir auch im Neuen Testament wieder: „Ich bin rein von dem Blut aller“, sagt Paulus den Ephesern und fügt hinzu, dass er „nicht zurückgehalten“ hat, ihnen „den ganzen Ratschluss Gottes zu verkündigen“ (Apg 20,26.27) [Fußnote 3]. An einer anderen Stelle schreibt er: „Denn wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündigte!“ Natürlich ist es so, dass unser erstes Motiv bei der Verkündigung „die Liebe Christi“ sein soll, die uns „drängt“ (2. Kor 5,14). Erblasst diese Liebe jedoch in unseren Herzen, ist es notwendig, dass unser Gewissen durch die Anwendung solcher Stellen erweckt wird.

Was machen wir aber, wenn wir unserer Verantwortung nicht nachkommen, Sünder zu warnen, und uns somit ihres Blutes schuldig machen? Auch in diesem Fall dürfen wir Vergebung erfahren, wenn wir unsere Schuld bekennen (1. Joh 1,9): Wenn unsere Sünden auch „wie Scharlach“ sind (die Farbe des Blutes), sollen sie weiß wie Schnee  werden (Jes 1,18).

Die Herrlichkeit des HERRN im Tal: V. 22–27

Bevor Hesekiel seinen Dienst beginnt, schaut er erneut die Herrlichkeit des HERRN und beugt sich ehrfürchtig ein weiteres Mal vor dem Allmächtigen nieder (V. 22–23). Wie schon in Kapitel 2,2 kommt auch hier die Kraft des Heiligen Geistes auf ihn und stellt ihn auf seine Füße (V. 24). Es reicht auch in unserem Leben nicht aus, einmal durch die Größe des Herrn Jesus beeindruckt worden zu sein, sondern das Erfahren der Herrlichkeit Gottes sollte ein Erlebnis sein, dass sich über den gesamten Zeitraum unseres Dienstes für ihn wiederholt.

Im Gegensatz zu Jeremia bringt Hesekiel seine Botschaft bei sich in seinem Haus vor, während Jeremia auf öffentlichen Plätzen predigte (vgl. Jer 19,14). Je nach unserem Alter und unserer Veranlagung neigen wir dazu, von Gott mehr im privaten oder öffentlichen Bereich zu sprechen. Wie dem auch sei möchte der Herr, dass er uns als treue Zeugen benutzen kann.

Hesekiel wird nun gesagt, dass er völlig stumm bleiben soll (V. 24–27) mit der Ausnahme, dass er durch Gott dazu autorisiert wird, eine Botschaft weiterzugeben (V. 27) [Fußnote 4]. Dieses Verhalten wäre schon an sich sehr merkwürdig, doch muss es in der damaligen Situation, die durch die Auflehnung des Volkes gekennzeichnet war (V. 26), noch viel auffälliger gewesen sein und den feierlichen Ernst der Botschaft Hesekiels unterstrichen haben. Erst nach der Zerstörung Jerusalems würde Hesekiel wieder die Erlaubnis von Gott erhalten, sein Verhalten zu ändern (vgl. Hes 24,25–27; 33,21.22). Daraus können wir lernen, dass unser Dienst für Gott nicht durch unveränderliche Regeln ein für alle Mal festgesetzt worden ist (vgl. Apg 8,26). Lassen wir uns deshalb von dem Geist leiten, der „weht, wo er will“ (Joh 3,8) und damit einem Wind gleicht, dessen Stoßrichtung im Vorhinein nicht bestimmt werden kann.


[Fußnote 1] Der Begriff „Die Herrlichkeit des HERRN“ bezeichnet die wunderbare Wolke, welche die göttliche Gegenwart im Tempel Salomos in Jerusalems anzeigte (2. Chr 5,13.14). Im 5. Buch Mose wird 21-mal von diesem einzigartigen Ort gesprochen, den Gott erwählt hatte: 12,5.11.14.18.21.26; 14,23.24.25; 15,20; 16,2.6.7.11.15.16; 17,8.10; 18,6; 23,16; 26,2; 31,11. Die Tatsache, dass es keinen anderen Ort des Gottesdienstes gab, sollte ein mächtiges Zeugnis gegenüber den Nationen dafür sein, dass Israel den einzigen und wahrhaftigen Gott anbetete.

[Fußnote 2] In diesem Abschnitt wird von dem „Gottlosen“ und dem „Gerechten“ in der Einzahl gesprochen: Die Verantwortung ist umfassend und individuell. Für Israel ist die Zeit, in welcher eine Buße des ganzen Volkes möglich war, bereits Vergangenheit.

[Fußnote 3] Der primäre Sinn dieser Stelle scheint sich nicht so sehr auf die Verkündigung des Evangeliums, sondern auf den Dienst des Wortes zu beziehen. Würde Paulus nicht den ganzen Ratschluss Gottes verkünden, würde er sich mit dem Blut der Gläubigen der Versammlung in Ephesus verschulden. Wir lernen hier, wie wichtig es ist, die Lehre umfassend und ausgewogen darzulegen und sich nicht nur mit einigen wenigen Punkten der Bibel zufriedenzugeben. In diesem Licht dürfen wir auch die „gesunde Lehre“ in Titus 2,1 verstehen.

[Fußnote 4] Allgemein können wir festhalten, dass die im Exil lebenden Juden Hesekiel gerne hörten (Hes 33,30–33), ohne jedoch das zu tun, was der HERR von ihnen durch die Stimme Hesekiels verlangte. Nichts deutet darauf hin, dass Hesekiel in irgendeiner Weise angreifend gewesen ist, wie das bei Jeremia z. B. teilweise der Fall war. Das unbestimmte „man“ in Vers 25: „man wird dir Stricke anlegen und dich damit binden“ weist somit nicht so sehr auf die im Exil Lebenden hin, sondern auf Gott, der symbolisch als der Handelnde gesehen wird (vgl. Hes 4,8).

[Übersetzt aus „Sondez les Ecritures“ von Stephan Keune]