Endete das erste Kapitel mit einem Dienst gegenüber Gott, Anbetung, beginnt das zweite Kapitel mit einem Aufruf zum Dienst an Menschen. Diese beiden Ausprägungen unseres Dienstes müssen sich nicht widersprechen, denn jeder hat seine Wichtigkeit und sollte zu seiner Zeit ausgeübt werden.  

Nachdem er durch die Erscheinung unseres wunderbaren Gottes in Bewunderung ausgebrochen und in anbetungsvoller Haltung auf sein Angesicht gefallen ist, steht der noch junge Hesekiel voller Bereitschaft vor dem HERRN, den göttlichen Befehl entgegenzunehmen. Diese Anordnung gilt auch heute noch: Gott ruft solche, die zuerst im Anschauen seiner Person in Bewunderung ausbrechen und mit ihren Herzensaugen die Herrlichkeit des Herrn in der Heiligen Schrift betrachten (Eph 1,18).

Der Herr bezeichnet Hesekiel als „Sohn des Menschen“ (V. 1.3 etc.). Dieser für dieses Buch kennzeichnende Ausdruck bedeutet einfach: menschlich (seiend). [Fußnote 1] In diesem Zusammenhang können wir ein gutes Beispiel dafür erkennen, was es heißt, dass ein Mensch im wahrsten Sinne des Wortes ein menschliches Wesen ist. Das ist dann der Fall, wenn er die Größe und die Majestät des einzig wahren Gottes im Anschauen und Erkennen der eigenen Begrenztheit und seiner Winzigkeit erkennt, sich tief vor ihm verneigt und seiner Stimme gehorcht (V. 28).

Ein anderer das Buch Hesekiel charakterisierender Ausdruck ist der Titel, welcher Gott gegeben wird: der Herr, der Ewige [Fußnote 2] (die erste Erwähnung taucht in Vers 4 auf). Der „Herr“ bezeichnet dabei denjenigen, der alle Macht besitzt und den Lauf der Geschichte in Gericht und Gnade lenkt. Der „Ewige“ oder „HERR“ ist der Name des Gottes, der sein Volk aus Ägypten erlöst und einen Bund mit ihnen geschlossen hat (2. Mo 6,2–8). Im Buch Hesekiel erinnert uns dieser Name daran, dass der HERR sein auserwähltes Volk fortwährend liebt und es einmal wiederherstellen und segnen wird. Jedes Mal, wenn wir dieser wunderbaren Namenskomposition begegnen, dürfen wir uns daran erinnern, dass unser Gott über allen unseren Schwierigkeiten steht und unseren Lebenslauf bis in die kleinsten Details kennt und leitet. Er liebt uns und hat Gedanken des Friedens uns gegenüber (Jer 29,11).

Der Aufruf  Hesekiels entfaltet sich in vier Schritten, die über folgende Dinge Aufschluss geben:

  • Seine Stellung: Der Geist, der vor Gott angemessen ist (2,1.2)
  • Seine Zuhörer: Gott sendet ihn an ein rebellisches Volk (2,3–8a)
  • Seine Botschaft: Er muss eine Rolle „essen“ (2,8b–3,3)
  • Seine Aufnahme vonseiten seiner Zuhörer: Er wird Ablehnung erfahren (3,4–11)

Der Geist Gottes fährt in Hesekiel, um ihm die nötige Kraft zu verleihen, seine Botschaft weiterzugeben (V. 2). Im Alten Testament blieb der Heilige Geist generell nur zeitweise auf einer Person (vgl. Hes 3,24) und wohnte nicht in derselben Weise in einem Gläubigen, wie das heute der Fall ist. Trotzdem wirkt der Geist heute wie damals in uns, um uns den Aufruf zum Dienst deutlich zu machen. Der Prophet empfängt seine Botschaft stehend, weil Gott möchte, dass wir unsere Kleinheit und Ohnmacht vor ihm erkennen (Hes 1,28). Außerdem sollen wir uns bewusst machen, welch einen Wert diese Stellung beinhaltet (vgl. Apg 9,6–8; 26,13–18).

Von Anfang an macht der HERR Hesekiel deutlich, dass seine Aufgabe schwierig ist, weil seine zukünftigen Zuhörer durch das häufige Hören und anschließende Nicht-Beachten des Wortes Gottes völlig abgestumpft und hartherzig sein würden (Hes 2,3–7; 3,4–9). Sie glichen damit dem Volk zur Zeit des Herrn Jesus, das ihn verwarf und unseren Herrn dazu bewegte, mit Traurigkeit zu sagen: „… und ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt“ (Joh 5,40).

Die gleiche Situation erleben wir heute: Es ist für uns in dieser Zeit nicht einfach, Zeugen zu sein in einer Gesellschaft, die schon so oft das Evangelium vernommen hat. Es ist trotz einer großen Sprachbarriere oft einfacher, ein Volk zu erreichen, welches das Evangelium noch nie gehört hat (Hes 3,5.6). Doch alles das verringert natürlich nicht die Wichtigkeit und Zweckmäßigkeit unserer Aufgabe und so wiederholt der HERR zweimal die ernsten Worte: „Sie mögen hören oder es lassen“ (Hes 2,5; 3,11). Lassen wir uns nicht entmutigen, die Botschaft in einer Weise zu bezeugen, die überführend und durch eine Kraft gewirkt ist, die von oben kommt. Möge uns Gott wie damals Hesekiel den Mut ebenso wie eine feste, entschlossene Haltung geben, unserer Aufgabe nachzukommen (Hes 2,6; 3,8.9). Die harte Stirn „wie ein Diamant“ aus Vers 8 und 9 bedeutet nicht etwa, dass unser Herz oder unsere Haltung Ungläubigen gegenüber kompromisslos und hart sein sollte, sondern vielmehr dass es für uns notwendig ist, feste Überzeugungen zu haben, die sich von der allgemein vorherrschenden Toleranz abhebt, welche auf die Ablehnung einer absoluten Wahrheit zurückgeführt werden kann und heute als eine erstrebenswerte Tugend angesehen wird.  „Rede zu ihnen mit meinen Worten“ (Hes 3,4): Es ist uns nicht überlassen, eine Wahl zu treffen oder Dinge vorzubringen, die unserem gesunden Menschenverstand entspringen, sondern Gott möchte, dass wir als treue Zeugen das weitergeben, was wir von ihm empfangen haben.

Bevor er aufbricht, muss Hesekiel eine Rolle essen [Fußnote 3]. Gott erklärt ihm im Anschluss daran die symbolische Bedeutung dieser Handlung (Hes 3,10). Bevor wir das Wort an andere weitergeben, muss erst sichergestellt sein, dass es ein integraler Bestandteil unseres geistlichen Lebens geworden ist. Verwahren wir es in unserem Herzen (Ps 119,11), damit die Quelle unserer Gedanken und Gefühle nach diesem Vorbild geformt wird. Sich von dem Wort Gottes zu ernähren, ist dabei kein langweiliges Muss, sondern eine „süße“ Aufgabe (vgl. Hes 3,3). Einige Jahre vorher hatte bereits Jeremia die gleiche Erfahrung gemacht und ausgerufen: „Deine Worte waren vorhanden, und ich habe sie gegessen, und deine Worte waren mir zur Wonne und zur Freude meines Herzen“ (Jer 15,16).

[Übersetzt von Stephan Keune aus: Sondez les Écritures]


[Fußnote 1] Er findet sich 107-mal im Alten Testament, wovon er alleine in Hesekiel 93-mal vorkommt. Im Hebräischen bedeutet „Sohn des Menschen“: ben adam. In den semitischen Sprachen bezeichnet „Sohn“ sehr oft jemanden oder etwas, der oder das zu einer bestimmten Gattung gehört. „Sohn des Menschen“ würde dann bedeuten: „Jemand, der einen Teil der Gattung Mensch ausmacht bzw. zu ihr gehört“. An einigen Stellen des prophetischen Textes im Alten Testament wird er als ein besonderer Titel des verheißenen Messias benutzt, der die menschliche Rasse dadurch ehrt, indem er ein „Mitglied“ von ihr wird (Dan 7,13; Ps 8,4; Lk 9,22).

[Fußnote 2] Im Hebräischen: „Adonai JHWE“. Das Alte Testament enthält insgesamt 287-mal diese Kombination, wovon 210 Erwähnungen auf das Buch Hesekiel zurückgehen.

[Fußnote 3] Im Gegensatz zum üblichen Gebrauch in der damaligen Zeitepoche war die Rolle beidseitig beschrieben: Viele Prüfungen warteten auf das Volk Israel, das sich von seinem Gott abgewendet hatte, und die vergangenen 2.600 Jahre sind ein beredtes Zeugnis davon, wie sich die Inhalte dieser Rolle bewahrheitet haben.