In Lukas 19,8 sagt der Zöllner Zachäus zum Herrn Jesus: „Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und wenn ich von jemand etwas durch falsche Anklage genommen habe, erstatte ich es vierfach.“ – Spricht Zachäus hier von seiner bisherigen Gewohnheit oder drückt er damit eine Absicht für die Zukunft aus?   

Zachäus, der reiche Oberzöllner in Jericho, befand sich als Jude („Sohn Abrahams“, V. 9) in einer nicht guten Position. Im Allgemeinen pachteten Männer wie er eine Zollstelle von der römischen Besatzungsmacht mit der Absicht, für sich selbst möglichst viel heraus zu wirtschaften. Da dies kaum ohne Betrügereien möglich war, waren die Zöllner bei den Juden in doppelter Hinsicht verachtet: einmal wegen ihrer Kollaboration mit den heidnischen „Besatzern“, zum andern wegen ihrer Habsucht.

Doch in Zachäus ist etwas vorgegangen. Sein Herz ist erweckt und suchend. Als er erfährt, dass Jesus vorübergeht, offenbart sich ein echtes Herzensinteresse, Ihn zu sehen. Da dies für ihn wegen seiner geringen Körpergröße und der großen Menschenmenge schwierig wird, läuft er ein Stück voraus und steigt auf einen Maulbeerfeigenbaum, nicht, um sich zu verbergen wie Adam und Eva, die sich „versteckten vor dem Angesicht Gottes, des Herrn, mitten unter die Bäume des Gartens“ (1. Mo 3,8), sondern, um Ihn besser sehen zu können. Doch dann erblickt der gute Hirte Ihn und ruft Sein Schaf bei Namen: „Zachäus, steige eilends herab, denn heute muss ich in deinem Haus bleiben.“ Mit Freuden nimmt er den Herrn in sein Haus auf. Hier tritt er zu Ihm hin und verkündet Ihm, was seine Seele bewegt: „Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und wenn ich von jemand etwas durch falsche Anklage genommen habe, erstatte ich es vierfach.“

Wie die ganze Begebenheit zeigt, spricht aus Zachäus nicht Selbstgerechtigkeit wie bei dem Pharisäer in dem Gleichnis im vorigen Kapitel, der von sich sagt: „O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die Übrigen der Menschen: Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche, ich verzehnte alles, was ich erwerbe“ (Lk 18,11.12). Ähnlich wie Nathanael unter dem Feigenbaum hat Zachäus erkannt, dass er sich in der Gegenwart Dessen befindet, der jeden kennt und alles weiß (vgl. Joh 1,47–49). Sein Interesse an Ihm und seine Freude erweisen ihn als jemand, der bereits Glauben und Leben aus Gott besitzt, aber die Errettung in Christus (soweit vor dem Kreuzeswerk möglich) noch nicht kennt. Gleicht er darin nicht ein wenig dem frommen und gottesfürchtigen Heiden Kornelius in Apostelgeschichte 10? So sind auch die Äußerungen über sein Tun nicht negativ zu beurteilen, sondern positiv zu verstehen. Die Frage ist nur: Handelt es sich um eine Feststellung von Tatsachen oder um eine Absichtserklärung?

Zachäus spricht im Präsens, das im Griechischen wie im Deutschen verschiedene Funktionen hat: Es kann eine im Verlauf befindliche oder sich wiederholende Handlung bezeichnen, wird aber auch zeitlos, historisch oder zukunftsbezogen gebraucht. Die im Präsens gehaltenen Worte des Pharisäers in Lukas 18,12 „Ich faste zweimal in der Woche, ich verzehnte alles, was ich erwerbe“ sprechen im Kontext eindeutig von einer Gewohnheit. Auf etwas Zukünftiges beziehen sich dagegen die beiden folgenden Stellen: „Bei dir halte ich das Passah mit meinen Jüngern“ (Mt 26,18), oder: „So komme ich wieder“ (Joh 14,3). Die Frage, ob Zachäus von etwas spricht, was er bereits tut, oder von etwas, was er vorhat, ist daher allein auf sprachlicher Ebene nicht zu entscheiden.

Prüfen wir deshalb den Inhalt seiner Aussagen genauer. Wenn er die Gewohnheit gehabt hätte, die Hälfte seiner Güter den Armen zu geben, dann hätte er dies – selbst bei großem Reichtum („und er war reich“, Vers 2) – nicht oft tun können, bis er selbst ein armer Mann geworden wäre. Diese Schlussfolgerung kann man nicht durch das Argument entkräften, mit den „Gütern“ sei nicht sein Besitz, sondern sein Einkommen gemeint. Das hier verwendete griechische Substantiv für „Güter“ (das griech. Wort bedeutet nämlich nicht „Einkommen“, sondern „Vermögen, Besitz, Habe“ (vgl. Lk 8,3; 11,22; 12,15.33. 44; 14,33; 16,1).

Ganz widersinnig wäre es zudem, den zweiten Teil seiner Aussage als Feststellung seiner gegenwärtigen Praxis aufzufassen: „Wenn ich von jemand etwas durch falsche Anklage genommen [oder: etwas erpresst] habe, erstatte ich es vierfach“. Was für eine widersinnige Vorgehensweise wäre es, sich fremdes Gut auf betrügerischem Weg anzueignen, um es danach vierfach zurückzuerstatten! Auch hier wird manchmal eingewendet, es könne sich um unbewusstes Fehlverhalten handeln. Aber es geht hier eindeutig um aktives Handeln mit böser Absicht. Das Verb bedeutet „schikanieren, drangsalieren, bedrücken, erpressen“ (vgl. das Fremdwort Sykophant: 1. „gewerbsmäßiger Ankläger im alten Athen“; 2. „Verräter, Verleumder“).

Es bleibt also nur die Schlussfolgerung, dass Zachäus dem Heiland ein Zeichen des neuen Lebens geben will und Ihm verspricht, seine in der Vergangenheit aufgehäufte Schuld jetzt wiedergutzumachen, indem er die Hälfte seines Besitzes den Armen gibt, und alles durch Betrug Erhaltene vierfach zurückzuerstatten. Das wird durch das einleitende „Siehe“ unterstrichen, das Lukas mehrfach benutzt, um zukünftige oder bevorstehende Handlungen und Ereignisse anzukündigen oder darauf besonders hinzuweisen (s. Lk 7,27; 10,3; 13,35; 18,31; 24,49). Eine ähnliche Haltung nahm Jakob ein, als Gott ihm in Bethel zum ersten Mal begegnet war: „Wenn Gott mit mir ist und mich behütet auf diesem Weg, den ich gehe, und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen, und ich in Frieden zurückkehre zum Haus meines Vaters, so soll der Herr mein Gott sein…; und von allem, was du mir geben wirst, werde ich dir gewiss den Zehnten geben“ (1. Mo 28,20–22). Weder Jakob noch Zachäus standen auf der vollen Höhe des Glaubens. Jemand, der die Errettung in Christus erfahren hat, spricht nicht mehr so. Aber eine erweckte Seele, die noch keinen Frieden mit Gott hat, mag solche Gedanken hegen und aussprechen.

Doch der Herr Jesus geht gar nicht auf diese gut gemeinten Worte ein, die von einem beunruhigten und erweckten, aber noch friedlosen Gewissen zeugen. Er kennt ja das Herz des Menschen! Er weiß, dass Zachäus nicht nur seiner Abstammung nach aus dem „Samen Abrahams“ ist, sondern in dessen Fußstapfen des Glaubens wandeln möchte und dadurch auch geistlicherweise ein „Kind Abrahams“ ist (Joh 8,33.39; vgl. Gal 3,7). Diesem glaubenden Mann verkündigt Er nun das Heil: „Der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist.“