5. Das Gleichnis von der Geschichte Jerusalems

Nachdem er das Gleichnis des Weinstocks vorgestellt hat fährt Hesekiel fort, ein anderes Sinnbild auszuführen, das die vollständige Geschichte Jerusalems umfasst. Er umreißt Ursprung, Aufstieg, Schönheit, Abfall, Gericht und die Befreiung der Stadt, um mit der Vorstellung ihrer zukünftigen Segnungen zu enden.

Es gibt nur wenige Kapitel in der Bibel, die eine derartig beeindruckende und realistische Schilderung enthalten. Obwohl uns einige Details vielleicht zu weit gehen, so begründet sich dieses schmutzige Bild einer Prostituierten doch in einem Volk, das mit seiner Herkunft prahlte und vorgab, ein reines Gewissen sowie einen guten Geschmackssinn zu haben. Gott beschreibt ihnen ihr Bild sehr präzise, um ihnen zu zeigen, welch eine Abscheu ihre Sünde in seinen Augen hervorruft (Hab 1,13).

Der Ursprung Jerusalems: V. 1–7

Der Ursprung Jerusalems geht bis ins dritte Jahrtausend vor Christi Geburt zurück. Die Stadt befindet sich zu dieser Zeit auf heidnischem Gebiet (V. 3) und ist alles andere als anziehend. Folglich wird sie hier mit einem verstoßenen Kind verglichen, das Opfer einer traurigen Praxis in der damaligen Zeit wird, wie sie von manchen Leuten ausgeübt wurde (V. 4–5). Über Jahrhunderte hinweg lässt Gott anschließend zu, dass die Entwicklung der Stadt voranschreitet und sie an Größe und Anziehungskraft gewinnt (V. 6–7).

Der Aufstieg Jerusalems, der Hauptstadt Israels: V. 8–14

Um das Jahr 1000 v. Chr. erobert David Jerusalem und macht sie zur königlichen Residenz und Hauptstadt Israels (2. Sam 5,5–9). Es ist die „Zeit der Liebe“ (V. 8): Gott entscheidet sich dafür, diese Stadt als seine Stadt anzusehen und verleiht ihr eine außergewöhnliche Herrlichkeit. Die Bundeslade, das Zeichen des Bundes von Gott mit seinem Volk wird nach Jerusalem gebracht (2. Sam 6,16–17). Einzigartige Reichtümer zur Zeit Salomos machen aus der Stadt eine weltberühmte Metropole in der antiken Welt (2. Chr 9).

Der Abstieg Jerusalems: V. 15–34

Der Verfall Jerusalems beginnt mit dem Ende der Regierung Salomos (1. Kön 11). Einmal mehr benutzt Gott die sinnbildliche Darstellung der Ehe (wie schon in vielen Kapiteln der prophetischen Bücher zuvor), um seine Beziehungen mit seinem Volk (hier der Hauptstadt) der Beziehung eines Ehemannes mit seiner Frau zu vergleichen. Doch tatsächlich ist diese eine „Prostituierte“. Jerusalem wendet sich von dem einen wahren Gott ab und vergisst, dass sie allein ihm alles zu verdanken hat (V. 17–19), indem sie ihm völlig untreu wird. Ihr Götzendienst ist nichts anderes als geistliche Hurerei, denn sie betrügt Gott praktisch mit den heidnischen Religionen, bei denen die geweihte Prostitution damals eine große Rolle spielte (V. 15–22). Mit dieser ehebrecherischen Praxis geht die politische Abkehr Hand in Hand (V. 23–29): Anstatt sich dem Schutz des HERRN anzuvertrauen, nimmt sie Zuflucht zu den mächtigsten Völkern jener Zeit, d. h. Ägypten (V. 26), Assyrien (V. 28) und Chaldäa (V. 29). Während eine gewöhnliche Prostituierte allerdings ausbezahlt wird, ist es hier umgekehrt, denn sie bezahlt ihre Freier (V. 30–34): Um sich die Gunst ihrer Alliierten zu sichern, entrichteten die Könige Judas immer wieder Geschenke (2. Kön 23,35).

Jerusalem wird durch ihre Liebhaber gezüchtigt: V. 35–43

Das Gericht über Jerusalem würde durch diejenigen Nationen aus dem Heidentum ausgeführt werden, mit denen sie zuvor geistliche Hurerei betrieben hatte. Und in der Tat wird die Stadt einige Jahre später durch ihren letzten Liebhaber, Babylon, und in Übereinstimmung mit dieser Prophetie, zerstört.

Jerusalem, verglichen mit seinen Nachbarvölkern: V. 44–52

Die Abscheulichkeiten, die Jerusalem und andere Städte Judas verübt hatten, waren nicht nur schlimmer als diejenigen Samarias und anderer Städte des Zehnstämmereiches (V. 46.47.51), sondern übertrafen auch die, die in Sodom und seiner Umgebung geschehen waren (V. 48). Die Sünden Sodoms beschränkten sich nicht nur auf die sexuelle Perversion, sondern umfasste auch maßlose Essgewohnheiten, Genusssucht, den Missbrauch ihrer Freizeit und die völlige Abwesenheit menschlicher Nächstenliebe (V. 49.50a). Die Schandtaten Sodoms waren zu jener Zeit sprichwörtlich unter den Juden und wurden doch von Jerusalem übertroffen. Das einzige Mittel, um ihren Hochmut zu beugen, war ihr Fall.

Die Verheißung der Wiederherstellung: V. 53–59

Die Gnade Gottes übersteigt unser Fassungsvermögen: Der Tag steht vor der Tür, an dem Jerusalem, Samaria, Sodom und alle umliegenden Städte, die es ihnen gleichgetan hatten, Wiederherstellung erfahren werden und sich der Segnungen Gottes erfreuen dürfen. Es geht hierbei allerdings nicht um das ewige Heil der Bewohner Sodoms aus der Zeit Abrahams, welche nach Judas 7 ins ewige Feuer geworfen werden. Aber Gott erwähnt auch nur, dass diese Städte im 1000-jährigen Reich bestehen werden.

Jerusalem muss die Schmach für alles, was sie an Schändlichkeiten verübt hat, tragen und wird erst dann eine Haltung annehmen, die die Verachtung der vergangenen Jahrhunderte vergessen machen wird (V. 54).

Der neue Bund mit Jerusalem: V. 60–63

Wenn wir die Schlussverse dieses Kapitels lesen, sind wir erstaunt, dass hier von einem Vertrag die Rede ist. Trotz aller Untreue ihrerseits, vergibt der HERR Jerusalem alles, was sie getan hat (V. 63)! Darüber hinaus wird er einen neuen Bund mit ihnen eingehen, der sich auf das kostbare Blut des Herrn Jesus Christus gründet (Mt 26,28). Der Bund, den Israel in Verbindung mit dem Gesetz eingegangen war (V. 61b), war dagegen endgültig gebrochen worden, sodass Gott auf der bedingungslosen Grundlage der Gnade handelt (V. 62a). Jerusalem, und damit auch Israel im Allgemeinen, wird sich einmal der Herrschaft des Messias im 1000-jährigen Reich erfreuen (Jes 55,3; 59,21; 61,8; Jer 31,31–34; 32,40; 33,24–26; Hes 37,26) und wird die Hauptstadt der ganzen Erde bilden, ohne dabei jedoch hochmütig zu werden, denn Gott wird an ihrem Gewissen arbeiten und eine echte Demut in ihnen bewirken (V. 63).

Die Anwendung dieses Kapitels auf uns heute

Die schlimme Vergangenheit Jerusalem symbolisiert tatsächlich die der ganzen Menschheit. Gott ist in der Person seines Sohnes gekommen, um seinem Geschöpf zu begegnen, dessen moralischer Zustand sich in einer dramatisch schlechten Lage befand. Die Barmherzigkeit Gottes entfaltet sich in diesem Kapitel ähnlich wie in den Gleichnissen vom barmherzigen Samariter und dem verlorenen Sohn (vgl. Lk 10,30–37; 15,11–32). Wir haben es oft nötig, an unseren Ursprung erinnert zu werden, denn es war weder unsere Abstammung (V. 3), noch unser Verhalten (V. 4), die uns in Kontakt mit seiner Liebe gebracht haben (Eph 2,3). Wir können nur bezeugen, dass unser Gott „reich ist an Barmherzigkeit“ und uns „wegen seiner vielen Liebe“ errettet (Eph 2,4).

Welche Antwort haben wir auf die gewaltige Gnade, deren Nutznießer wir geworden sind? Wenn unser Benehmen unserer Berufung entspricht, wird es gesehen und Gott geehrt werden (V. 14; vgl. 1. Thes 1,8–10). Die Gefahr ist jedoch, dass wir nur den Vorteil des Werkes Gottes in uns durch den Herrn Jesus sehen und uns nicht länger auf seine Gnade stützen (V. 15a). Die Folge ist dann, dass unsere Zuneigung zu Christus unmerklich dahinschwindet. Diejenigen, die behaupten, dem Herrn mit all ihrer Kraft, Energie, Intelligenz, Zeit und ihrem Geld nachzufolgen, aber gleichzeitig ihre Interessen und ihr Gefallen in der Welt finden, verhalten sich so, wie die Prostituierten in diesem Kapitel. Wenn das der Fall ist, verlieren sie nicht nur ihren geistlichen Segen heute, sondern auch ihre zukünftige Belohnung. Diese schockierende Beschreibung sollte uns dazu anspornen, unser Leben völlig hinzugeben, um dem Herrn Jesus zu dienen (1. Kor 6,19) und die Freundschaft mit der Welt zu fliehen, die von Jakobus als geistliche Hurerei bezeichnet wird (Jak 4,4). Solche, die sich von Gott abwenden und Kompromisse mit der Welt eingehen, um ihre Lüste zu befriedigen, riskieren es, die göttliche Zucht auf sich zu ziehen (1. Kor 11,30–32).

In diesem Kapitel berühren besonders zwei Verse unser Gewissen:

- Die Töchter der Philister, die sich vor deinem unzüchtigen Weg schämen (V. 27)

Ein Gläubiger kann in einen Zustand geraten, der selbst bei Ungläubigen Abscheu hervorrufen kann, wenn sie von der ausgeübten „Unzucht“ erfahren. Welch ein Sieg bedeutet das für Satan und welch eine Unehre für unseren Herrn!

- Die Ungerechtigkeit Sodoms bestand in ihrem „Stolz, ihrer Fülle von Brot und sorglosen Ruhe“ (V. 49). Erinnert uns das nicht an den Weg, den unsere abendländischen Länder gegangen sind, die einmal christianisiert wurden und als zivilisiert gelten? Seien wir standhaft gegenüber diesen Einflüssen, die uns umgeben.

Abschließend dürfen wir uns aber auch an die letzten Verse dieses Kapitels erinnern: Wenn die Gnade Gottes bereits damals in einem solchen Glanz erstrahlte, wievielmehr ist sie heute noch in der Lage, sich in unserer Epoche zu entfalten, wo die Gnade durch Gerechtigkeit herrscht (Röm 5,21). Erinnern wir uns daran, dass es keine Situation gibt, die auf dieser Erde unabänderlich besiegelt ist und dass Gott auch das Herz eines Gläubigen erreichen kann, der sich noch so weit entfernt hat, um ihm zu vergeben und zu sich zurückzubringen. So triumphiert auch heute noch die Barmherzigkeit Gottes gegen das Gericht (Jak 2,13).

[Übersetzt aus „Sondez les Écritures“ von Stephan Keune]