Die Briefe an die Versammlungen in Offenbarung 2 und 3 wurden an sieben Versammlungen geschickt, die zur Zeit des Apostels Johannes tatsächlich in der römischen Provinz Asien existierten. Doch wenn wir bedenken, dass in der Einführung zur Offenbarung das ganze Buch als „Weissagung“ bezeichnet wird, dann wird klar, dass diese Briefe prophetischen Charakter haben. Offensichtlich hat der Geist Gottes die in diesen Versammlungen herrschenden Zustände zum Anlass genommen, die fortlaufende Geschichte der Versammlung in ihrer Verantwortung als Zeuge für Christus auf der Erde während Seiner Abwesenheit vom Anfang bis zum Ende zu skizzieren.
Ephesus steht für den Anfangszustand der Versammlung unter den Augen Christi. Diese Phase der Geschichte der Versammlung wurde von Smyrna abgelöst. Auf Smyrna folgte Pergamos und auf Pergamos schließlich Thyatira. Es ist jedoch wichtig, zu sehen, dass auf Thyatira keine weitere Versammlung folgt. Die Tatsache, dass das Kommen des Herrn im Brief an Thyatira erwähnt wird, zeigt, dass diese Phase der Geschichte der Versammlung bis zum Ende fortbestehen würde. […] Wir können daher sagen, dass der Anfang der Geschichte der Versammlung unter Verantwortung in Ephesus vorgestellt wird und ihr Ende in Thyatira erreicht ist. Die letzten drei Versammlungen stehen für bestimmte Phasen dieser Endzeit.
Thyatira ist von der schlimmsten Verdorbenheit gekennzeichnet. Sardes steht für eine Bewegung, in der Missstände korrigiert wurden, die aber zu leblosem Formalismus führte. Laodizea steht für eine noch spätere Bewegung, die durch Gleichgültigkeit gegenüber Christus und durch Selbstgefälligkeit gekennzeichnet ist.
Wenn wir uns nun auf Philadelphia beschränken, begegnet uns sofort die bemerkenswerte Tatsache, dass obwohl die letzten Tage von der Verdorbenheit Roms, dem leblosen Formalismus des Protestantismus und der Gleichgültigkeit und Selbstgefälligkeit des Modernismus gekennzeichnet sind, es auf der Erde doch solche geben wird, die die Anerkennung des Herrn haben.
Wir tun gut daran, uns zu erinnern, dass „alle Schrift von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit“ ist. Gleichzeitig gibt es bestimmte Teile, die dem Volk Gottes positive Belehrungen nach den Gedanken des Herrn für die letzten Tage geben. Unter diesen Stellen nehmen der zweite Timotheusbrief und das Sendschreiben an Philadelphia einen herausragenden Platz ein. Im zweiten Timotheusbrief gibt uns der Apostel Paulus klare Belehrungen, wie wir uns verhalten sollen, wenn das Haus Gottes mit einem großen Haus verglichen werden würde, in dem es Gefäße zur Ehre und zur Unehre geben würde. Anscheinend war es Paulus jedoch nicht offenbart, dass es in den letzten Tagen der Geschichte der Versammlung eine Erweckung geben würde. Diese große Tatsache wurde dem Apostel Johannes in dem Sendschreiben an Philadelphia offenbart. Dort wird uns deutlich vorgestellt, dass es am Ende der Geschichte der Versammlung eine bestimmte Bewegung des Geistes Gottes geben würde, die zu einer Erweckung der Versammlung führen würde, die die Anerkennung des Herrn hätte und daher seinen Gedanken entspräche.
Mithilfe der Belehrungen des zweiten Timotheusbriefes und der Sendschreiben an die sieben Versammlungen können wir genau wissen, was der Herr verurteilt und – was noch wichtiger ist – was Er in den letzten Tagen anerkennt, wie wir es in dem Sendschreiben an Philadelphia finden. Wie groß die Verwirrung in der Christenheit auch ist, es gibt dennoch keine Entschuldigung für das Volk Gottes, in ziellose Verwirrung abzudriften und inmitten der Dunkelheit nach Licht zu tappen, wobei jeder versucht, seinen eigenen Weg so gut wie möglich zu finden, ohne jegliche Gewissheit in Bezug auf die Gedanken des Herrn. Weil man auf die vielen Stimmen der Menschen hört, ist dieser Zustand der Verwirrung leider allzu weit verbreitet. Wenn wir jedoch Ohren haben, um auf das zu hören, was der Geist den Versammlungen sagt, werden wir erkennen, was nach den Gedanken des Herrn ist. Und wer den Herrn liebt, wird dann, wenn er Seine Gedanken kennt, auch versuchen, Seinen Gedanken zu entsprechen, ohne anschließend zu behaupten, es getan zu haben.
Es ist von größter Bedeutung, den wahren Charakter der Erweckung der Versammlung in Philadelphia zu erkennen. Es ist nicht eine Wiederbelebung der Kirche als Institution, sondern eine moralische Wiederbelebung. Thyatira steht für den Anspruch, die Kirche zu sein, wobei fast jede moralische Eigenschaft der Kirche fehlt, weshalb sie in den Augen Christi vollkommen verdorben ist. Philadelphia behauptet dagegen nicht, die Kirche zu sein, trägt aber die moralischen Wesenszüge der Kirche und hat daher die Anerkennung des Herrn. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass die, die moralisch richtig stehen, gleichgültig gegenüber ihrer korporativen Verantwortlichkeit als Versammlung sind. Solche werden eifersüchtig wachen über jeden Versammlungsgrundsatz, während sie es ablehnen, die Versammlung zu sein.
In Philadelphia gibt es weder den Versuch, das zu reformieren, was in Thyatira verdorben geworden war, noch den Versuch, das wiederzubeleben, was in Sardes leblos geworden war, sondern es ist die Rückkehr zu den großen geistlichen Merkmalen der Versammlung, wie sie am Anfang war. In diesem Sinn steht Philadelphia für eine Erweckung der Versammlung.
Wir mögen fragen: Was sind denn die großen geistlichen Merkmale der Versammlung? Und das wirft eine weitere Frage auf: Zu welchem Zweck ist die Versammlung noch auf der Erde gelassen? Es gibt ganz sicher nur eine Antwort. Sie ist noch hier, um ein Zeugnis für Christus während der Zeit Seiner Abwesenheit zu sein. Es ist der große Gedanke Gottes, dass, wenn auch Christus verworfen wurde und von dieser Erde in den Himmel gegangen ist, doch auf der Erde ein Volk zurückgelassen werden sollte, in dem das Wesen Christi fortgesetzt werden sollte, sodass Christus, obwohl Er nicht mehr persönlich anwesend ist, doch in Seinem Volk zu sehen sein soll.
Der ganze Wert der Versammlung in Philadelphia liegt also darin, dass sie am Ende der Geschichte der Versammlung noch etwas von dem Wesen, dem Weg und der Fremdlingschaft Christi ausdrücken und damit zu den geistlichen Merkmalen der Versammlung zurückkehren, wie sie am Anfang war. Sie spiegeln den Charakter dessen wider, der der Heilige und der Wahrhaftige ist; eine geöffnete Tür liegt vor ihnen, die niemand schließen kann; sie sind in Umständen äußerlicher Schwachheit; sie bewahren das Wort Christi; sie verleugnen Seinen Namen nicht; sie erleben die Feindschaft solcher, die eine geerbte und offizielle religiöse Stellung beanspruchen; sie werden von Christus geliebt; sie bewahren das Wort Seines Ausharren und tragen damit den Charakter von Fremdlingen und Pilgern, während sie auf Sein Kommen in Herrlichkeit warten.
Was aber ist das alles anderes als Christus – Sein Wesen und Weg der Fremdlingschaft – widergespiegelt in Seinem Volk? Gott ist der Heilige und der Wahrhaftige, und Christus war in dieser Welt der vollkommen Ausdruck dessen, was Gott ist, in Umständen, die immer von äußerlicher Schwachheit gekennzeichnet waren. Die Krippe und die Herberge, der einsame Pfad, der Obersaal, das Kreuz und das geliehene Grab, alles spricht von der äußerlichen Schwachheit, in der der Sohn Gottes durch diese Welt ging. Auch Er begegnete der ständigen Feindschaft derer, die beanspruchten, dass rechtmäßige Volk Gottes zu sein. Doch trotz aller Umstände der Schwachheit und ungeachtet aller Feindschaft öffnete der Türhüter Ihm eine Tür, die niemand schließen konnte. In Umständen der Schwachheit und angesichts ständiger Feindschaft, offenbarte Er alles das, was Gott ist als der Heilige und Wahrhaftige; Er bewahrte das Wort Seines Vaters, verkündigte den Namen Seines Vaters und empfing die Anerkennung Seines Vaters. Inmitten des Ruins der jüdischen Haushaltung konnte der Vater auf Ihn herabblicken und sagen: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“ Er lehnte es ab, in den Zeitlauf dieser Welt einzugreifen – es war die Stunde Seines Ausharrens und niemand nahm Ihm Seine Krone, denn Er ging von dem Platz der Schwachheit zu dem Platz der Macht zur Rechten Gottes, wo der Glaube Ihn freudig erblickt, gekrönt mit Herrlichkeit und Ehre.
Das war der Weg Christi auf der Erde. Wir wiederholen: Der ganze Wert Philadelphias liegt in der Tatsache, dass Gott inmitten des Ruins der Christenheit hernieder blicken und in einem kleinen Überrest etwas von dem Wesen Christi sehen kann, und damit eine Rückkehr zu Seiner ursprünglichen Absicht für die Versammlung. Das entspricht der uneingeschränkten Anerkennung des Herrn selbst.
Wenn wir aufrichtig wünschen, das zu verwirklichen, was Seine Anerkennung findet, mögen wir fragen: Wie wurde dieser Zustand, den der Herr bei den Gläubigen aus Philadelphia anerkennen konnte, hervorgebracht? Denn was in ihrem Fall die Rückkehr zu den geistlichen Merkmalen der Versammlung bewirkte, das kann auch in dem Volk des Herrn heute das gleiche Ergebnis hervorbringen. Wird nicht die Rückkehr zu den moralischen Grundsätzen der Versammlung vollständig bewirkt, indem Christus so anerkannt wird, wie Er sich der Versammlung in Philadelphia vorstellt?
[Übersetzt von Marco Leßmann]