8. Das Klagelied über die Fürsten Israels: 19,1–14

Dieses Kapitel ist ein Klagelied (V. 1.14b) und besteht aus zwei Gleichnissen. Wie in Kapitel 17, zu dem es ein Gegenstück bildet, stellt es uns bildlich das Ende der Monarchie Judas vor [Fußnote 1].

Das Gleichnis der Löwin und ihrer Jungen: V. 1–9

Im ersten Gleichnis wird der königliche Stamm mit einer „Löwin“ verglichen (1. Mose 49,9; 1. Kön 10,18–20) [Fußnote 2], wogegen die übrigen Nationen „Löwen“ verglichen werden, von denen ihre Könige durch die „Jungen“ vorgestellt werden (V. 2). Der „junge Löwe“ in Vers 3 ist der böse König Joahas, Josias Sohn, der im Jahr 609 v. Chr. gefangen nach Ägypten gebracht wird (2. Kön 23,30–34). Der andere „junge Löwe“, dem wir in den Versen 5–9 begegnen, steht zweifellos für Jojakin, dessen Tyrannei diejenige Joahas noch übertraf (Spr 19,12; 20,2). Auch er wird schließlich gefangen nach Babylon geführt (V. 8.9; 2. Kön 24,8–17) [Fußnote 3].

Welch eine traurige Geschichte steht hier vor uns! Die Könige Judas hätten den Nationen einen Vorgeschmack der messianischen Regierung geben sollen. Stattdessen verhielten sie sich in einer Weise, die in den Augen der Heiden einem Skandal gleichkam (vgl. Hes 16,27). Diese „Löwen“ Judas hielten tatsächlich nicht einmal dem Vergleich mit ihren heidnischen Kollegen stand. Weit davon entfernt, dem „Löwen aus dem Stamm Juda“ zu gleichen, ähnelten sie mit ihrer Grausamkeit und Gewalt eher dem Teufel, der wie ein brüllender Löwe umhergeht, um zu suchen, wen er verschlingen kann (1. Pet 5,8). Wie verhalten wir uns in dieser Welt? Strahlen wir etwas von der Herrlichkeit des Königs der Könige aus, oder offenbaren wir einen Geist der Streitsucht, wie er in den Christen in Galatien zum Ausdruck kam (Gal 5,5)?

Das Gleichnis des verurteilten Weinstocks: V. 10–14

Einmal mehr wird das jüdische Volk durch einen Weinstock symbolisiert (V. 10; Jes 5,1–7; Jer 2,21). Die „starken Zweige“ in Vers 11 erinnern an die souveränen Herrscher, die sich auf dem Thron Davids ablösten. Hesekiel sieht hier die Zerstörung des Königreichs Judas durch den Einfall der babylonischen Armeen aus dem Osten voraus (V. 12) und nimmt die Wegführung des Volkes wahr (V. 13). Das „Feuer“, das „vom Gezweig seiner Ranken“ ausgeht, spielt wahrscheinlich auf den Aufstand Zedekias an, der den Beginn des finalen Aufstands des Königreichs markieren wird (2. Kön 24,20; 25,1–7).

Israel wollte einen König, „gleich allen Nationen“ (1. Sam 8,5), doch bildet dieser Wunsch einen der wesentlichen Ecksteine seines Ruins. Diese Geschichte zeigt uns wie schwer es für den Menschen ist, eine Herrschaft auszuüben, ohne von ihr verdorben zu werden. Beten wir für die „Führer“ des Volkes Gottes (vgl. Apg 15,22; Heb 13,7.17), damit sie durch die von Gott erhaltene moralische Autorität nicht zum Hochmut verleitet und in die Tyrannei geführt werden (Lk 22,26; 1. Pet 5,1–3).


[Fußnote 1] Der Begriff „Fürsten“ bedeutet auch „Könige“, vgl. Kap. 12,10.

[Fußnote 2] Diese Analogie zieht sich durch das ganze Neue Testament: Der Messias, welcher der letzte König aus der königlichen Familie sein wird, wird in Offenbarung 5,5 „der König, der aus dem Stamm Juda ist“ genannt.

[Fußnote 3] Dieses Gleichnis illustriert auch das vorhergehende Kapitel: Die Gerechtigkeit des treuen Königs Josia ist nicht imstande, das Gericht seiner gottlosen Nachkommen abzuwenden.