Ein jeder nicht auf das Seine sehend, sondern ein jeder auch auf das der anderen. Philipper 2,4

Amsterdam, vor etwa hundert Jahren: Ein alter Dampfer bewegt sich schwerfällig in der Hafendünung. Es ist eines jener Schiffe, die als „Seelenfänger“ verschrien sind, weil sie nahezu schrottreif sind. In der Abenddämmerung bietet sich den Seeleuten ein unheimliches Schauspiel. Zwei oder drei Ratten laufen die Gangway hinunter an Land und heben ihre Näschen schnuppernd in die Luft. Dann stoßen sie einige schrille Pfiffe aus. Sofort kommen Ratten aus sämtlichen Luken, Ritzen und Hohlräumen des Schiffes. Es trappelt, drängelt, schiebt und quiekt die Gangway herunter, Scharen, Hunderte, Tausende verlassen das Schiff. Am anderen Morgen läuft der Dampfer aus. Er sinkt so schnell draußen in der stürmischen See, dass die Seeleute nicht einmal mehr einen Notruf absetzen können.

Ahnen Ratten, was die Zukunft bringt? Natürlich nicht. Aber sie wohnen in den untersten Regionen eines Schiffes, vor allem in der Bilge, wo sich bei alten Schiffen Schmutzwasser und Abfälle sammeln. Wird nun ein Schiff langsam morsch und leck, wird es in den Rattenquartieren unangenehm feucht. Die Tiere müssen höher heraufziehen und es wird eng für sie. Sie benutzen die nächste Gelegenheit, um sich an Land zu retten. Ein oder einige „Späher“ informieren die ganze Sippschaft – und dann „verlassen die Ratten das sinkende Schiff“.

Ratten sind uns nicht gerade sympathisch, aber es ist doch beachtlich, dass diese kleinen Tiere nicht nur ihre eigene Haut retten, sondern die ganze Gemeinschaft informieren: „Wir haben einen Ausweg gefunden, wir müssen weg hier!“

An andere denken, das ist auch für uns wichtig. Christen dürfen und sollen nach ihren Mitmenschen fragen und ihr Wohl im Auge haben. Sie sollen nicht nur mit sich beschäftigt sein, sondern auch mit anderen.

[Aus dem Kalender „Kompass 2012“, CSV, www.csv-verlag.de]