Oft wird gesagt, dass nach jüdischer Tradition die Juden das Hohelied erst ab dem 30. Lebensjahr lesen sollten. Diese Überlieferung zweifle ich nicht an, was ich aber anzweifle ist die Begründung dafür: Die Rabbiner wollten nicht, dass man sich zu früh mit Liebesszenen beschäftigt.

Das leuchtet nicht ein. Denn im alten Israel war man mit 30 normalerweise längst verheiratet. Im Lexikon zu Bibel wird das durchschnittliche Heiratsalter mit 18 Jahren angegeben. Und dass man als Verheirateter das Buch nicht lesen sollte, macht dann vollends keinen Sinn mehr …

Die Begründung für die „30-Jahr-Regel“ muss anders lauten. Folgendes überzeugt: Die Rabbiner wollten nicht, dass der Leser zu falschen Schlussfolgerungen kommt; das Bibelbuch erschien ihnen für junge Leser zu schwierig.  Das wird dadurch erhärtet, dass man das Buch Hesekiel (zumindest die ersten und die letzten Kapitel) nach jüdischer Tradition ebenfalls nicht vor 30 lesen sollte. Und da geht es nicht um Liebesszenen, sondern um Beschreibungen, die schwer fassbar, erklärbar sind.