„Ausspruch des Wortes des HERRN an Israel durch Maleachi“ (Vers1). Obwohl Maleachi inmitten des schwachen, aus der Gefangenschaft zurückgekehrten Überrestes von Juda und Benjamin prophezeit, umfasst er in seinen Gedanken doch Israel, d.h. das ganze Volk. Darin unterscheidet er sich von Sacharja, der nur Juda und Jerusalem im Auge hat. Der sittliche Zustand, den Maleachi beschreibt, trifft also auf das ganze Volk zu. Auch das Gericht hat demzufolge einen allgemeinen Charakter wie auch das erste Kommen des Messias in seiner Tragweite das ganze Volk umfasst (Lk 1,54; 2,10.25.32).

„Ich habe euch geliebt, spricht der HERR; aber ihr sprechet: 'Worin hast du uns geliebt?' War nicht Esau der Bruder Jakobs? spricht der HERR, und ich habe Jakob geliebt; Esau aber habe ich gehasst“ (Vers2 – 3). „Ich habe euch geliebt“ – welch ein rührendes Wort! Damit beginnt Gott. Es steht am Anfang all Seiner Beziehungen zu den Menschen, all Seiner Wege mit Seinem Volk. Von Ewigkeit her war die Wonne der Weisheit bei den Menschenkindern (Spr 8,31). Und hatte Gott nicht auch Israel von Anfang an Seine Liebe darin bewiesen, dass Er es in Seiner Gnade auserwählte: „Ich habe Jakob geliebt“? Daraufhin hatte Er Israel aus Ägypten befreit, hatte es auf Adlers Flügeln getragen, um es zu Sich zu bringen. Er hatte das Volk in der Wüste durch die Wolke geleitet, um es endlich in das Land der Verheißung einzuführen. Und auch nachdem Seine Gerichte sich als Beweis Seines unwandelbaren Charakters der Gerechtigkeit und Heiligkeit über dieses untreue Volk hatten ergießen müssen – hatte es die Liebe Gottes schließlich nicht doch wiederhergestellt und es wieder in sein Land hinaufziehen lassen? Konnte Israel auch nur einen Augenblick an Seiner Liebe zweifeln, die es doch so reichlich erfahren hatte?

Das gleiche Wort verkündet Gott auch heute noch. Obwohl sich der endgültige Abfall immer deutlicher zeigt, kann die Christenheit täglich die Worte hören: „Ich habe euch geliebt, spricht der Herr.“ Ist nicht das Kreuz Christi der unbestreitbare Beweis dieser Liebe?

Muss diese unverdiente Gnade nicht einen Widerhall in den Herzen des Volkes finden? Das ist seine Antwort: „Worin hast du uns geliebt?“ Kann man eine derartige Verhärtung begreifen? Nachdem das Volk 60 Jahre lang die bitteren Folgen seiner Untreue hat erfahren müssen, hat es angesichts dieses neuen Gnadenbeweises noch die Kühnheit zu fragen: „Worin hast du uns geliebt?“ Sie kennen den Gott nicht, mit dem sie es zu tun haben, und noch weniger kennen sie sich selbst. Sie wissen nicht, dass Gott Sich nie verändert, und dass, wenn Seine Gerichte auch unabänderlich sind, Seine Liebe doch ebenso unwandelbar ist wie Seine Gerechtigkeit. Das ist der erste Charakterzug dieses Volkes.

Ist der Zustand der Christenheit anders? Vor nicht langer Zeit [geschrieben 1911, Anmerkung des Übersetzers] hat Gott die Welt durch Erdbeben und Überschwemmungen geschlagen, wie es seit Menschengedenken noch nie geschehen ist. Aber was tun diejenigen, die an Gott zu glauben bekennen? Anstatt Buße zu tun, fragen sie: „Wo ist da die Liebe Gottes?“ Trotzdem, wenn auch alle Gerichte Gottes in Vergangenheit und Gegenwart Seine Abscheu gegenüber dem Bösen beweisen, dienen sie doch letztlich dazu, Seelen zu Ihm zu ziehen und ihnen zu zeigen dass Er trotz ihrer Sünden ihr Bestes will. Seine Liebe zu den Menschen hat sich nicht verändert; sie ist ein für allemal auf dem Kreuz Christi offenbart worden. Durch die Gerichte will Gott nur die Gewissen erreichen und die Augen, wie einst die der Israeliten auf die eherne Schlange, auf das einzige Heilmittel hinlenken. Zweifellos gibt es eine gerechte Regierung Gottes in der Welt. Aber die Menschen sollen darin nicht nur die Gerechtigkeit Gottes kennen lernen, sondern auch, dass ihre einzige Hilfsquelle in der Liebe Gottes liegt.

Statt dessen aber nehmen die Sünder die gerechten Gerichte Gottes zum Anlass, um den Charakter Dessen, der sie zulässt, in Frage zu stellen. Das Herz des Menschen wird durch nichts bewegt. Er denkt gar nicht daran, dass er nur Gericht verdient hat. Anstatt seine Zuflucht zu der Gnade Gottes zu nehmen, sagt er wie der faule Knecht: „Ich kannte dich, dass du ein harter Mann bist: du erntest, wo du nicht gesät, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast“ (Mt 25,24). „Worin hast du uns geliebt?“

Wie bei Israel ist also auch bei der bekennenden Christenheit der erste Charakterzug: Gleichgültigkeit gegenüber der Liebe Gottes, ja sogar Unkenntnis des Charakters Gottes, insbesondere in Seinen Regierungswegen mit ihr.

Auf die trotzige Frage: Worin hast du uns geliebt? antwortet der HERR, indem Er Israel seinen Ursprung vor Augen führt: „War nicht Esau der Bruder Jakobs? Und ich habe Jakob geliebt; Esau aber habe ich gehasst. Worauf war denn die Auserwählung Jakobs gegründet? Wenn Gott sagte: „Der Ältere wird dem Jüngeren dienen“ (1. Mose 25,23) – was bewog Ihn da zu dieser Wahl? Keiner der beiden Brüder hatte in diesem Augenblick Gutes oder Böses getan. Was den Unterschied zwischen ihnen ausmachte, war also nur der feststehende Vorsatz, die freie Auserwählung Gottes nach Wahl der Gnade (Röm 9). Und warum sagte Er jetzt: „Ich habe Jakob geliebt“? Hatte Ihm das Verhalten Jakobs dazu einen Anlass gegeben? Der Charakter Jakobs hat sicher nichts Anziehendes für uns – wie viel weniger für Gott! Niemals hat es einen Menschen gegeben, dessen Glaube derart mit Betrug verbunden war. Aber vielleicht hatten die Werke Jakobs trotz seines Charakters die Liebe Gottes angezogen? Keineswegs nur wenige unter den Patriarchen haben ein an guten Werken ärmeres Leben geführt als Jakob, und wie die Werke seiner Nachkommen beschaffen waren, darüber gibt uns Maleachi selbst Auskunft. Worauf beruhte also die Liebe des HERRN zu diesem elenden Menschen, und dann zu diesen Volk, dessen Zustand ebenso erbärmlich war? Sie entsprang allein dem Herzen Gottes, der Sich zu erkennen geben und den Sündern zeigen wollte, Wer Er ist. Der Vorteil Israels resultierte also daraus, dass Gott Sich Selbst – Seine Natur und Sein Herz – solch elenden Geschöpfen wie uns offenbaren wollte.

Doch Gott fügt hinzu: „Esau aber habe ich gehasst.“ Gab es vielleicht Ungerechtigkeit und Parteilichkeit bei Gott, weil Er diesen Mann gehasst hatte? Auf keinen Fall – die freie Wahl des unumschränkten Gottes hat nichts mit Hass zu tun. Im 1.Buch Mose finden wir diese Wahl: „Der Ältere wird dem Jüngeren dienen.“ Aber dort sehen wir keinen Hass gegen Esau. Gott spricht das Gericht über Esau nicht von vornherein aus, sondern erst in Maleachi, dem letzten prophetischen Buch des Alten Testaments. Das bedeutet, dass der Hass Gottes gegen Esau die Folge des Verhaltens Esaus ist. Gott hatte ihm, wie seiner Nachkommenschaft Hunderte von Jahren bewilligt. Während dieser Zeit konnte Edom durch seine Werke beweisen, ob es die Liebe Gottes verdient hatte. Aber es hatte bei jeder Gelegenheit bewiesen, dass es der geschworene Feind Gottes und Seines Volkes war. Schließlich hatte es das Maß seiner Ungerechtigkeit voll gemacht, als es die Not Jerusalems für sich ausnutzte. (Ob 10–14). Daher wird Edom aufgrund seiner Werke zum Beispiel eines Gerichts ohne Gnade. Edom ist das Volk, „welchem der HERR ewiglich zürnt“ (Mal 1,3–5). Der Prophet Obadja verkündet, dass es „ausgerottet werden wird auf ewig“, und dass „das Haus Esau keinen Übriggebliebenen haben wird“ (Ob 10.18).